Gespräche mit Goethe

in den letzten Jahren seines Lebens

Vorrede

Diese Sammlung von Unterhaltungen und Gesprächen mit Goethe ist größtenteils aus dem mir inwohnenden Naturtriebe entstanden, irgendein Erlebtes, das mir wert oder merkwürdig erscheint, durch schriftliche Auffassung mir anzueignen.

Zudem war ich immerfort der Belehrung bedürftig, sowohl als ich zuerst mit jenem außerordentlichen Manne zusammentraf, als auch nachdem ich bereits jahrelang mit ihm gelebt hatte, und ich ergriff gerne den Inhalt seiner Worte und notierte ihn mir, um ihn für mein ferneres Leben zu besitzen.

Wenn ich aber die reiche Fülle seiner äußerungen bedenke, die während eines Zeitraumes von neun Jahren mich beglückten, und nun das Wenige betrachte, das mir davon schriftlich aufzufassen gelungen ist, so komme ich mir vor wie ein Kind, das den erquicklichen Frühlingsregen in offenen Händen aufzufangen bemüht ist, dem aber das meiste durch die Finger läuft.

Doch wie man zu sagen pflegt, daß Bücher ihre Schicksale haben, und wie dieses Wort ebensowohl auf ihr Entstehen als auf ihr späteres Hinaustreten in die weite und breite Welt anzuwenden ist, so dürfte es auch von der Entstehung des gegenwärtigen Buches gelten. Monate vergingen oft, wo die Gestirne ungünstig standen, und wo Unbefinden, Geschäfte und mancherlei Bemühungen um die tägliche Existenz keine Zeile aufkommen ließen; dann aber traten wieder günstige Sterne ein, und es vereinigten sich Wohlsein, Muße und Lust zu schreiben, um wieder einen erfreulichen Schritt vorwärts zu tun. Und dann, wo tritt bei einem längeren Zusammenleben nicht mitunter einige Gleichgültigkeit ein, und wo wäre derjenige, der die Gegenwart immer so zu schätzen wüßte, wie sie es verdiente!

Dieses alles erwähne ich besonders aus dem Grunde, um die manchen bedeutenden Lücken zu entschuldigen, die der Leser finden wird, im Fall er etwa so geneigt sein sollte, das Datum zu verfolgen. In solche Lücken fällt manches unterlassene Gute sowie besonders manches günstige Wort, was Goethe über seine weitverbreiteten Freunde sowie über die Werke dieses oder jenes lebenden deutschen Autors gesagt hat, während sich anderes ähnlicher Art notiert findet. Doch wie gesagt: Bücher haben ihre Schicksale schon während sie entstehen.

übrigens erkenne ich dasjenige, was in diesen Bänden mir gelungen ist zu meinem Eigentum zu machen, und was ich gewissermaßen als den Schmuck meines Lebens zu betrachten habe, mit innigem Dank gegen eine höhere Fügung; ja ich habe sogar eine gewisse Zuversicht, daß auch die Welt mir diese Mitteilung danken werde.

Ich halte dafür, daß diese Gespräche für Leben, Kunst und Wissenschaft nicht allein manche Aufklärung und manche unschätzbare Lehre enthalten, sondern daß diese unmittelbaren Skizzen nach dem Leben auch ganz besonders dazu beitragen werden, das Bild zu vollenden, was man von Goethe aus seinen mannigfaltigen Werken bereits in sich tragen mag.

Weit entfernt aber bin ich auch wiederum, zu glauben, daß hiemit nun der ganze innere Goethe gezeichnet sei. Man kann diesen außerordentlichen Geist und Menschen mit Recht einem vielseitigen Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung hin eine andere Farbe spiegelt. Und wie er nun in verschiedenen Verhältnissen und zu verschiedenen Personen ein anderer war, so kann ich auch in meinem Falle nur in ganz bescheidenem Sinne sagen: dies ist mein Goethe.

Und dieses Wort dürfte nicht bloß davon gelten, wie er sich mir darbot, sondern besonders auch davon, wie ich ihn auf zufassen und wiederzugeben fähig war. Es geht in solchen Fällen eine Spiegelung vor, und es ist sehr selten, daß bei dem Durchgange durch ein anderes Individuum nichts Eigentümliches verloren gehe und nichts Fremdartiges sich heimische. Die körperlichen Bildnisse Goethes von Rauch, Dawe, Stieler und David sind alle in hohem Grade wahr, und doch tragen sie alle mehr oder weniger das Gepräge der Individualität, die sie hervorbrachte. Und wie nun ein solches schon von körperlichen Dingen zu sagen ist, um wie viel mehr wird es von flüchtigen, untastbaren Dingen des Geistes gelten! Wie dem nun aber in meinem Falle auch sei, so werden alle diejenigen, denen aus geistiger Macht oder aus persönlichem Umgange mit Goethe ein Urteil dieses Gegenstandes zusteht, mein Streben nach möglichstes Treue hoffentlich nicht verkennen.

Nach diesen größtenteils die Auffassung des Gegenstandes betreffenden Andeutungen bleibt mir über des Werkes Inhalt selber noch folgendes zu sagen.

Dasjenige, was man das Wahre nennt, selbst in betreff eines einzigen Gegenstandes, ist keineswegs etwas Kleines, Enges, Beschränktes; vielmehr ist es, wenn auch etwas Einfaches, doch zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den mannigfaltigen Offenbarungen eines weit- und tiefgreifenden Naturgesetzes, nicht so leicht zu sagen ist. Es ist nicht abzutun durch Spruch, auch nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch Spruch und Widerspruch, sondern man gelangt durch alles dieses zusammen erst zu Approximationen, geschweige zum Ziele selber.

So, um nur ein Beispiel anzuführen, tragen Goethes einzelne äußerungen über Poesie oft den Schein der Einseitigkeit und oft sogar den Schein offenbarer Widersprüche. Bald legt er alles Gewicht auf den Stoff, welchen die Welt gibt, bald alles auf das Innere des Dichters; bald soll alles Heil im Gegenstande liegen, bald alles in der Behandlung; bald soll es von einer vollendeten Form kommen, bald, mit Vernachlässigung aller Form, alles vom Geiste.

Alle diese Aus- und Widersprüche aber sind sämtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeichnen zusammen das Wesen und führen zur Annäherung der Wahrheit selber, und ich habe mich daher sowohl in diesen als ähnlichen Fällen wohl gehütet, dergleichen scheinbare Widersprüche, wie sie durch verschiedenartige Anlässe und den Verlauf ungleicher Jahre und Stunden hervorgerufen worden, bei dieser Herausgabe zu unterdrücken. Ich vertraue dabei auf die Einsicht und übersicht des gebildeten Lesers, der sich durch etwas Einzelnes nicht irren lassen, sondern das Ganze im Auge halten und alles gehörig zurechtlegen und vereinigen werde.

Ebenso wird man vielleicht auf manches stoßen, was beim ersten Anblick den Schein des Unbedeutenden hat. Sollte man aber tiefer blickend bemerken, daß solche unbedeutende Anlässe oft Träger von etwas Bedeutendem sind, auch oft etwas Spätervorkommendes begründen, oder auch dazu beitragen irgendeinen kleinen Zug zur Charakterzeichnung hinzuzutun, so dürften sie, als eine Art von Notwendigkeit, wo nicht geheiliget, doch entschuldiget werden.

Und somit sage ich nun diesem lange gehegten Buche zu seinem Hinaustritt in die Welt das beste Lebewohl, und wünsche ihm das Glück, angenehm zu sein und mancherlei Gutes anzuregen und zu verbreiten.

Weimar, den 31. Oktober 1835.

Erster Teil

Einleitung

Der Autor gibt Nachricht über seine Person und Herkunft
und die Entstehung seines Verhältnisses zu Goethe.

Zu Winsen an der Luhe, einem Städtchen zwischen Lüneburg und Hamburg, auf der Grenze des Marsch- und Heidelandes, bin ich zu Anfang der neunziger Jahre geboren, und zwar in einer Hütte, wie man wohl ein Häuschen nennen kann, das nur einen heizbaren Aufenthalt und keine Treppe hatte, sondern wo man auf einer gleich an der Haustür stehenden Leiter unmittelbar auf den Heuboden stieg.

Als der Zuletztgeborne einer zweiten Ehe habe ich meine Eltern eigentlich nur gekannt, wie sie schon im vorgerückten Alter standen, und bin zwischen beiden gewissermaßen einsam aufgewachsen. Aus meines Vaters erster Ehe lebten zwei Söhne, wovon der eine, nach verschiedenen Seereisen als Matrose, in fernen Weltteilen in Gefangenschaft geraten und verschollen war, der andere aber, nach mehrmaligem Aufenthalt zum Walfisch- und Seehunde-Fang in Grönland, nach Hamburg zurückgekehrt war und dort in mäßigen Umständen lebte. Aus meines Vaters zweiter Ehe waren vor mir zwei Schwestern aufgewachsen, die, als ich mein zwölftes Jahr erreicht, bereits das väterliche Haus verlassen hatten und teils im Orte, teils in Hamburg dienten.

Die Hauptquelle des Unterhaltes unserer kleinen Familie war eine Kuh, die uns nicht allein zu unserm täglichen Bedarf mit Milch versah, sondern von der wir auch jährlich ein Kalb mästen und außerdem zu gewissen Zeiten für einige Groschen Milch verkaufen konnten. Ferner besaßen wir einen Acker Land, der uns die nötigen Gemüsearten für das Bedürfnis des Jahres gewinnen ließ. Korn zu Brot indes und Mehl für die Küche mußten wir kaufen.

Meine Mutter hatte eine besondere Geschicklichkeit im Wollspinnen; auch schnitt und nähete sie die bürgerlichen Mützen der Frauenzimmer zu besonderer Zufriedenheit, welches ihr denn beides zur Quelle einiges Erwerbes gereichte.

Meines Vaters eigentliches Geschäft dagegen war der Betrieb eines kleinen Handels, der nach den verschiedenen Jahreszeiten variierte und ihn veranlaßte, häufig von Haus abwesend zu sein und in der Umgegend viel zu Fuße umherzuschweifen. Im Sommer sah man ihn, mit einem leichten hölzernen Schränkchen auf dem Rücken, in der Heidegegend von Dorf zu Dorf wandern und mit Band, Zwirn und Seide hausieren gehen. Zugleich kaufte er hier wollene Strümpfe und Beiderwand (ein aus der braunen Wolle der Heideschnucken und leinenem Garn gewebtes Zeug), das er denn auf dem jenseitigen Elbufer, in den Vierlanden, gleichfalls hausierend wieder absetzte. Im Winter trieb er einen Handel mit rohen Schreibfedern und ungebleichter Leinewand, die er in den Dörfern der Heide- und Marschgegend aufkaufte und mit Schiffsgelegenheit nach Hamburg brachte. In allen Fällen jedoch mußte sein Gewinn sehr gering sein, denn wir lebten immer in einiger Armut.

Soll ich nun von meiner kindlichen Tätigkeit reden, so war sie gleichfalls nach den Jahreszeiten verschieden. Mit dem anbrechenden Frühling und sowie die Gewässer der gewöhnlichen Elbüberschwemmungen verlaufen waren, ging ich täglich, um das an den Binnendeichen und sonstigen Erhöhungen angespülte Schilf zu sammeln und als eine beliebte Streu für unsere Kuh anzuhäufen. Wenn sodann auf der weitausgedehnten Weidefläche das erste Grün hervorkeimte, verlebte ich in Gemeinschaft mit anderen Knaben lange Tage im Hüten der Kühe. Während des Sommers war ich tätig in Bestellung unseres Ackers; auch schleppte ich für das Bedürfnis des Herdes das ganze Jahr hindurch aus der kaum eine Stunde entfernten Waldung trockenes Holz herbei. Zur Zeit der Kornernte sah man mich wochenlang in den Feldern mit ährenlesen beschäftigt, und später, wenn die Herbstwinde die Bäume schüttelten, sammelte ich Eicheln, die ich metzenweise an wohlhabendere Einwohner, um ihre Gänse damit zu füttern, verkaufte. Sowie ich aber genugsam herangewachsen war, begleitete ich meinen Vater auf seinen Wanderungen von Dorf zu Dorf und half einen Bündel tragen. Diese Zeit gehört zu den liebsten Erinnerungen meiner Jugend.

Unter solchen Zuständen und Beschäftigungen, während welcher ich auch periodenweise die Schule besuchte und notdürftig lesen und schreiben lernte, erreichte ich mein vierzehntes Jahr, und man wird gestehen, daß von hier bis zu einem vertrauten Verhältnis mit Goethe ein großer Schritt und überall wenig Anschein war. Auch wußte ich nicht, daß es in der Welt Dinge gebe wie Poesie und schöne Künste, und konnte also auch ein dunkeles Verlangen und Streben nach solchen Dingen glücklicherweise in mir nicht stattfinden.

Man hat gesagt, die Tiere werden durch ihre Organe belehrt; und so möchte man vom Menschen sagen, daß er oft durch etwas, was er ganz zufällig tut, über das belehrt werde, was etwa Höheres in ihm schlummert. Ein solches ereignete sich mit mir, und da es, obgleich an sich unbedeutend, meinem ganzen Leben eine andere Wendung gab, so hat es sich mir als etwas Unvergeßliches eingeprägt.

Ich saß eines Abends bei angezündeter Lampe mit beiden Eltern am Tische. Mein Vater war von Hamburg zurückgekommen und erzählte von dem Verlauf und Fortgang seines Handels. Da er gern rauchte, so hatte er sich ein Paket Tabak mitgebracht, das vor mir auf dem Tische lag und als Wappen ein Pferd hatte. Dieses Pferd erschien mir als ein sehr gutes Bild, und da ich zugleich Feder und Tinte und ein Stückchen Papier zur Hand hatte, so bemächtigte sich meiner ein unwiderstehlicher Trieb, es nachzuzeichnen. Mein Vater fuhr fort von Hamburg zu erzählen, während ich, von den Eltern unbemerkt, mich ganz vertiefte im Zeichnen des Pferdes. Als ich fertig war, kam es mir vor, als sei meine Nachbildung dem Vorbilde vollkommen ähnlich, und ich genoß ein mir bisher unbekanntes Glück. Ich zeigte meinen Eltern, was ich gemacht hatte, die nicht umhin konnten mich zu rühmen und sich darüber zu wundern. Die Nacht verbrachte ich in freudiger Aufregung halb schlaflos, ich dachte beständig an mein gezeichnetes Pferd und erwartete mit Ungeduld den Morgen, um es wieder vor Augen zu nehmen und mich wieder daran zu erfreuen.

Von dieser Zeit an verließ mich der einmal erwachte Trieb der sinnlichen Nachbildung nicht wieder. Da es aber in meinem Orte an aller weiteren Hülfe in solchen Dingen fehlte, so war ich schon sehr glücklich, als unser Nachbar, ein Töpfer, mir ein paar Hefte mit Konturen gab, welche ihm bei Bemalung seiner Teller und Schüsseln als Vorbild dienten.

Diese Umrisse zeichnete ich mit Feder und Tinte auf das sorgfältigste nach, und so entstanden zwei Hefte, die bald von Hand zu Hand gingen und auch an die erste Person des Ortes, an den Oberamtmann Meyer, gelangten. Er ließ mich rufen, beschenkte mich und lobte mich auf die liebevollste Weise. Er fragte mich, ob ich Lust habe ein Maler zu werden; er wolle mich in solchem Fall, wenn ich konfirmiert sei, zu einem geschickten Meister nach Hamburg senden. Ich sagte, daß ich wohl Lust habe und daß ich es mit meinen Eltern überlegen wolle.

Diese aber, beide aus dem Bauernstande und in einem Orte lebend, wo größtenteils nichts anderes als Ackerbau und Viehzucht getrieben wurde, dachten sich unter einem Maler nichts weiter als einen Türen- und Häuseranstreicher. Sie widerriefen es mir daher auf das sorglichste, indem sie anführten, daß es nicht allein ein sehr schmutziges, sondern zugleich ein sehr gefährliches Handwerk sei, wobei man Hals und Beine brechen könne, welches sich, zumal in Hamburg bei den sieben Stockwerk hohen Häusern, sehr oft ereigne. Da nun meine eigenen Begriffe von einem Maler gleichfalls nicht höherer Art waren, so verging mir die Lust zu diesem Metier und ich schlug das Anerbieten des guten Oberamtmannes aus dem Sinne.

Indessen war nun einmal die Aufmerksamkeit höherer Personen auf mich gefallen; man behielt mich im Auge und suchte mich auf manche Weise zu heben. Man ließ mich an dem Privatunterricht der wenigen vornehmen Kinder teilnehmen, ich lernte Französisch und etwas Latein und Musik; zugleich versah man mich mit besserer Kleidung, und der würdige Superintendent Parisius hielt es nicht zu gering, mir einen Platz an seinem eigenen Tische zu geben.

Von nun an war mir die Schule lieb geworden; ich suchte so günstige Umstände so lange fortzusetzen als möglich, und meine Eltern gaben es daher auch gern zu, daß ich erst in meinem sechzehnten Jahre konfirmiert wurde.

Nun aber entstand die Frage, was aus mir werden solle. Wäre es nach meinen Wünschen gegangen, so hätte man mich zur Verfolgung wissenschaftlicher Studien auf ein Gymnasium geschickt; allein hieran war nicht zu denken, denn es fehlte dazu nicht allein an allen Mitteln, sondern die gebieterische Not meiner Umstände verlangte auch, mich sehr bald in einer Lage zu sehen, wo ich nicht allein für mich selber zu sorgen, sondern auch meinen dürftigen alten Eltern einigermaßen zu Hülfe zu kommen imstande wäre.

Eine solche Lage eröffnete sich mir gleich nach meiner Konfirmation, indem ein dortiger Justizbeamter mir das Anerbieten machte, mich zum Schreiben und anderen kleinen Dienstverrichtungen zu sich zu nehmen, worein ich mit Freuden willigte. Ich hatte während der letzten anderthalb Jahre meines fleißigen Schulbesuchs es dahin gebracht, nicht allein eine gute Hand zu erlangen, sondern mich auch in Abfassung schriftlicher Aufsätze vielfältig zu üben, so daß ich mich denn für eine solche Stelle sehr wohl qualifiziert halten konnte. Dieses Verhältnis, wobei ich auch kleine Advokaturgeschäfte trieb und nicht selten in den Fall kam, nach hergebrachten Formen beides, Klageschrift und Urteil, abzufassen, dauerte zwei Jahre, nämlich bis 1810, wo das hannöverische Amt Winsen an der Luhe aufgelöst und, im Departement der Niederelbe begriffen, dem französischen Kaiserreiche einverleibt wurde.

Ich erhielt nun eine Anstellung im Bureau der Direktion der direkten Steuern zu Lüneburg; und als diese im nächsten Jahre gleichfalls aufgelöst wurde, kam ich in das Bureau der Unterpräfektur zu ülzen. Hier arbeitete ich bis gegen Ende des Jahres 1812, wo der Präfekt, Herr von Düring, mich beförderte und als Mairiesekretär zu Bevensen anstellte. Diesen Posten bekleidete ich bis zum Frühling des Jahres 1813, wo die herannahenden Kosaken uns zur Befreiung von der französischen Herrschaft Hoffnung machten.

Ich nahm meinen Abschied und ging in meine Heimat, mit keinem anderen Plan und Gedanken, als mich sobald wie möglich den Reihen der vaterländischen Krieger anzuschließen, die sich im stillen hier und dort anfingen zu bilden. Dieses vollführte ich und trat gegen Ende des Sommers mit Büchse und Holster als Freiwilliger in das Kielmannseggesche Jägerkorps und machte mit diesem in der Kompagnie des Kapitän Knop den Feldzug des Winters 1813 und 1814 durch Mecklenburg, Holstein und vor Hamburg gegen den Marschall Davoust. Darauf marschierten wir über den Rhein gegen den General Maison und zogen im Sommer viel hin und her in dem fruchtbaren Flandern und Brabant.

Hier, vor den großen Gemälden der Niederländer ging mir eine neue Welt auf; ich verbrachte ganze Tage in Kirchen und Museen. Es waren im Grunde die ersten Gemälde, die mir in meinem Leben vor Augen gekommen waren. Ich sah nun, was es heißen wolle, ein Maler zu sein; ich sah die gekrönten, glücklichen Fortschritte der Schüler, und ich hätte weinen mögen, daß es mir versagt worden, eine ähnliche Bahn zu gehen. Doch entschloß ich mich auf der Stelle; ich machte in Tournay die Bekanntschaft eines jungen Künstlers, ich verschaffte mir schwarze Kreide und einen Bogen Zeichenpapier vom größten Format und setzte mich sogleich vor ein Bild, um es zu kopieren. Große Begierde zur Sache ersetzte hiebei, was mir an übung und Anleitung fehlte, und so brachte ich die Konture der Figuren glücklich zustande; ich fing auch an, von der linken Seite herein das Ganze auszuschattieren, als eine Marschordre eine so glückliche Beschäftigung unterbrach. Ich eilte, die Abstufung von Schatten und Licht in dem nicht ausgeführten Teile mit einzelnen Buchstaben anzudeuten, in Hoffnung, daß es mir in ruhigen Stunden gelingen würde, es auf diese Weise zu vollenden. Ich rollte mein Bild zusammen und tat es in einen Köcher, den ich, neben meiner Büchse auf dem Rücken hängend, den langen Marsch von Tournay nach Hameln trug.

Hier ward das Jägerkorps im Herbst des Jahres 1814 aufgelöst. Ich ging in meine Heimat; mein Vater war tot, meine Mutter noch am Leben und bei meiner ältesten Schwester wohnend, die sich indes verheiratet und das elterliche Haus angenommen hatte. Ich fing nun sogleich an mein Zeichnen fortzusetzen; ich vollendete zunächst jenes aus Brabant mitgebrachte Bild, und als es mir darauf ferner an passenden Mustern fehlte, so hielt ich mich an die kleinen Rambergischen Kupfer, die ich mit schwarzer Kreide ins Große ausführte. Hiebei merkte ich jedoch sehr bald den Mangel gehöriger Vorstudien und Kenntnisse. Ich hatte so wenig Begriffe von der Anatomie des Menschen wie der Tiere; nicht mehr wußte ich von Behandlung der verschiedenen Baumarten und Gründe, und es kostete mich daher unsägliche Mühe, ehe ich auf meine Weise etwas herausbrachte, das ungefähr so aussah.

Ich begriff daher sehr bald, daß, wenn ich ein Künstler werden wolle, ich es ein wenig anders anzufangen hätte, und daß das fernere Suchen und Tasten auf eigenem Wege ein durchaus verlorenes Bemühen sei. Zu einem tüchtigen Meister zu gehen und ganz von vorne anzufangen, das war mein Plan.

Was nun den Meister betraf, so lag in meinen Gedanken kein anderer als Ramberg in Hannover; auch dachte ich in dieser Stadt mich um so eher halten zu können, als ein geliebter Jugendfreund dort in glücklichen Umständen lebte, von dessen Treue ich mir jede Stütze versprechen durfte und dessen Einladungen sich wiederholten.

Ich säumte daher auch nicht lange und schnürte meinen Bündel und machte mitten im Winter 1815 den fast vierzigstündigen Weg durch die öde Heide bei tiefem Schnee einsam zu Fuß, und erreichte in einigen Tagen glücklich Hannover.

Ich verfehlte nicht, alsobald zu Ramberg zu gehen und ihm meine Wünsche vorzutragen. Nach den vorgelegten Proben schien er an meinem Talent nicht zu zweifeln; doch machte er mir bemerklich, daß die Kunst nach Brot gehe, daß die überwindung des Technischen viel Zeit verlange, und daß die Aussicht, der Kunst zugleich die äußere Existenz zu verdanken, sehr ferne sei. Indessen zeigte er sich sehr bereit, mir seinerseits alle Hülfe zu schenken; er suchte sogleich aus der Masse seiner Zeichnungen einige passende Blätter mit Teilen des menschlichen Körpers hervor, die er mir zum Nachzeichnen mitgab.

So wohnte ich denn bei meinem Freunde und zeichnete nach Rambergischen Originalen. Ich machte Fortschritte, denn die Blätter, die er mir gab, wurden immer bedeutender. Die ganze Anatomie des menschlichen Körpers zeichnete ich durch und ward nicht müde, die schwierigen Hände und Füße immer zu wiederholen. So vergingen einige glückliche Monate. Wir kamen indes in den Mai, und ich fing an zu kränkeln; der Juni rückte heran, und ich war nicht mehr imstande den Griffel zu führen, so zitterten meine Hände.

Wir nahmen unsere Zuflucht zu einem geschickten Arzt. Er fand meinen Zustand gefährlich. Er erklärte, daß infolge des Feldzuges alle Hautausdünstung unterdrückt sei, daß eine verzehrende Glut sich auf die inneren Teile geworfen, und daß, wenn ich mich noch vierzehn Tage so fortgeschleppt hätte, ich unfehlbar ein Kind des Todes gewesen sein würde. Er verordnete sogleich warme Bäder und ähnliche wirksame Mittel, um die Tätigkeit der Haut wieder herzustellen; es zeigten sich auch sehr bald erfreuliche Spuren der Besserung; doch an Fortsetzung meiner künstlerischen Studien war nicht mehr zu denken.

Ich hatte bisher bei meinem Freunde die liebevollste Behandlung und Pflege genossen; daß ich ihm lästig sei oder in der Folge lästig werden könnte, daran war seinerseits kein Gedanke und nicht die leiseste Andeutung. Ich aber dachte daran, und wie diese schon länger gehegte heimliche Sorge wahrscheinlich dazu beigetragen hatte, den Ausbruch der in mir schlummernden Krankheit zu beschleunigen, so trat sie jetzt, da ich wegen meiner Wiederherstellung bedeutende Ausgaben vor mir sah, mit ihrer ganzen Gewalt hervor.

In solcher Zeit äußerer und innerer Bedrängnis eröffnete sich mir die Aussicht zu einer Anstellung bei einer mit der Kriegskanzlei in Verbindung stehenden Kommission, die das Montierungswesen der hannöverischen Armee zum Gegenstand ihrer Geschäfte hatte, und es war daher wohl nicht zu verwundern, daß ich dem Drange der Umstände nachgab und, auf die künstlerische Bahn Verzicht leistend, mich um die Stelle bewarb und sie mit Freuden annahm.

Meine Genesung erfolgte rasch, und es kehrte ein Wohlbefinden und eine Heiterkeit zurück, wie ich sie lange nicht genossen. Ich sah mich in dem Fall, meinem Freunde einigermaßen wieder zu vergüten, was er so großmütig an mir getan. Die Neuheit des Dienstes, in welchen ich mich einzuarbeiten hatte, gab meinem Geiste Beschäftigung. Meine Obern erschienen mir als Männer von der edelsten Denkungsart, und mit meinen Kollegen, von denen einige mit mir in demselbigen Korps den Feldzug gemacht, stand ich sehr bald auf dem Fuß eines innigen Vertrauens.

In dieser gesicherten Lage fing ich nun erst an, in der manches Gute enthaltenden Residenz mit einiger Freiheit umherzublicken, sowie ich auch in Stunden der Muße nicht müde ward, die reizenden Umgebungen immer von neuem zu durchstreifen. Mit einem Schüler Rambergs, einem hoffnungsvollen jungen Künstler, hatte ich eine innige Freundschaft geschlossen; er war auf meinen Wanderungen mein beständiger Begleiter. Und da ich nun auf ein praktisches Fortschreiten in der Kunst wegen meiner Gesundheit und sonstigen Umstände fernerhin Verzicht leisten mußte, so war es mir ein großer Trost, mich mit ihm über unsere gemeinsame Freundin wenigstens täglich zu unterhalten. Ich nahm teil an seinen Kompositionen, die er mir häufig in der Skizze zeigte und die wir miteinander durchsprachen. Ich ward durch ihn auf manche belehrende Schrift geführt, ich las Winckelmann, ich las Mengs; allein da mir die Anschauung der Sachen fehlte, von denen diese Männern handeln, so konnte ich mir auch aus solcher Lektüre nur das Allgemeinste aneignen, und ich hatte davon im Grunde wenig Nutzen.

In der Residenz geboren und aufgewachsen, war mein Freund in geistiger Bildung mir in jeder Hinsicht voran, auch hatte er eine recht hübsche Kenntnis der schönen Literatur, die mir durchaus fehlte. In dieser Zeit war Theodor Körner der gefeierte Held des Tages; er brachte mir dessen Gedichte ›Leier und Schwert‹, die denn nicht verfehlten, auch auf mich einen großen Eindruck zu machen und auch mich zur Bewunderung hinzureißen.

Man hat viel von der künstlerischen Wirkung eines Gedichtes gesprochen und sie sehr hoch gestellt; mir aber will erscheinen, daß die stoffartige die eigentlich mächtige sei, worauf alles ankomme. Ohne es zu wissen, machte ich diese Erfahrung an dem Büchlein ›Leier und Schwert‹. Denn, daß ich gleich Körner den Haß gegen unsere vieljährigen Bedrücker im Busen getragen, daß ich gleich ihm den Befreiungskrieg mitgemacht und gleich ihm alle Zustände von beschwerlichen Märschen, nächtlichen Biwaks, Vorpostendienst und Gefechten erlebt und dabei ähnliche Gedanken und Empfindungen gehegt hatte, das verschaffte diesen Gedichten in meinem Innern einen so tiefen und mächtigen Anklang.

Wie nun aber auf mich nicht leicht etwas Bedeutendes wirken konnte, ohne mich tief anzuregen und produktiv zu machen, so ging es mir auch mit diesen Gedichten von Theodor Körner. Ich erinnerte mich aus meiner Kindheit und den folgenden Jahren, daß ich selber hin und wieder kleine Gedichte geschrieben, aber nicht weiter beachtet hatte, weil ich auf dergleichen leicht entstehende Dinge damals keinen großen Wert legte, und weil überall zur Schätzung des poetischen Talents immer einige geistige Reife erforderlich ist. Nun aber erschien mir diese Gabe in Theodor Körner als etwas durchaus Rühmliches und Beneidenswürdiges, und es erwachte in mir ein mächtiger Trieb, zu versuchen, ob es mir nicht gelingen wolle, es ihm einigermaßen nachzutun.

Die Rückkehr unserer vaterländischen Krieger aus Frankreich gab mir eine erwünschte Gelegenheit. Und wie mir in frischer Erinnerung lebte, welchen unsäglichen Mühseligkeiten der Soldat im Felde sich zu unterziehen hat, während dem gemächlichen Bürger zu Hause oft keine Art von Bequemlichkeit mangelt, so dachte ich, daß es gut sein möchte, dergleichen Verhältnisse in einem Gedicht zur Sprache zu bringen und dadurch, auf die Gemüter wirkend, den zurückkehrenden Truppen einen desto herzlicheren Empfang vorzubereiten.

Ich ließ von dem Gedicht einige hundert Exemplare auf eigene Kosten drucken und in der Stadt verteilen. Die Wirkung, die es tat, war günstig über meine Erwartung. Es verschaffte mir den Zudrang einer Menge sehr erfreulicher Bekanntschaften, man teilte meine ausgesprochenen Empfindungen und Ansichten, man ermunterte mich zu ähnlichen Versuchen und war überhaupt der Meinung, daß ich die Probe eines Talentes an den Tag gelegt habe, welches der Mühe wert sei weiter zu kultivieren. Man teilte das Gedicht in Zeitschriften mit, es ward an verschiedenen Orten nachgedruckt und einzeln verkauft, und überdies erlebte ich daran die Freude, es von einem sehr beliebten Komponisten in Musik gesetzt zu sehen, so wenig es sich auch im Grunde, wegen seiner Länge und ganz rhetorischen Art, zum Gesang eignete.

Es verging von nun an keine Woche, wo ich nicht durch die Entstehung irgendeines weiteren Gedichts wäre beglückt worden. Ich war jetzt in meinem vierundzwanzigsten Jahre, es lebte in mir eine Welt von Gefühlen, Drang und gutem Willen; allein ich war ganz ohne alle geistige Kultur und Kenntnisse. Man empfahl mir das Studium unserer großen Dichter und führte mich besonders auf Schiller und Klopstock. Ich verschaffte mir ihre Werke, ich las, ich bewunderte sie, allein ich fand mich durch sie wenig gefördert; die Bahn dieser Talente lag, ohne daß ich es damals gewußt hätte, von der Richtung meiner eigenen Natur zu weit abwärts.

In dieser Zeit hörte ich zuerst den Namen Goethe und erlangte zuerst einen Band seiner Gedichte. Ich las seine Lieder, und las sie immer von neuem, und genoß dabei ein Glück, das keine Worte schildern. Es war mir, als fange ich erst an aufzuwachen und zum eigentlichen Bewußtsein zu gelangen; es kam mir vor, als werde mir in diesen Liedern mein eigenes mir bisher unbekanntes Innere zurückgespiegelt. Auch stieß ich nirgends auf etwas Fremdartiges und Gelehrtes, wozu mein bloß menschliches Denken und Empfinden nicht ausgereicht hätte, nirgends auf Namen ausländischer und veralteter Gottheiten, wobei ich mir nichts zu denken wußte; vielmehr fand ich das menschliche Herz in allen seinem Verlangen, Glück und Leiden, ich fand eine deutsche Natur wie der gegenwärtige helle Tag, eine reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklärung.

Ich lebte in diesen Liedern ganze Wochen und Monate. Dann gelang es mir, den ›Wilhelm Meister‹ zu bekommen, dann sein Leben, dann seine dramatischen Werke. Den ›Faust‹, vor dessen Abgründen menschlicher Natur und Verderbnis ich anfänglich zurückschauderte, dessen bedeutend rätselhaftes Wesen mich aber immer wieder anzog, las ich alle Festtage. Bewunderung und Liebe nahm täglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in diesen Werken und dachte und sprach nichts als von Goethe.

Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke eines großen Schriftstellers ziehen, kann mannigfaltiger Art sein; ein Hauptgewinn aber möchte darin bestehen, daß wir uns nicht allein unseres eigenen Innern, sondern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher bewußt werden. Eine solche Wirkung hatten auf mich die Werke Goethes. Auch ward ich durch sie zur besseren Beobachtung und Auffassung der sinnlichen Gegenstände und Charaktere getrieben; ich kam nach und nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichsten Harmonie eines Individuums mit sich selber, und somit ward mir denn das Rätsel der großen Mannigfaltigkeit sowohl natürlicher als künstlerischer Erscheinungen immer mehr aufgeschlossen.

Nachdem ich mich einigermaßen in Goethes Schriften befestiget und mich nebenbei in der Poesie praktisch auf manche Weise versucht hatte, wendete ich mich zu einigen der größten Dichter des Auslandes und früherer Zeiten, und las in den besten übersetzungen nicht allein die vorzüglichsten Stücke von Shakespeare, sondern auch den Sophokles und Homer.

Hiebei merkte ich jedoch sehr bald, daß von diesen hohen Werken nur das Allgemein-Menschliche in mich eingehen wolle, daß aber das Verständnis des Besonderen, sowohl in sprachlicher als historischer Hinsicht, wissenschaftliche Kenntnisse und überhaupt eine Bildung voraussetzte, wie sie gewöhnlich nur auf Schulen und Universitäten erlangt wird.

überdies machte man mir von manchen Seiten bemerklich, daß ich mich auf eigenem Wege vergebens abmühe und daß, ohne eine sogenannte klassische Bildung, nie ein Dichter dahin gelangen werde, sowohl seine eigene Sprache mit Geschick und Nachdruck zu gebrauchen, als auch überhaupt, dem Gehalt und Geiste nach, etwas Vorzügliches zu leisten.

Da ich nun auch zu dieser Zeit viele Biographien bedeutender Männer las, um zu sehen, welche Bildungswege sie eingeschlagen, um zu etwas Tüchtigem zu gelangen, und ich bei ihnen überall den Gang durch Schulen und Universitäten wahrzunehmen hatte, so faßte ich, obgleich bei so vorgerücktem Alter und unter so widerstrebenden Umständen, den Entschluß, ein gleiches auszuführen.

Ich wendete mich alsobald an einen als Lehrer beim Gymnasium zu Hannover angestellten vorzüglichen Philologen und nahm bei ihm Privatunterricht, nicht allein in der lateinischen, sondern auch in der griechischen Sprache, und verwendete auf diese Studien alle Muße, die meine wenigstens sechs Stunden täglich in Anspruch nehmenden Berufsgeschäfte mir gewähren wollten.

Dieses trieb ich ein Jahr. Ich machte gute Fortschritte; allein bei meinem unaussprechlichen Drange vorwärts kam es mir vor, als gehe es zu langsam und als müsse ich auf andere Mittel denken. Es wollte mir erscheinen, daß, wenn ich erlangen könne, täglich vier bis fünf Stunden das Gymnasium zu besuchen und auf solche Weise ganz und gar in dem gelehrten Elemente zu leben, ich ganz andere Fortschritte machen und ungleich schneller zum Ziele gelangen würde.

In dieser Meinung ward ich durch den Rat sachkundiger Personen bestätigt; ich faßte daher den Entschluß, so zu tun, und erhielt dazu auch sehr leicht die Genehmigung meiner Obern, indem die Stunden des Gymnasiums größtenteils auf eine solche Tageszeit fielen, wo ich vom Dienste frei war. Ich meldete mich daher zur Aufnahme und ging in Begleitung meines Lehrers an einem Sonntag Vormittag zu dem würdigen Direktor, um die erforderliche Prüfung zu bestehen. Er examinierte mich mit aller möglichen Milde; allein da ich für die hergebrachten Schulfragen kein präparierter Kopf war und es mir trotz allem Fleiß an eigentlicher Routine fehlte, so bestand ich nicht so gut, als ich im Grunde hätte sollen. Doch auf die Versicherung meines Lehrers, daß ich mehr wisse, als es nach dieser Prüfung den Anschein haben möge, und in Erwägung meines ungewöhnlichen Strebens setzte er mich nach Sekunda.

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich als ein fast Fünfundzwanzigjähriger und als einer, der bereits in königlichen Diensten stand, unter diesen größtenteils noch sehr knabenhaften Jünglingen eine wunderliche Figur machte, so daß diese neue Situation mir anfänglich selber ein wenig unbequem und seltsam vorkommen wollte – doch mein großer Durst nach den Wissenschaften ließ mich alles übersehen und ertragen. Auch hatte ich mich im ganzen nicht zu beschweren. Die Lehrer achteten mich, die älteren und besseren Schüler der Klasse kamen mir auf das freundlichste entgegen, und selbst einige Ausbunde von übermut hatten Rücksicht genug, an mir ihre frevelhaften Anwandlungen nicht auszulassen.

Ich war daher wegen meiner erreichten Wünsche im ganzen genommen sehr glücklich und schritt auf dieser neuen Bahn mit großem Eifer vorwärts. Des Morgens fünf Uhr war ich wach und bald darauf an meinen Präparationen. Gegen acht ging es in die Schule bis zehn Uhr. Von dort eilte ich auf mein Bureau zu den Dienstgeschäften, die meine Gegenwart bis gegen ein Uhr verlangten. Im Fluge ging es sodann nach Haus; ich verschluckte ein wenig Mittagessen und war gleich nach ein Uhr wieder in der Schule. Die Stunden dauerten bis vier Uhr, worauf ich denn wieder bis nach sieben Uhr in meinem Beruf beschäftiget war und den ferneren Abend zu Präparationen und Privatunterricht verwendete.

Dieses Leben und Treiben verführte ich einige Monate; allein meine Kräfte waren einer solchen Anstrengung nicht gewachsen, und es bestätigte sich die alte Wahrheit: daß niemand zween Herren dienen könne. Der Mangel an freier Luft und Bewegung, sowie die fehlende Zeit und Ruhe zum Essen, Trinken und Schlaf, erzeugten nach und nach einen krankhaften Zustand; ich fühlte mich abgestumpft an Leib und Seele und sah mich zuletzt in der dringenden Notwendigkeit, entweder die Schule aufzugeben oder meine Stelle. Da aber das letztere meiner Existenz wegen nicht anging, so blieb kein anderer Ausweg, als das erstere zu tun, und ich trat mit dem beginnenden Frühling 1817 wieder aus. Es schien zu dem besonderen Geschick meines Lebens zu gehören, mancherlei zu probieren, und so gereute es mich denn keineswegs, auch eine gelehrte Schule eine Zeit lang probiert zu haben.

Ich hatte indes einen guten Schritt vorwärts getan, und da ich die Universität nach wie vor im Auge behielt, so blieb nun weiter nichts übrig, als den Privatunterricht fortzusetzen, welches denn auch mit aller Lust und Liebe geschah.

Nach der überstandenen Last des Winters verlebte ich einen desto heiteren Frühling und Sommer; ich war viel in der freien Natur, die dieses Jahr mit besonderer Innigkeit zu meinem Herzen sprach, und es entstanden viele Gedichte, wobei besonders die jugendlichen Lieder von Goethe mir als hohe Muster vor Augen schwebten.

Mit eintretendem Winter fing ich an ernstlich darauf zu denken, wie ich es möglich mache, wenigstens binnen Jahresfrist die Universität zu beziehen. In der lateinischen Sprache war ich so weit vorgeschritten, daß es mir gelang, von den Oden des Horaz, von den Hirtengedichten des Virgil, sowie von den Metamorphosen des Ovid einige mich besonders ansprechende Stücke metrisch zu übersetzen, sowie die Reden des Cicero und die Kriegsgeschichten des Julius Cäsar mit einiger Leichtigkeit zu lesen. Hiemit konnte ich mich zwar noch keineswegs als für akademische Studien gehörig vorbereitet betrachten, allein ich dachte innerhalb eines Jahres noch sehr weit zu kommen und sodann das Fehlende auf der Universität selber nachzuholen.

Unter den höheren Personen der Residenz hatte ich mir manchen Gönner erworben; sie versprachen mir ihre Mitwirkung, jedoch unter der Bedingung, daß ich mich entschließen wolle, ein sogenanntes Brotstudium zu wählen. Da aber dergleichen nicht in der Richtung meiner Natur lag, und da ich in der festen überzeugung lebte, daß der Mensch nur dasjenige kultivieren müsse, wohin ein unausgesetzter Drang seines Innern gehe, so blieb ich bei meinem Sinn, und jene versagten mir ihre Hülfe, indem endlich nichts weiter erfolgen sollte als ein Freitisch.

Es blieb nun nichts übrig, als meinen Plan durch eigene Kräfte durchzusetzen und mich zu einer literarischen Produktion von einiger Bedeutung zusammenzunehmen.

Müllners ›Schuld‹ und Grillparzers ›Ahnfrau‹ waren zu dieser Zeit an der Tagesordnung und machten viel Aufsehen. Meinem Naturgefühl waren diese künstlichen Werke zuwider, noch weniger konnte ich mich mit ihren Schicksalsideen befreunden, von denen ich der Meinung war, daß daraus eine unsittliche Wirkung auf das Volk hervorgehe. Ich faßte daher den Entschluß, gegen sie aufzutreten und darzutun, daß das Schicksal in den Charakteren ruhe. Aber ich wollte nicht mit Worten gegen sie streiten, sondern mit der Tat. Ein Stück sollte erscheinen, welches die Wahrheit ausspreche, daß der Mensch in der Gegenwart Samen streue, der in der Zukunft aufgehe und Früchte bringe, gute oder böse, je nachdem er gesäet habe. Mit der Weltgeschichte unbekannt, blieb mir weiter nichts übrig, als die Charaktere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir die einzelnen Szenen und Akte bis ins einzelne aus und schrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgenstunden einiger Wochen. Ich genoß dabei das höchste Glück, denn ich sah, daß alles sehr leicht und natürlich zutage kam. Allein im Gegensatz mit jenen genannten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situationen, als eine gespannte rasch fortschreitende Handlung, und auch nur poetisch und rhythmisch, wenn Charaktere und Situationen es erforderten. Nebenpersonen gewannen zu viel Raum, das ganze Stück zu viel Breite.

Ich teilte es den nächsten Freunden und Bekannten mit, ward aber nicht verstanden, wie ich es wünschte; man warf mir vor: einige Szenen gehören ins Lustspiel; man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig gelesen. Ich, eine bessere Aufnahme erwartend, war anfänglich im stillen beleidigt; doch nach und nach kam ich zu der überzeugung, daß meine Freunde nicht so ganz unrecht hätten und daß mein Stück, wenn auch die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl durchdacht und mit einer gewissen Besonnenheit und Fazilität so zur Erscheinung gekommen, wie es mir gelegen, doch dem darin entwickelten Leben nach auf einer viel zu niedern Stufe stehe, als daß es sich geeignet hätte, damit öffentlich aufzutreten.

Und dieses war in Erwägung meines Herkommens und meiner wenigen Studien nicht zu verwundern. Ich nahm mir vor, das Stück umzuarbeiten und für das Theater einzurichten, vorher aber in meiner Bildung vorzuschreiten, damit ich fähig sei, alles höher zu stellen. Der Drang nach der Universität, wo ich alles zu erlangen hoffte, was mir fehlte, und wodurch ich auch in höhere Lebensverhältnisse zu kommen gedachte, ward nun zur Leidenschaft. Ich faßte den Entschluß, meine Gedichte herauszugeben, um es dadurch vielleicht zu bewirken. Und da es mir nun an Namen fehlte, um von einem Verleger ein ansehnliches Honorar erwarten zu können, so wählte ich den für meine Lage vorteilhafteren Weg der Subskription.

Diese ward von Freunden eingeleitet und nahm den erwünschtesten Fortgang. Ich trat jetzt bei meinen Obern mit meiner Absicht auf Göttingen wieder hervor und bat um meine Entlassung; und da diese nun die überzeugung gewannen, daß es mein tiefer Ernst sei und daß ich nicht nachgebe, so begünstigten sie meine Zwecke. Auf Vorstellung meines Chefs, des damaligen Obristen von Berger, gewährte die Kriegskanzlei mir den erbetenen Abschied und ließ mir jährlich 150 Taler von meinem Gehalt zum Behuf meiner Studien auf zwei Jahre.

Ich war nun glücklich in dem Gelingen der jahrelang gehegten Pläne. Die Gedichte ließ ich auf das schnellste drucken und versenden, aus deren Ertrag ich nach Abzug aller Kosten einen reinen Gewinn von 150 Taler behielt. Ich ging darauf im Mai 1821 nach Göttingen, eine teure Geliebte zurücklassend.

Mein erster Versuch, nach der Universität zu gelangen, war daran gescheitert, daß ich hartnäckig jedes sogenannte Brotstudium abgelehnt hatte. Jetzt aber, durch die Erfahrung gewitzigt und der unsäglichen Kämpfe mir noch zu gut bewußt, die ich damals sowohl gegen meine nächste Umgebung als gegen einflußreiche höhere Personen zu bestehen hatte, war ich klug genug gewesen, mich den Ansichten einer übermächtigen Welt zu bequemen und sogleich zu erklären, daß ich ein Brotstudium wählen und mich der Rechtswissenschaft widmen wolle.

Dieses hatten sowohl meine mächtigen Gönner als alle anderen, denen mein irdisches Fortkommen am Herzen lag und die sich von der Gewalt meiner geistigen Bedürfnisse keine Vorstellung machten, sehr vernünftig gefunden. Aller Widerspruch war mit einem Mal abgetan, ich fand überall ein freundliches Entgegenkommen und ein bereitwilliges Befördern meiner Zwecke. Zugleich unterließ man nicht, zu meiner Bestätigung in so guten Vorsätzen anzuführen, daß das juristische Studium keineswegs der Art sei, daß es nicht dem Geiste einen höheren Gewinn gebe. Ich würde, sagte man, dadurch Blicke in bürgerliche und weltliche Verhältnisse tun, wie ich auf keine andere Weise erreichen könne. Auch wäre dieses Studium keineswegs von solchem Umfang, daß sich nicht sehr viele sogenannte höhere Dinge nebenbei treiben lassen. Man nannte mir verschiedene Namen berühmter Personen, die alle Jura studiert hätten und doch zugleich zu den höchsten Kenntnissen anderer Art gelangt wären.

Hiebei jedoch wurde sowohl von meinen Freunden als von mir übersehen, daß jene Männer nicht allein mit tüchtigen Schulkenntnissen ausgestattet zur Universität kamen, sondern auch eine ungleich längere Zeit, als die gebieterische Not meiner besonderen Umstände es mir erlauben wollte, auf ihre Studien verwenden konnten.

Genug aber, so wie ich andere getäuscht hatte, täuschte ich mich nach und nach selber und bildete mir zuletzt wirklich ein, ich könne in allem Ernst Jura studieren und doch zugleich meine eigentlichen Zwecke erreichen.

In diesem Wahn, etwas zu suchen, was ich gar nicht zu besitzen und anzuwenden wünschte, fing ich sogleich nach meiner Ankunft auf der Universität mit dem Juristischen an. Auch fand ich diese Wissenschaft keineswegs der Art, daß sie mir widerstanden hätte, vielmehr hätte ich, wenn mein Kopf nicht von anderen Vorsätzen und Bestrebungen wäre zu voll gewesen, mich ihr recht gerne ergeben mögen. So aber erging es mir wie einem Mädchen, das gegen eine vorgeschlagene Heiratspartie bloß deswegen allerlei zu erinnern findet, weil ihr unglücklicherweise ein heimlich Geliebter im Herzen liegt.

In den Vorlesungen der Institutionen und Pandekten sitzend, vergaß ich mich oft im Ausbilden dramatischer Szenen und Akte. Ich gab mir alle Mühe, meinen Sinn auf das Vorgetragene zu wenden, allein er lenkte gewaltsam immer abwärts. Es lag mir fortwährend nichts in Gedanken als Poesie und Kunst und meine höhere menschliche Entwickelung, warum ich ja überall seit Jahren mit Leidenschaft nach der Universität gestrebt hatte.

Wer mich nun das erste Jahr in meinen nächsten Zwecken bedeutend förderte, war Heeren. Seine Ethnographie und Geschichte legte in mir für fernere Studien dieser Art den besten Grund, sowie die Klarheit und Gediegenheit seines Vortrages auch in anderer Hinsicht für mich von bedeutendem Nutzen war. Ich besuchte jede Stunde mit Liebe und verließ keine, ohne von größerer Hochachtung und Neigung für den vorzüglichen Mann durchdrungen zu sein.

Das zweite akademische Jahr begann ich vernünftigerweise mit gänzlicher Beseitigung des juristischen Studiums, das in der Tat viel zu bedeutend war, als daß ich es als Nebensache hätte mitgewinnen können, und das mir in der Hauptsache als ein zu großes Hindernis anhing. Ich schloß mich an die Philologie. Und wie ich im ersten Jahre Heeren sehr viel schuldig geworden, so ward ich es nun Dissen. Denn nicht allein, daß seine Vorlesungen meinen Studien die eigentlich gesuchte und ersehnte Nahrung gaben, ich mich täglich mehr gefördert und aufgeklärt sah, und nach seinen Andeutungen sichere Richtungen für künftige Produktionen nahm, sondern ich hatte auch das Glück, dem werten Manne persönlich bekannt zu werden und mich von ihm in meinen Studien geleitet, bestärkt und ermuntert zu sehen.

überdies war der tägliche Umgang mit ganz vorzüglichen Köpfen unter den Studierenden und das unaufhörliche Besprechen der höchsten Gegenstände, auf Spaziergängen und oft bis tief in die Nacht hinein, für mich ganz unschätzbar und auf meine immer freiere Entwicklung vom günstigsten Einfluß.

Indessen war das Ende meiner pekuniären Hülfsmittel nicht mehr ferne. Dagegen hatte ich seit anderthalb Jahren täglich neue Schätze des Wissens in mich aufgenommen; ein ferneres Anhäufen ohne ein praktisches Verwenden war meiner Natur und meinem Lebensgange nicht gemäß, und es herrschte daher in mir ein leidenschaftlicher Trieb, mich durch einige schriftstellerische Produktionen wieder frei und nach ferneren Studien wieder begehrlich zu machen.

Sowohl meine dramatische Arbeit, woran ich dem Stoffe nach das Interesse nicht verloren hatte, die aber der Form und dem Gehalte nach bedeutender erscheinen sollte, als auch Ideen in bezug auf Grundsätze der Poesie, die sich besonders als Widerspruch gegen damals herrschende Ansichten entwickelt hatten, gedachte ich hintereinander auszusprechen und zu vollenden.

Ich verließ daher im Herbst 1822 die Universität und bezog eine ländliche Wohnung in der Nähe von Hannover. Ich schrieb zunächst jene theoretischen Aufsätze, von denen ich hoffte, daß sie besonders bei jungen Talenten nicht allein zur Hervorbringung, sondern auch zur Beurteilung dichterischer Werke beitragen würden, und gab ihnen den Titel ›Beiträge zur Poesie‹.

Im Mai 1823 war ich mit dieser Arbeit zustande. Es kam mir nun in meiner Lage nicht allein darauf an, einen guten Verleger, sondern auch ein gutes Honorar zu erhalten, und so entschloß ich mich kurz und schickte das Manuskript an Goethe und bat ihn um einige empfehlende Worte an Herrn von Cotta.

Goethe war nach wie vor derjenige unter den Dichtern, zu dem ich täglich als meinem untrüglichen Leitstern hinaufblickte, dessen Aussprüche mit meiner Denkungsweise in Harmonie standen und mich auf einen immer höheren Punkt der Ansicht stellten, dessen hohe Kunst in Behandlung der verschiedensten Gegenstände ich immer mehr zu ergründen und ihr nachzustreben suchte, und gegen den meine innige Liebe und Verehrung fast leidenschaftlicher Natur war.

Bald nach meiner Ankunft in Göttingen hatte ich ihm, neben einer kleinen Skizze meines Lebens- und Bildungsganges, ein Exemplar meiner Gedichte zugesendet, worauf ich denn die große Freude erlebte, nicht allein von ihm einige schriftliche Worte zu erhalten, sondern auch von Reisenden zu hören, daß er von mir eine gute Meinung habe und in den Heften von ›Kunst und Altertum‹ meiner gedenken wolle.

Dieses zu wissen war für mich in meiner damaligen Lage von großer Bedeutung, sowie es mir auch jetzt den Mut gab, das soeben vollendete Manuskript vertrauensvoll an ihn zu senden.

Es lebte nun in mir kein anderer Trieb, als ihm einmal einige Augenblicke persönlich nahe zu sein; und so machte ich mich denn zur Erreichung dieses Wunsches gegen Ende des Monats Mai auf und wanderte zu Fuß über Göttingen und das Werratal nach Weimar.

Auf diesem wegen großer Hitze oft mühsamen Wege hatte ich in meinem Innern wiederholt den tröstlichen Eindruck, als stehe ich unter der besonderen Leitung gütiger Wesen und als möchte dieser Gang für mein ferneres Leben von wichtigen Folgen sein.

1823

Weimar, Dienstag, den 10. Juni 1823

Vor wenigen Tagen bin ich hier angekommen; heute war ich zuerst bei Goethe. Der Empfang seinerseits war überaus herzlich, und der Eindruck seiner Person auf mich der Art, daß ich diesen Tag zu den glücklichsten meines Lebens rechne.

Er hatte mir gestern, als ich anfragen ließ, diesen Mittag zwölf Uhr als die Zeit bestimmt, wo ich ihm willkommen sein würde. Ich ging also zur gedachten Stunde hin und fand den Bedienten auch bereits meiner wartend und sich anschickend, mich hinaufzuführen.

Das Innere des Hauses machte auf mich einen sehr angenehmen Eindruck; ohne glänzend zu sein, war alles höchst edel und einfach; auch deuteten verschiedene an der Treppe stehende Abgüsse antiker Statuen auf Goethes besondere Neigung zur bildenden Kunst und dem griechischen Altertum. Ich sah verschiedene Frauenzimmer, die unten im Hause geschäftig hin und wider gingen, auch einen der schönen Knaben Ottiliens, der zutraulich zu mir herankam und mich mit großen Augen anblickte.

Nachdem ich mich ein wenig umgesehen, ging ich sodann mit dem sehr gesprächigen Bedienten die Treppe hinauf zur ersten Etage. Er öffnete ein Zimmer, vor dessen Schwelle man die Zeichen SALVE als gute Vorbedeutung eines freundlichen Willkommenseins überschritt. Er führte mich durch dieses Zimmer hindurch und öffnete ein zweites, etwas geräumigeres, wo er mich zu verweilen bat, indem er ging, mich seinem Herrn zu melden. Hier war die kühlste erquicklichste Luft; auf dem Boden lag ein Teppich gebreitet, auch war es durch ein rotes Kanapee und Stühle von gleicher Farbe überaus heiter möbliert; gleich zur Seite stand ein Flügel, und an den Wänden sah man Handzeichnungen und Gemälde verschiedener Art und Größe.

Durch die offene Tür gegenüber blickte man sodann in ein ferneres Zimmer, gleichfalls mit Gemälden verziert, durch welches der Bediente gegangen war mich zu melden.

Es währte nicht lange.. so kam Goethe, in einem blauen Oberrock und in Schuhen; eine erhabene Gestalt! Der Eindruck war überraschend. Doch verscheuchte er sogleich jede Befangenheit durch die freundlichsten Worte. Wir setzten uns auf das Sofa. Ich war glücklich verwirrt in seinem Anblick und seiner Nähe, ich wußte ihm wenig oder nichts zu sagen.

Er fing sogleich an von meinem Manuskript zu reden. ”Ich komme eben von Ihnen her,“ sagte er; ”ich habe den ganzen Morgen in Ihrer Schrift gelesen; sie bedarf keiner Empfehlung, sie empfiehlt sich selber.“ Er lobte darauf die Klarheit der Darstellung und den Fluß der Gedanken, und daß alles auf gutem Fundament ruhe und wohl durchdacht sei. ”Ich will es schnell befördern,“ fügte er hinzu; ”heute noch schreibe ich an Cotta mit der reitenden Post, und morgen schicke ich das Paket mit der fahrenden nach.“

Ich dankte ihm dafür mit Worten und Blicken.

Wir sprachen darauf über meine fernere Reise. Ich sagte ihm, daß mein eigentliches Ziel die Rheingegend sei, wo ich an einem passenden Ort zu verweilen und etwas Neues zu schreiben gedenke. Zunächst jedoch wolle ich von hier nach Jena gehen, um dort die Antwort des Herrn von Cotta zu erwarten.

Goethe fragte mich, ob ich in Jena schon Bekannte habe; ich erwiderte, daß ich mit Herrn von Knebel in Berührung zu kommen hoffe, worauf er versprach, mir einen Brief mitzugeben, damit ich einer desto bessern Aufnahme gewiß sei.

”Nun, nun!“ sagte er dann, ”wenn Sie in Jena sind, so sind wir ja nahe beieinander und können zueinander und können uns schreiben, wenn etwas vorfällt.“

Wir saßen lange beisammen, in ruhiger liebevoller Stimmung. Ich drückte seine Kniee, ich vergaß das Reden über seinem Anblick, ich konnte mich an ihm nicht satt sehen. Das Gesicht so kräftig und braun und voller Falten, und jede Falte voller Ausdruck. Und in allem solche Biederkeit und Festigkeit, und solche Ruhe und Größe! Er sprach langsam und bequem, so wie man sich wohl einen bejahrten Monarchen denkt, wenn er redet. Man sah ihm an, daß er in sich selber ruhet und über Lob und Tadel erhaben ist. Es war mir bei ihm unbeschreiblich wohl; ich fühlte mich beruhigt, so wie es jemandem sein mag, der nach vieler Mühe und langem Hoffen endlich seine liebsten Wünsche befriedigt sieht.

Er kam sodann auf meinen Brief und daß ich recht habe, daß, wenn man eine Sache mit Klarheit zu behandeln vermöge, man auch zu vielen anderen Dingen tauglich sei.

”Man kann nicht wissen, wie sich das drehet und wendet,“ sagte er dann; ”ich habe manchen hübschen Freund in Berlin, da habe ich denn dieser Tage Ihrer gedacht.“

Dabei lächelte er liebevoll in sich. Er machte mich sodann aufmerksam, was ich in diesen Tagen in Weimar alles noch sehen müsse, und daß er den Herrn Sekretär Kräuter bitten wolle, mich herumzuführen. Vor allen aber solle ich ja nicht versäumen, das Theater zu besuchen. Er fragte mich darauf, wo ich logiere, und sagte, daß er mich noch einmal zu sehen wünsche und zu einer passenden Stunde senden wolle.

Mit Liebe schieden wir auseinander; ich im hohen Grade glücklich, denn aus jedem seiner Worte sprach Wohlwollen, und ich fühlte, daß er es überaus gut mit mir im Sinne habe.

Mittwoch, den 11. Juni 1823

Diesen Morgen erhielt ich abermals eine Einladung zu Goethe, und zwar mittelst einer von ihm beschriebenen Karte. Ich war darauf wieder ein Stündchen bei ihm. Er erschien mir heute ganz ein anderer als gestern, er zeigte sich in allen Dingen rasch und entschieden wie ein Jüngling.

Er brachte zwei dicke Bücher, als er zu mir hereintrat. ”Es ist nicht gut,“sagte er, ”daß Sie so rasch vorübergehen, vielmehr wird es besser sein, daß wir einander etwas näher kommen. Ich wünsche Sie mehr zu sehen und zu sprechen. Da aber das Allgemeine so groß ist, so habe ich sogleich auf etwas Besonderes gedacht, das als ein Tertium einen Verbindungs- und Besprechungspunkt abgebe. Sie finden in diesen beiden Bänden die ›Frankfurter gelehrten Anzeigen‹ der Jahre 1772 und 1773, und zwar sind auch darin fast alle meine damals geschriebenen kleinen Rezensionen. Diese sind nicht gezeichnet; doch da Sie meine Art und Denkungsweise kennen, so werden Sie sie schon aus den übrigen herausfinden. Ich möchte nun, daß Sie diese Jugendarbeiten etwas näher betrachteten und mir sagten, was Sie davon denken. Ich möchte wissen, ob sie wert sind, in eine künftige Ausgabe meiner Werke aufgenommen zu werden. Mir selber stehen diese Sachen viel zu weit ab, ich habe darüber kein Urteil. Ihr Jüngeren aber müßt wissen, ob sie für euch Wert haben und inwiefern sie bei dem jetzigen Standpunkte der Literatur noch zu gebrauchen. Ich habe bereits Abschriften nehmen lassen, die Sie dann später haben sollen, um sie mit dem Original zu vergleichen. Demnächst, bei einer sorgfältigen Redaktion, würde sich denn auch finden, ob man nicht gut tue, hie und da eine Kleinigkeit auszulassen oder nachzuhelfen, ohne im ganzen dem Charakter zu schaden.“

Ich antwortete ihm, daß ich sehr gerne mich an diesen Gegenständen versuchen wolle, und daß ich dabei weiter nichts wünsche als daß es mir gelingen möge, ganz in seinem Sinne zu handeln.

”Sowie Sie hineinkommen,“ erwiderte er, ”werden Sie finden, daß Sie der Sache vollkommen gewachsen sind; es wird Ihnen von der Hand gehen.“

Er eröffnete mir darauf, daß er in etwa acht Tagen nach Marienbad abzureisen gedenke, und daß es ihm lieb sein würde, wenn ich bis dahin noch in Weimar bliebe, damit wir uns während der Zeit mitunter sehen und sprechen und persönlich näher kommen möchten.

”Auch wünschte ich,“ fügte er hinzu, ”daß Sie in Jena nicht bloß wenige Tage oder Wochen verweilten, sondern daß Sie sich für den ganzen Sommer dort häuslich einrichteten, bis ich gegen den Herbst von Marienbad zurückkomme. Ich habe bereits gestern wegen einer Wohnung und dergleichen geschrieben, damit Ihnen alles bequem und angenehm werde.

Sie finden dort die verschiedenartigsten Quellen und Hülfsmittel für weitere Studien, auch einen sehr gebildeten geselligen Umgang; und überdies ist die Gegend so mannigfaltig, daß Sie wohl funfzig verschiedene Spaziergänge machen können, die alle angenehm und fast alle zu ungestörtem Nachdenken geeignet sind. Sie werden Muße und Gelegenheit finden, in der Zeit für sich selbst manches Neue zu schreiben und nebenbei auch meine Zwecke zu fördern.“

Ich fand gegen so gute Vorschläge nichts zu erinnern und willigte in alles mit Freuden. Als ich ging, war er besonders liebevoll; auch bestimmte er auf übermorgen eine abermalige Stunde zu einer ferneren Unterredung.

Montag, den 16. Juni 1823

Ich war in diesen Tagen wiederholt bei Goethe. Heute sprachen wir größtenteils von Geschäften. Ich äußerte mich auch über seine Frankfurter Rezensionen, die ich Nachklänge seiner akademischen Jahre nannte, welcher Ausspruch ihm zu gefallen schien, indem er den Standpunkt bezeichne, aus welchem man jene jugendlichen Arbeiten zu betrachten habe.

Er gab mir sodann die ersten eilf Hefte von ›Kunst und Altertum‹, damit ich sie neben den Frankfurter Rezensionen als eine zweite Arbeit nach Jena mit hinüber nehme.

”Ich wünsche nämlich,“ sagte er, ”daß Sie diese Hefte gut studierten und nicht allein ein allgemeines Inhaltsverzeichnis darüber machten, sondern auch aufsetzten, welche Gegenstände nicht als abgeschlossen zu betrachten sind, damit es mir vor die Augen trete, welche Fäden ich wieder aufzunehmen und weiter fortzuspinnen habe. Es wird mir dieses eine große Erleichterung sein, und Sie selber werden davon den Gewinn haben, daß Sie auf diesem praktischen Wege den Inhalt aller einzelnen Aufsätze weit schärfer ansehen und in sich aufnehmen, als es bei einem gewöhnlichen Lesen nach persönlicher Neigung zu geschehen pflegt.“

Ich fand dieses alles gut und richtig, und sagte, daß ich auch diese Arbeit gern übernehmen wolle.

Donnerstag, den 19. [?] Juni 1823

Ich wollte heute eigentlich schon in Jena sein, Goethe sagte aber gestern wünschend und bittend, daß ich doch noch bis Sonntag bleiben und dann mit der Post fahren möchte. Er gab mir gestern die Empfehlungsbriefe und auch einen für die Familie Frommann. ”Es wird Ihnen in diesem Kreise gefallen,“ sagte er, ”Ich habe dort schöne Abende verlebt. Auch Jean Paul, Tieck, die Schlegel, und was in Deutschland sonst Namen hat, ist dort gewesen und hat dort gerne verkehrt, und noch jetzt ist es der Vereinigungspunkt vieler Gelehrter und Künstler und sonst angesehener Personen. In einigen Wochen schreiben Sie mir nach Marienbad, damit ich erfahre, wie es Ihnen geht und wie es Ihnen in Jena gefällt. Auch habe ich meinem Sohn gesagt, daß er Sie während meiner Abwesenheit drüben einmal besuche.“

Ich fühlte mich Goethen für so viel Sorgfalt sehr dankbar, und es tat mir wohl, aus allem zu sehen, daß er mich zu den Seinigen zählt und mich als solchen will gehalten haben.

Sonnabend, den 21. Juni, nahm ich sodann von Goethe Abschied und fuhr des andern Tages nach Jena hinüber und richtete mich in einer Gartenwohnung ein bei sehr guten, redlichen Leuten. In den Familien des Herrn von Knebel und Frommann fand ich auf Goethes Empfehlung eine freundliche Aufnahme und einen sehr belehrenden Umgang. In den mitgenommenen Arbeiten schritt ich auf das beste vor, und überdies hatte ich bald die Freude, einen Brief von Herrn von Cotta zu erhalten, worin er sich nicht allein zum Verlage meines ihm zugegangenen Manuskriptes sehr bereit erklärte, sondern mir auch ein ansehnliches Honorar zusicherte und den Druck in Jena unter meinen Augen geschehen ließ.

So war nun meine Existenz wenigstens auf ein Jahr gedeckt, und ich fühlte den lebhaften Trieb, in dieser Zeit etwas Neues hervorzubringen und dadurch mein ferneres Glück als Autor zu begründen. Die theoretische und kritische Richtung hoffte ich durch die Aufsätze meiner ›Beiträge zur Poesie‹ ein für allemal hinter mir zu haben; ich hatte mich dadurch über die vorzüglichsten Gesetze aufzuklären gesucht, und meine ganze innere Natur drängte mich nun zur praktischen Ausübung. Ich hatte Pläne zu unzähligen Gedichten, größeren und kleineren, auch zu dramatischen Gegenständen verschiedener Art, und es handelte sich nach meinem Gefühl jetzt bloß darum, wohin ich mich wenden sollte, um mit einigem Behagen eins nach dein andern ruhig ans Licht zu bringen.

In Jena gefiel es mir auf die Länge nicht; es war mir zu stille und einförmig. Ich verlangte nach einer großen Stadt, die nicht allein ein vorzügliches Theater besitze, sondern wo sich auch ein freies großes Volksleben entwickele, damit ich bedeutende Lebenselemente in mich aufzunehmen und meine innere Kultur auf das rascheste zu steigern vermöge. In einer solchen Stadt hoffte ich zugleich ganz unbemerkt leben und mich zu jeder Zeit zu einer ganz ungestörten Produktion isolieren zu können.

Ich hatte indessen das von Goethe gewünschte Inhaltsverzeichnis der ersten vier Bände von ›Kunst und Altertum‹ entworfen und sendete es ihm mit einem Brief nach Marienbad, worin ich meine Wünsche und Pläne ganz offen aussprach. Ich erhielt darauf alsobald die folgenden Zeilen:

”Das Inhaltsverzeichnis ist mir zur rechten Zeit gekommen und entspricht ganz meinen Wünschen und Zwecken. Lassen Sie mich die Frankfurter Rezensionen bei meiner Rückkehr auf gleiche Weise redigiert finden, so zolle den besten Dank, welchen ich vorläufig schon im stillen entrichte, indem ich Ihre Gesinnungen, Zustände, Wünsche, Zwecke und Pläne mit mir teilnehmend herumtrage, um bei meiner Rückkunft mich über Ihr Wohl desto gründlicher besprechen zu können. Mehr sag ich heute nicht. Der Abschied von Marienbad gibt mancherlei zu denken und zu tun, während man ein allzu kurzes Verweilen mit vorzüglichen Menschen gar schmerzlich empfindet.

Möge ich Sie in stiller Tätigkeit antreffen, aus der denn doch zuletzt am sichersten und reinsten Weltumsicht und Erfahrung hervorgeht. Leben Sie wohl; freue mich auf ein längeres und engeres Zusammensein.

Marienbad, den 14. August 1823.

Goethe.“

Durch solche Zeilen Goethes, deren Empfang mich im hohen Grade beglückte, fühlte ich mich nun vorläufig wieder beruhigt. Ich ward dadurch entschieden, keinen eigenmächtigen Schritt zu tun, sondern mich ganz seinem Rat und Willen zu überlassen. Ich schrieb indes einige kleine Gedichte, beendigte die Redaktion der Frankfurter Rezensionen und sprach meine Ansicht darüber in einer kurzen Abhandlung aus, die ich für Goethe bestimmte. Seiner Zurückkunft aus Marienbad sah ich mit Sehnsucht entgegen, indem auch der Druck meiner ›Beiträge zur Poesie‹ sich zu Ende neigte, und ich auf alle Fälle zu einiger Erfrischung noch diesen Herbst eine kurze Ausflucht von wenigen Wochen an den Rhein zu machen wünschte.

Jena, Montag, den 15. September 1823

Goethe ist von Marienbad glücklich zurückgekommen, wird aber, da seine hiesige Gartenwohnung nicht die erforderliche Bequemlichkeit darbietet, hier nur wenige Tage verweilen. Er ist wohl und rüstig, so daß er einen Weg von mehreren Stunden zu Fuß machen kann, und es eine wahre Freude ist, ihn anzusehen.

Nach einem beiderseitigen fröhlichen Begrüßen fing Goethe sogleich an über meine Angelegenheit zu reden.

”Ich muß geradeheraus sagen,“ begann er, ”ich wünsche, daß Sie diesen Winter bei mir in Weimar bleiben.“ Dies waren seine ersten Worte, dann ging er näher ein und fuhr fort: ”In der Poesie und Kritik steht es mit Ihnen aufs beste, Sie haben darin ein natürliches Fundament; das ist Ihr Metier, woran Sie sich zu halten haben und welches Ihnen auch sehr bald eine tüchtige Existenz zuwege bringen wird. Nun ist aber noch manches, was nicht eigentlich zum Fache gehört und was Sie doch auch wissen müssen. Es kommt aber darauf an, daß Sie hiebei nicht lange Zeit verlieren sondern schnell darüber hinwegkommen. Das sollen Sie nun diesen Winter bei uns in Weimar, und Sie sollen sich wundern, wie weit Sie Ostern sein werden. Sie sollen von allem das Beste haben, weil die besten Hülfsmittel in meinen Händen sind. Dann stehen Sie fürs Leben fest und kommen zum Behagen und können überall mit Zuversicht auftreten.“

Ich freute mich dieser Vorschläge und sagte, daß ich mich ganz seinen Ansichten und Wünschen überlassen wolle.

”Für eine Wohnung in meiner Nähe“, fuhr Goethe fort, ”werde ich sorgen; Sie sollen den ganzen Winter keinen Jena, Donnerstag, den 18. September 1823

Gestern morgen, vor Goethes Abreise nach Weimar, war ich so glücklich, wieder ein Stündchen bei ihm zu sein. Und da führte er ein höchst bedeutendes Gespräch, was für mich ganz unschätzbar ist und mir auf mein ganzes Leben wohltut. Alle jungen Dichter in Deutschland müßten es wissen, es könnte ihnen helfen.

Er leitete das Gespräch ein, indem er mich fragte, ob ich diesen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich antwortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im ganzen dazu an Behagen gefehlt. ”Nehmen Sie sich in acht“, sagte er darauf, ”vor einer großen Arbeit. Das ists eben, woran unsere Besten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiste Talent und das tüchtigste Streben vorhanden. Ich habe auch daran gelitten und weiß, was es mir geschadet hat. Was ist da nicht alles in den Brunnen gefallen! Wenn ich alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen können, es würden keine hundert Bände reichen.

Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt, das will und soll ausgesprochen sein. Hat man aber ein größeres Werk im Kopfe, so kann nichts daneben aufkommen, so werden alle Gedanken zurückgewiesen, und man ist für die Behaglichkeit des Lebens selbst so lange verloren. Welche Anstrengung und Verwendung von Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Ganzes in sich zu ordnen und abzurunden, und welche Kräfte und welche ruhige ungestörte Lage im Leben, um es dann in einem Fluß gehörig auszusprechen. Hat man sich nun im Ganzen vergriffen, so ist alle Mühe verloren; ist man ferner, bei einem so umfangreichen Gegenstande, in einzelnen Teilen nicht völlig Herr seines Stoffes, so wird das Ganze stellenweise mangelhaft werden, und man wird gescholten; und aus allem entspringt für den Dichter statt Belohnung und Freude für so viele Mühe und Aufopferung nichts als Unbehagen und Lähmung der Kräfte. Faßt dagegen der Dichter täglich die Gegenwart auf, und behandelt er immer gleich in frischer Stimmung, was sich ihm darbietet, so macht er sich immer etwas Gutes, und gelingt ihm auch einmal etwas nicht, so ist nichts daran verloren.

Da ist der August Hagen in Königsberg, ein herrliches Talent; haben Sie seine ›Olfried und Lisena‹ gelesen ? Da sind Stellen darin, wie sie nicht besser sein können; die Zustände an der Ostsee, und was sonst in dortige Lokalität hineinschlägt, alles meisterhaft. Aber es sind nur schöne Stellen, als Ganzes will es niemanden behagen. Und welche Mühe und welche Kräfte hat er daran verwendet! ja er hat sich fast daran erschöpft. Jetzt hat er ein Trauerspiel gemacht!“

Dabei lächelte Goethe und hielt einen Augenblick inne. Ich nahm das Wort und sagte, daß, wenn ich nicht irre, er Hagen in ›Kunst und Altertum‹ geraten, nur kleine Gegenstände zu behandeln. ”Freilich habe ich das,“ erwiderte Goethe; ”aber tut man denn, was wir Alten sagen? Jeder glaubt, er müsse es doch selber am besten wissen, und dabei geht mancher verloren, und mancher hat lange daran zu irren. Es ist aber jetzt keine Zeit mehr zum Irren, dazu sind wir Alten gewesen; und was hätte uns alle unser Suchen und Irren geholfen, wenn ihr jüngeren Leute wieder dieselbigen Wege laufen wolltet? Da kämen wir ja nie weiter! Uns Alten rechnet man den Irrtum zugute, weil wir die Wege nicht gebahnt fanden; wer aber später in die Welt eintritt, von dem verlangt man mehr, der soll nicht abermals irren und suchen, sondern er soll den Rat der Alten nutzen und gleich auf gutem Wege fortschreiten. Es soll nicht genügen, daß man Schritte tue, die einst zum Ziele führen, sondern jeder Schritt soll Ziel sein und als Schritt gelten.

Tragen Sie diese Worte bei sich herum, und sehen Sie zu, was Sie davon mit sich vereinigen können. Es ist mir eigentlich um Sie nicht bange, aber ich helfe Sie durch mein Zureden vielleicht schnell über eine Periode hinweg, die Ihrer jetzigen Lage nicht gemäß ist. Machen Sie vorderhand, wie gesagt, immer nur kleine Gegenstände, immer alles frischweg, was sich Ihnen täglich darbietet, so werden Sie in der Regel immer etwas Gutes leisten, und jeder Tag wird Ihnen Freude bringen. Geben Sie es zunächst in die Taschenbücher, in die Zeitschriften; aber fügen Sie sich nie fremden Anforderungen, sondern machen Sie es immer nach Ihrem eigenen Sinn.

Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte ich nichts.

Man sage nicht, daß es der Wirklichkeit an poetischem Interesse fehle; denn eben darin bewährt sich ja der Dichter, daß er geistreich genug sei, einem gewöhnlichen Gegenstande eine interessante Seite abzugewinnen. Die Wirklichkeit soll die Motive hergeben, die auszusprechenden Punkte, den eigentlichen Kern; aber ein schönes belebtes Ganzes daraus zu bilden, ist Sache des Dichters. Sie kennen den Fürnstein, den sogenannten Naturdichter, er hat ein Gedicht gemacht über den Hopfenbau, es läßt sich nicht artiger machen. Jetzt habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben, besonders ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen wird; denn er hat von Jugend auf unter solchen Leuten gelebt, er kennt den Gegenstand durch und durch, er wird Herr seines Stoffes sein. Und das ist eben der Vorteil bei kleinen Sachen, daß man nur solche Gegenstände zu wählen braucht und wählen wird, die man kennet, von denen man Herr ist. Bei einem großen dichterischen Werk geht das aber nicht, da läßt sich nicht ausweichen, alles, was zur Verknüpfung des Ganzen gehört und in den Plan hinein mit verflochten ist, muß dargestellt werden, und zwar mit getroffener Wahrheit. Bei der Jugend aber ist die Kenntnis der Dinge noch einseitig; ein großes Werk aber erfordert Vielseitigkeit, und daran scheitert man.“

Ich sagte Goethen, daß ich im Willen gehabt, ein großes Gedicht über die Jahreszeiten zu machen und die Beschäftigungen und Belustigungen aller Stände hineinzuverflechten. ”Hier ist derselbige Fall,“ sagte Goethe darauf ”es kann Ihnen vieles daran gelingen, aber manches, was Sie vielleicht noch nicht gehörig durchforscht haben und kennen, gelingt Ihnen nicht. Es gelingt Ihnen vielleicht der Fischer, aber der Jäger vielleicht nicht. Gerät aber am Ganzen etwas nicht, so ist es als Ganzes mangelhaft, so gut einzelne Partien auch sein mögen, und Sie haben nichts Vollendetes geleistet. Stellen Sie aber bloß die einzelnen Partien für sich selbständig dar, denen Sie gewachsen sind, so machen Sie sicher etwas Gutes.

Besonders warne ich vor eigenen großen Erfindungen; denn da will man eine Ansicht der Dinge geben, und die ist in der Jugend selten reif. Ferner: Charaktere und Ansichten lösen sich als Seiten des Dichters von ihm ab und berauben ihn für fernere Produktionen der Fülle. Und endlich: welche Zeit geht nicht an der Erfindung und inneren Anordnung und Verknüpfung verloren, worauf uns niemand etwas zugute tut, vorausgesetzt, daß wir überhaupt mit unserer Arbeit zustande kommen.

Bei einem gegebenen Stoff hingegen ist alles anders und leichter. Da werden Fakta und Charaktere überliefert, und der Dichter hat nur die Belebung des Ganzen. Auch bewahrt er dabei seine eigene Fülle, denn er braucht nur wenig von dem Seinigen hinzuzutun auch ist der Verlust von Zeit und Kräften bei weitem geringer, denn er hat nur die Mühe der Ausführung. Ja, ich rate sogar zu schon bearbeiteten Gegenständen. Wie oft ist nicht die Iphigenie gemacht, und doch sind alle verschieden; denn jeder sieht und stellt die Sachen anders, eben nach seiner Weise.

Aber lassen Sie vorderhand alles Große zur Seite. Sie haben lange genug gestrebt, es ist Zeit, daß Sie zur Heiterkeit des Lebens gelangen, und dazu eben ist die Bearbeitung kleiner Gegenstände das beste Mittel.“

Wir waren bei diesem Gespräch in seiner Stube auf und ab gegangen; ich konnte immer nur zustimmen, denn ich fühlte die Wahrheit eines jeden Wortes in meinem ganzen Wesen. Bei jedem Schritt ward es mir leichter und glücklicher, denn ich will nur gestehen, daß verschiedene größere Pläne, womit ich bis jetzt nicht recht ins klare kommen konnte, mir keine geringe Last gewesen sind. Jetzt habe ich sie von mir geworfen, und sie mögen nun ruhen, bis ich einmal einen Gegenstand und eine Partie nach der andern mit Heiterkeit wieder aufnehme und hinzeichne, so wie ich nach und nach durch Erforschung der Welt von den einzelnen Teilen des Stoffes Meister werde.

Ich fühle mich nun durch Goethes Worte um ein paar Jahre klüger und fortgerückt und weiß in meiner tiefsten Seele das Glück zu erkennen, was es sagen will, wenn man einmal mit einem rechten Meister zusammentrifft. Der Vorteil ist gar nicht zu berechnen.

Was werde ich nun diesen Winter nicht noch bei ihm lernen, und was werde ich nicht durch den bloßen Umgang mit ihm gewinnen, auch in Stunden, wenn er eben nicht grade etwas Bedeutendes spricht! – Seine Person, seine bloße Nähe scheint mir bildend zu sein, selbst wenn er kein Wort sagte.

unbedeutenden Moment haben. Es ist in Weimar noch viel Gutes beisammen, und Sie werden nach und nach in den höhren Kreisen eine Gesellschaft finden, die den besten aller großen Städte gleichkommt. Auch sind mit mir persönlich ganz vorzügliche Männer verbunden, deren Bekanntschaft Sie nach und nach machen werden und deren Umgang Ihnen im hohen Grade lehrreich und nützlich sein wird.“

Goethe nannte mir verschiedene angesehene Namen und bezeichnete mit wenigen Worten die besonderen Verdienste jedes einzelnen.

”Wo finden Sie“, fuhr er fort, ”auf einem so engen Fleck noch so viel Gutes! Auch besitzen wir eine ausgesuchte Bibliothek und ein Theater, was den besten anderer deutschen Städte in den Hauptsachen keineswegs nachsteht. Ich wiederhole daher: bleiben Sie bei uns, und nicht bloß diesen Winter, wählen Sie Weimar zu Ihrem Wohnort. Es gehen von dort die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt. Im Sommer machen Sie Reisen und sehen nach und nach, was Sie zu sehen wünschen. Ich bin seit funfzig Jahren dort, und wo bin ich nicht überall gewesen! – Aber ich bin immer gerne nach Weimar zurückgekehrt.“

Ich war beglückt, Goethen wieder nahe zu sein und ihn wieder reden zu hören, und ich fühlte mich ihm mit meinem ganzen Innern hingegeben. Wenn ich nur dich habe und haben kann, dachte ich, so wird mir alles übrige recht sein. Ich wiederholte ihm daher, daß ich bereit sei, alles zu tun, was er in Erwägung meiner besonderen Lage nur irgend für gut halte.

Jena, Donnerstag, den 18. September 1823

Gestern morgen, vor Goethes Abreise nach Weimar, war ich so glücklich, wieder ein Stündchen bei ihm zu sein. Und da führte er ein höchst bedeutendes Gespräch, was für mich ganz unschätzbar ist und mir auf mein ganzes Leben wohltut. Alle jungen Dichter in Deutschland müßten es wissen, es könnte ihnen helfen.

Er leitete das Gespräch ein, indem er mich fragte, ob ich diesen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich antwortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir aber im ganzen dazu an Behagen gefehlt. ”Nehmen Sie sich in acht“, sagte er darauf, ”vor einer großen Arbeit. Das ists eben, woran unsere Besten leiden, gerade diejenigen, in denen das meiste Talent und das tüchtigste Streben vorhanden. Ich habe auch daran gelitten und weiß, was es mir geschadet hat. Was ist da nicht alles in den Brunnen gefallen! Wenn ich alles gemacht hätte, was ich recht gut hätte machen können, es würden keine hundert Bände reichen.

Die Gegenwart will ihre Rechte; was sich täglich im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdrängt, das will und soll ausgesprochen sein. Hat man aber ein größeres Werk im Kopfe, so kann nichts daneben aufkommen, so werden alle Gedanken zurückgewiesen, und man ist für die Behaglichkeit des Lebens selbst so lange verloren. Welche Anstrengung und Verwendung von Geisteskraft gehört nicht dazu, um nur ein großes Ganzes in sich zu ordnen und abzurunden, und welche Kräfte und welche ruhige ungestörte Lage im Leben, um es dann in einem Fluß gehörig auszusprechen. Hat man sich nun im Ganzen vergriffen, so ist alle Mühe verloren; ist man ferner, bei einem so umfangreichen Gegenstande, in einzelnen Teilen nicht völlig Herr seines Stoffes, so wird das Ganze stellenweise mangelhaft werden, und man wird gescholten; und aus allem entspringt für den Dichter statt Belohnung und Freude für so viele Mühe und Aufopferung nichts als Unbehagen und Lähmung der Kräfte. Faßt dagegen der Dichter täglich die Gegenwart auf, und behandelt er immer gleich in frischer Stimmung, was sich ihm darbietet, so macht er sich immer etwas Gutes, und gelingt ihm auch einmal etwas nicht, so ist nichts daran verloren.

Da ist der August Hagen in Königsberg, ein herrliches Talent; haben Sie seine ›Olfried und Lisena‹ gelesen ? Da sind Stellen darin, wie sie nicht besser sein können; die Zustände an der Ostsee, und was sonst in dortige Lokalität hineinschlägt, alles meisterhaft. Aber es sind nur schöne Stellen, als Ganzes will es niemanden behagen. Und welche Mühe und welche Kräfte hat er daran verwendet! ja er hat sich fast daran erschöpft. Jetzt hat er ein Trauerspiel gemacht!“

Dabei lächelte Goethe und hielt einen Augenblick inne. Ich nahm das Wort und sagte, daß, wenn ich nicht irre, er Hagen in ›Kunst und Altertum‹ geraten, nur kleine Gegenstände zu behandeln. ”Freilich habe ich das,“ erwiderte Goethe; ”aber tut man denn, was wir Alten sagen? Jeder glaubt, er müsse es doch selber am besten wissen, und dabei geht mancher verloren, und mancher hat lange daran zu irren. Es ist aber jetzt keine Zeit mehr zum Irren, dazu sind wir Alten gewesen; und was hätte uns alle unser Suchen und Irren geholfen, wenn ihr jüngeren Leute wieder dieselbigen Wege laufen wolltet? Da kämen wir ja nie weiter! Uns Alten rechnet man den Irrtum zugute, weil wir die Wege nicht gebahnt fanden; wer aber später in die Welt eintritt, von dem verlangt man mehr, der soll nicht abermals irren und suchen, sondern er soll den Rat der Alten nutzen und gleich auf gutem Wege fortschreiten. Es soll nicht genügen, daß man Schritte tue, die einst zum Ziele führen, sondern jeder Schritt soll Ziel sein und als Schritt gelten.

Tragen Sie diese Worte bei sich herum, und sehen Sie zu, was Sie davon mit sich vereinigen können. Es ist mir eigentlich um Sie nicht bange, aber ich helfe Sie durch mein Zureden vielleicht schnell über eine Periode hinweg, die Ihrer jetzigen Lage nicht gemäß ist. Machen Sie vorderhand, wie gesagt, immer nur kleine Gegenstände, immer alles frischweg, was sich Ihnen täglich darbietet, so werden Sie in der Regel immer etwas Gutes leisten, und jeder Tag wird Ihnen Freude bringen. Geben Sie es zunächst in die Taschenbücher, in die Zeitschriften; aber fügen Sie sich nie fremden Anforderungen, sondern machen Sie es immer nach Ihrem eigenen Sinn.

Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus der Luft gegriffen, halte ich nichts.

Man sage nicht, daß es der Wirklichkeit an poetischem Interesse fehle; denn eben darin bewährt sich ja der Dichter, daß er geistreich genug sei, einem gewöhnlichen Gegenstande eine interessante Seite abzugewinnen. Die Wirklichkeit soll die Motive hergeben, die auszusprechenden Punkte, den eigentlichen Kern; aber ein schönes belebtes Ganzes daraus zu bilden, ist Sache des Dichters. Sie kennen den Fürnstein, den sogenannten Naturdichter, er hat ein Gedicht gemacht über den Hopfenbau, es läßt sich nicht artiger machen. Jetzt habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben, besonders ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen wird; denn er hat von Jugend auf unter solchen Leuten gelebt, er kennt den Gegenstand durch und durch, er wird Herr seines Stoffes sein. Und das ist eben der Vorteil bei kleinen Sachen, daß man nur solche Gegenstände zu wählen braucht und wählen wird, die man kennet, von denen man Herr ist. Bei einem großen dichterischen Werk geht das aber nicht, da läßt sich nicht ausweichen, alles, was zur Verknüpfung des Ganzen gehört und in den Plan hinein mit verflochten ist, muß dargestellt werden, und zwar mit getroffener Wahrheit. Bei der Jugend aber ist die Kenntnis der Dinge noch einseitig; ein großes Werk aber erfordert Vielseitigkeit, und daran scheitert man.“

Ich sagte Goethen, daß ich im Willen gehabt, ein großes Gedicht über die Jahreszeiten zu machen und die Beschäftigungen und Belustigungen aller Stände hineinzuverflechten. ”Hier ist derselbige Fall,“ sagte Goethe darauf ”es kann Ihnen vieles daran gelingen, aber manches, was Sie vielleicht noch nicht gehörig durchforscht haben und kennen, gelingt Ihnen nicht. Es gelingt Ihnen vielleicht der Fischer, aber der Jäger vielleicht nicht. Gerät aber am Ganzen etwas nicht, so ist es als Ganzes mangelhaft, so gut einzelne Partien auch sein mögen, und Sie haben nichts Vollendetes geleistet. Stellen Sie aber bloß die einzelnen Partien für sich selbständig dar, denen Sie gewachsen sind, so machen Sie sicher etwas Gutes.

Besonders warne ich vor eigenen großen Erfindungen; denn da will man eine Ansicht der Dinge geben, und die ist in der Jugend selten reif. Ferner: Charaktere und Ansichten lösen sich als Seiten des Dichters von ihm ab und berauben ihn für fernere Produktionen der Fülle. Und endlich: welche Zeit geht nicht an der Erfindung und inneren Anordnung und Verknüpfung verloren, worauf uns niemand etwas zugute tut, vorausgesetzt, daß wir überhaupt mit unserer Arbeit zustande kommen.

Bei einem gegebenen Stoff hingegen ist alles anders und leichter. Da werden Fakta und Charaktere überliefert, und der Dichter hat nur die Belebung des Ganzen. Auch bewahrt er dabei seine eigene Fülle, denn er braucht nur wenig von dem Seinigen hinzuzutun auch ist der Verlust von Zeit und Kräften bei weitem geringer, denn er hat nur die Mühe der Ausführung. Ja, ich rate sogar zu schon bearbeiteten Gegenständen. Wie oft ist nicht die Iphigenie gemacht, und doch sind alle verschieden; denn jeder sieht und stellt die Sachen anders, eben nach seiner Weise.

Aber lassen Sie vorderhand alles Große zur Seite. Sie haben lange genug gestrebt, es ist Zeit, daß Sie zur Heiterkeit des Lebens gelangen, und dazu eben ist die Bearbeitung kleiner Gegenstände das beste Mittel.“

Wir waren bei diesem Gespräch in seiner Stube auf und ab gegangen; ich konnte immer nur zustimmen, denn ich fühlte die Wahrheit eines jeden Wortes in meinem ganzen Wesen. Bei jedem Schritt ward es mir leichter und glücklicher, denn ich will nur gestehen, daß verschiedene größere Pläne, womit ich bis jetzt nicht recht ins klare kommen konnte, mir keine geringe Last gewesen sind. Jetzt habe ich sie von mir geworfen, und sie mögen nun ruhen, bis ich einmal einen Gegenstand und eine Partie nach der andern mit Heiterkeit wieder aufnehme und hinzeichne, so wie ich nach und nach durch Erforschung der Welt von den einzelnen Teilen des Stoffes Meister werde.

Ich fühle mich nun durch Goethes Worte um ein paar Jahre klüger und fortgerückt und weiß in meiner tiefsten Seele das Glück zu erkennen, was es sagen will, wenn man einmal mit einem rechten Meister zusammentrifft. Der Vorteil ist gar nicht zu berechnen.

Was werde ich nun diesen Winter nicht noch bei ihm lernen, und was werde ich nicht durch den bloßen Umgang mit ihm gewinnen, auch in Stunden, wenn er eben nicht grade etwas Bedeutendes spricht! – Seine Person, seine bloße Nähe scheint mir bildend zu sein, selbst wenn er kein Wort sagte.

Weimar, Donnerstag, den 2. Oktober 1823

Bei sehr freundlichem Wetter bin ich gestern von Jena herübergefahren. Gleich nach meiner Ankunft sendete mir Goethe, zum Willkommen in Weimar, ein Abonnement ins Theater. Ich benutzte den gestrigen Tag zu meiner häuslichen Einrichtung, da ohnehin im Goetheschen Hause viel Bewegung war, indem der französische Gesandte Graf Reinhard aus Frankfurt und der preußische Staatsrat Schultz aus Berlin gekommen waren, ihn zu besuchen.

Diesen Vormittag war ich dann bei Goethe. Er freute sich über meine Ankunft und war überaus gut und liebenswürdig. Als ich gehen wollte, sagte er, daß er mich doch zuvor mit dem Staatsrat Schultz bekannt machen wolle. Er führte mich in das angrenzende Zimmer, wo ich den gedachten Herrn mit Betrachtung von Kunstwerken beschäftigt fand, und wo er mich ihm vorstellte und uns dann zu weiterem Gespräch allein ließ.

”Es ist sehr erfreulich,“ sagte Schultz darauf, ”daß Sie in Weimar bleiben und Goethe bei der Redaktion seiner bisher ungedruckten Schriften unterstützen wollen. Er hat mir schon gesagt, welchen Gewinn er sich von Ihrer Mitwirkung verspricht, und daß er nun auch noch manches Neue zu vollenden hofft.“

Ich antwortete ihm, daß ich keinen anderen Lebenszweck habe, als der deutschen Literatur nützlich zu sein, und daß ich, in der Hoffnung hier wohltätig einzuwirken, gerne meine eigenen literarischen Vorsätze vorläufig zurückstehen lassen wolle. Auch würde, fügte ich hinzu, ein praktischer Verkehr mit Goethe höchst wohltätig auf meine fernere Ausbildung wirken, ich hoffe dadurch nach einigen Jahren eine gewisse Reife zu erlangen, und sodann weit besser zu vollbringen, was ich jetzt nur in geringerem Grade zu tun imstande wäre.

”Gewiß“, sagte Schultz, ”ist die persönliche Einwirkung eines so außerordentlichen Menschen und Meisters wie Goethe ganz unschätzbar. Ich bin auch herübergekommen, um mich an diesem großen Geiste einmal wieder zu erquicken.“

Er erkundigte sich sodann nach dem Druck meines Buches, wovon Goethe ihm schon im vorigen Sommer geschrieben. Ich sagte ihm, daß ich in einigen Tagen die ersten Exemplare von Jena zu bekommen hoffe, und daß ich nicht verfehlen würde, ihm eins zu verehren und nach Berlin zu schicken, im Fall er nicht mehr hier sein sollte,

Wir schieden darauf unter herzlichem Händedrücken.

Dienstag, den 14. Oktober 1823

Diesen Abend war ich bei Goethe das erste Mal zu einem großen Tee. Ich war der erste am Platz und freute mich über die hellerleuchteten Zimmer, die bei offenen Türen eins ins andere führten. In einem der letzten fand ich Goethe, der mir sehr heiter entgegenkam. Er trug auf schwarzem Anzug seinen Stern, welches ihn so wohl kleidete. Wir waren noch eine Weile allein und gingen in das sogenannte Deckenzimmer, wo das über einem roten Kanapee hängende Gemälde der Aldobrandinischen Hochzeit mich besonders anzog. Das Bild war, bei zur Seite geschobenen grünen Vorhängen, in voller Beleuchtung mir vor Augen, und ich freute mich, es in Ruhe zu betrachten.

”Ja,“ sagte Goethe, ”die Alten hatten nicht allein große Intentionen, sondern es kam bei ihnen auch zur Erscheinung. Dagegen haben wir Neueren auch wohl große Intentionen, allein wir sind selten fähig, es so kräftig und lebensfrisch hervorzubringen, als wir es uns dachten.“

Nun kam auch Riemer und Meyer, auch der Kanzler von Müller und mehrere andere angesehene Herren und Damen von Hofe. Auch Goethes Sohn trat herein und Frau von Goethe, deren Bekanntschaft ich hier zuerst machte. Die Zimmer füllten sich nach und nach, und es ward in allen sehr munter und lebendig. Auch einige hübsche junge Ausländer waren gegenwärtig, mit denen Goethe französisch sprach.

Die Gesellschaft gefiel mir, es war alles so frei und ungezwungen, man stand, man saß, man scherzte, man lachte und sprach mit diesem und jenem, alles nach freier Neigung. Ich sprach mit dem jungen Goethe sehr lebendig über das ›Bild‹ von Houwald, welches vor einigen Tagen gegeben worden. Wir waren über das Stück einer Meinung, und ich freute mich, wie der junge Goethe die Verhältnisse mit so vielem Geist und Feuer auseinander zu setzen wußte.

Goethe selbst erschien in der Gesellschaft sehr liebenswürdig. Er ging bald zu diesem und zu jenem und schien immer lieber zu hören und seine Gäste reden zu lassen, als selber viel zu reden. Frau von Goethe kam oft und hängte und schmiegte sich an ihn und küßte ihn. Ich hatte ihm vor kurzem gesagt, daß mir das Theater so große Freude mache und daß es mich sehr aufheitere, indem ich mich bloß dem Eindruck der Stücke hingebe, ohne darüber viel zu denken. Dies schien ihm recht und für meinen gegenwärtigen Zustand passend zu sein.

Er trat mit Frau von Goethe zu mir heran. ”Das ist meine Schwiegertochter,“ sagte er; ”kennt ihr beiden euch schon?“ Wir sagten ihm, daß wir soeben unsere Bekanntschaft gemacht. ”Das ist auch so ein Theaterkind wie du, Ottilie“, sagte er dann, und wir freuten uns miteinander über unsere beiderseitige Neigung. ”Meine Tochter“, fügte er hinzu, ”versäumt keinen Abend.“ – ”Solange gute heitere Stücke gegeben werden,“ erwiderte ich, ”lasse ich es gelten, allein bei schlechten Stücken muß man auch etwas aushalten.“ – ”Das ist eben recht,“erwiderte Goethe, ”daß man nicht fort kann und gezwungen ist auch das Schlechte zu hören und zu sehen. Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durchdrungen und kommt dadurch zu einer desto besseren Einsicht des Guten. Beim Lesen ist das nicht so, da wirft man das Buch aus den Händen, wenn es einem nicht gefällt, aber im Theater muß man aushalten.“ Ich gab ihm recht und dachte, der Alte sagt auch gelegentlich immer etwas Gutes.

Wir trennten uns und mischten uns unter die übrigen, die sich um uns herum und in diesem und jenem Zimmer laut und lustig unterhielten. Goethe begab sich zu den Damen; ich gesellte mich zu Riemer und Meyer, die uns viel von Italien erzählten.

Regierungsrat Schmidt setzte sich später zum Flügel und trug Beethovensche Sachen vor, welche die Anwesenden mit innigem Anteil aufzunehmen schienen. Eine geistreiche Dame erzählte darauf viel Interessantes von Beethovens Persönlichkeit. Und so ward es nach und nach zehn Uhr, und es war mir der Abend im hohen Grade angenehm vergangen.

Diesen Mittag war ich das erste Mal bei Goethe zu Tisch. Es waren außer ihm nur Frau von Goethe, Fräulein Ulrike und der kleine Walter gegenwärtig, und wir waren also bequem unter uns, Goethe zeigte sich ganz als Familienvater, er legte alle Gerichte vor, tranchierte gebratenes Geflügel, und zwar mit besonderem Geschick, und verfehlte auch nicht, mitunter einzuschenken. Wir anderen schwatzten munteres Zeug über Theater, junge Engländer und andere Vorkommnisse des Tages; besonders war Fräulein Ulrike sehr heiter und im hohen Grade unterhaltend. Goethe war im ganzen still, indem er nur von Zeit zu Zeit als Zwischenbemerkung mit etwas Bedeutendem hervorkam. Dabei blickte er hin und wieder in die Zeitungen und teilte uns einige Stellen mit, besonders über die Fortschritte der Griechen.

Es kam dann zur Sprache, daß ich noch Englisch lernen müsse, wozu Goethe dringend riet, besonders des Lord Byron wegen, dessen Persönlichkeit von solcher Eminenz, wie sie nicht dagewesen und wohl schwerlich wiederkommen werde. Man ging die hiesigen Lehrer durch, fand aber keinen von einer durchaus guten Aussprache, weshalb man es für besser hielt, sich an junge Engländer zu halten.

Nach Tisch zeigte Goethe mir einige Experimente in bezug auf die Farbenlehre. Der Gegenstand war mir jedoch durchaus fremd, ich verstand so wenig das Phänomen als das, was er darüber sagte; doch hoffte ich, daß die Zukunft mir Muße und Gelegenheit geben würde, in dieser Wissenschaft einigermaßen einheimisch zu werden.

Dienstag, den 21. Oktober 1823

Ich war diesen Abend bei Goethe. Wir sprachen über die ›Pandora‹. Ich fragte ihn, ob man diese Dichtung wohl als ein Ganzes ansehen könne, oder ob noch etwas weiteres davon existiere. Er sagte, es sei weiter nichts vorhanden, er habe es nicht weiter gemacht, und zwar deswegen nicht, weil der Zuschnitt des ersten Teiles so groß geworden, daß er später einen zweiten nicht habe durchführen können. Auch wäre das Geschriebene recht gut als ein Ganzes zu betrachten, weshalb er sich auch dabei beruhiget habe.

Ich sagte ihm, daß ich bei dieser schweren Dichtung erst nach und nach zum Verständnis durchgedrungen, nachdem ich sie so oft gelesen, daß ich sie nun fast auswendig wisse. Darüber lächelte Goethe. ”Das glaube ich wohl,“ sagte er, ”es ist alles als wie ineinander gekeilt.“

Ich sagte ihm, daß ich wegen dieses Gedichts nicht ganz mit Schubarth zufrieden, der darin alles das vereinigt finden wolle, was im ›Werther‹, ›Wilhelm Meister‹, ›Faust‹ und ›Wahlverwandtschaften‹ einzeln ausgesprochen sei, wodurch doch die Sache sehr unfaßlich und schwer werde.

”Schubarth“, sagte Goethe, ”geht oft ein wenig tief; doch ist er sehr tüchtig, es ist bei ihm alles prägnant.“

Wir sprachen über Uhland. ”Wo ich große Wirkungen sehe,“ sagte Goethe, ”pflege ich auch große Ursachen vorauszusetzen, und bei der so sehr verbreiteten Popularität, die Uhland genießt, muß also wohl etwas Vorzügliches an ihm sein. übrigens habe ich über seine ›Gedichte‹ kaum ein Urteil. Ich nahm den Band mit der besten Absicht zu Händen, allein ich stieß von vorne herein gleich auf so viele schwache und trübselige Gedichte, daß mir das Weiterlesen verleidet wurde. Ich griff dann nach seinen Balladen, wo ich denn freilich ein vorzügliches Talent gewahr wurde und recht gut sah, daß sein Ruhm einigen Grund hat.“

Ich fragte darauf Goethe um seine Meinung hinsichtlich der Verse zur deutschen Tragödie. ”Man wird sich in Deutschland“, antwortete er, ”schwerlich darüber vereinigen. Jeder macht's wie er eben will und wie es dem Gegenstande einigermaßen gemäß ist. Der sechsfüßige Jambus wäre freilich am würdigsten, allein er ist für uns Deutsche zu lang; wir sind wegen der mangelnden Beiwörter gewöhnlich schon mit fünf Füßen fertig. Die Engländer reichen wegen ihrer vielen einsilbigen Wörter noch weniger.“

Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und sprach dann über die altdeutsche Baukunst, und daß er mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.

”Man sieht in den Werken der altdeutschen Baukunst“, sagte er, ”die Blüte eines außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüte unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und wie sich die Blüte nach und nach entwickelt, der sieht die Sache mit ganz anderen Augen, der weiß, was er sieht.

Ich will dafür sorgen, daß Sie im Lauf dieses Winters in diesem wichtigen Gegenstande einige Einsicht erlangen, damit, wenn Sie nächsten Sommer an den Rhein gehen, es Ihnen beim Straßburger Münster und Kölner Dom zugute komme.“

Ich freute mich dazu und fühlte mich ihm dankbar.

Sonnabend, den 25. Oktober 1823

In der Dämmerung war ich ein halbes Stündchen bei Goethe. Er saß auf einem hölzernen Lehnstuhl vor seinem Arbeitstische; ich fand ihn in einer wunderbar sanften Stimmung, wie einer, der von himmlischem Frieden ganz erfüllt ist, oder wie einer, der an ein süßes Glück denkt, das er genossen hat und das ihm wieder in aller Fülle vor der Seele schwebt. Stadelmann mußte mir einen Stuhl in seine Nähe setzen.

Wir sprachen sodann vom Theater, welches zu meinen Hauptinteressen dieses Winters gehört. Raupachs ›Erdennacht‹ war das letzte gewesen, was ich gesehen. Ich gab mein Urteil darüber: daß das Stück nicht zur Erscheinung gekommen, wie es im Geiste des Dichters gelegen, daß mehr die Idee vorherrschte als das Leben, daß es mehr lyrisch als dramatisch sei, daß dasjenige, was durch fünf Akte hindurchgesponnen und hindurchgezogen wird, weit besser in zweien oder dreien wäre zu geben gewesen. Goethe fügte hinzu, daß die Idee des Ganzen sich um Aristokratie und Demokratie drehe, und daß dieses kein allgemein menschliches Interesse habe.

Ich lobte dagegen, was ich von Kotzebue gesehen, nämlich seine ›Verwandtschaften‹ und die ›Versöhnung‹. Ich lobte daran den frischen Blick ins wirkliche Leben, den glücklichen Griff für die interessanten Seiten desselben, und die mitunter sehr kernige wahre Darstellung. Goethe stimmte mir bei. ”Was zwanzig Jahre sich erhält“, sagte er, ”und die Neigung des Volkes hat, das muß schon etwas sein. Wenn er in seinem Kreise blieb und nicht über sein Vermögen hinausging, so machte Kotzebue in der Regel etwas Gutes. Es ging ihm wie Chodowiecki; die bürgerlichen Szenen gelangen auch diesem vollkommen, wollte er aber römische oder griechische Helden zeichnen, so ward es nichts.“

Goethe nannte mir noch einige gute Stücke von Kotzebue, besonders ›Die beiden Klingsberge‹. ”Es ist nicht zu leugnen,“ fügte er hinzu, ”er hat sich im Leben umgetan und die Augen offen gehabt.

Geist und irgend Poesie“, fuhr Goethe fort, ”kann man den neueren tragischen Dichtern nicht absprechen; allein den meisten fehlt das Vermögen der leichten lebendigen Darstellung; sie streben nach etwas, das über ihre Kräfte hinausgeht, und ich möchte sie in dieser Hinsicht forderte Talente nennen.“

”Ich zweifle,“ sagte ich, ”daß solche Dichter ein Stück in Prosa schreiben können, und bin der Meinung, daß dies der wahre Probierstein ihres Talentes sein würde.“ Goethe stimmte mir bei und fügte hinzu, daß die Verse den poetischen Sinn steigerten oder wohl gar hervorlockten.

Wir sprachen darauf dies und jenes über vorhabende Arbeiten. Es war die Rede von seiner ›Reise über Frankfurt und Stuttgart nach der Schweiz‹, die er in drei Heften liegen hat und die er mir zusenden will, damit ich die Einzelnheiten lese und Vorschläge tue, wie daraus ein Ganzes zu machen. ”Sie werden sehen,“ sagte er, ”es ist alles nur so hingeschrieben, wie es der Augenblick gab; an einen Plan und eine künstlerische Rundung ist dabei gar nicht gedacht, es ist, als wenn man einen Eimer Wasser ausgießt.

Ich freute mich dieses Gleichnisses, welches mir sehr geeignet erschien, um etwas durchaus Planloses zu bezeichnen.

Montag, den 27. Oktober 1823

Heute früh wurde ich bei Goethe auf diesen Abend zum Tee und Konzert eingeladen. Der Bediente zeigte mir die Liste der zu invitierenden Personen, woraus ich sah, daß die Gesellschaft sehr zahlreich und glänzend sein würde. Er sagte, es sei eine junge Polin angekommen, die etwas auf dem Flügel spielen werde. Ich nahm die Einladung mit Freuden an.

Nachher wurde der Theaterzettel gebracht: ›Die Schachmaschine‹ sollte gegeben werden. Das Stück war mir unbekannt, meine Wirtin aber ergoß sich darüber in ein solches Lob, daß ein großes Verlangen sich meiner bemächtigte, es zu sehen. überdies befand ich mich den Tag über nicht zum besten, und es ward mir immer mehr, als passe ich besser in eine lustige Komödie als in eine so gute Gesellschaft.

Gegen Abend, eine Stunde vor dem Theater, ging ich zu Goethe. Es war im Hause schon alles lebendig; ich hörte im Vorbeigehen in dem größeren Zimmer den Flügel stimmen, als Vorbereitung zu der musikalischen Unterhaltung.

Ich traf Goethe in seinem Zimmer allein; er war bereits festlich angezogen, ich schien ihm gelegen. ”Nun bleiben Sie gleich hier,“ sagte er, ”wir wollen uns so lange unterhalten, bis die übrigen auch kommen.“ Ich dachte, da kommst du doch nicht los, da wirst du doch bleiben müssen; es ist dir zwar jetzt mit Goethen allein sehr angenehm, doch wenn erst die vielen fremden Herren und Damen erscheinen, da wirst du dich nicht in deinem Elemente fühlen.

Ich ging mit Goethe im Zimmer auf und ab. Es dauerte nicht lange, so war das Theater der Gegenstand unseres Gesprächs, und ich hatte Gelegenheit zu wiederholen, daß es mir die Quelle eines immer neuen Vergnügens sei, zumal da ich in früherer Zeit so gut wie gar nichts gesehen und jetzt fast alle Stücke auf mich eine ganz frische Wirkung ausübten. ”Ja,“ fügte ich hinzu, ”es ist mit mir so arg, daß es mich heute sogar in Unruhe und Zwiespalt gebracht hat, obgleich mir bei Ihnen eine so bedeutende Abendunterhaltung bevorsteht.“

”Wissen Sie was?“ sagte Goethe darauf, indem er stille stand und mich groß und freundlich ansah, ”gehen Sie hin! Genieren Sie sich nicht! Ist Ihnen das heitere Stück diesen Abend vielleicht bequemer, Ihren Zuständen angemessener, so gehen Sie hin. Bei mir haben Sie Musik, das werden Sie noch öfter haben.“ – ”Ja,“ sagte ich, ”so will ich hingehen; es wird mir überdies vielleicht besser sein, daß ich lache.“ – ”Nun“, sagte Goethe, ”so bleiben Sie bis gegen sechs Uhr bei mir, da können wir noch ein Wörtchen reden.“

Stadelmann brachte zwei Wachslichter, die er auf Goethes Arbeitstisch stellte. Goethe ersuchte mich, vor den Lichtern Platz zu nehmen, er wolle mir etwas zu lesen geben. Und was legte er mir vor? Sein neuestes, liebstes Gedicht, seine ›Elegie‹ von Marienbad.

Ich muß hier in bezug auf den Inhalt dieses Gedichts einiges nachholen. Gleich nach Goethes diesmaliger Zurückkunft aus genanntem Badeort verbreitete sich hier die Sage, er habe dort die Bekanntschaft einer an Körper und Geist gleich liebenswürdigen jungen Dame gemacht und zu ihr eine leidenschaftliche Neigung gefaßt. Wenn er in der Brunnenallee ihre Stimme gehört, habe er immer rasch seinen Hut genommen und sei zu ihr hinuntergeeilt. Er habe keine Stunde versäumt, bei ihr zu sein, er habe glückliche Tage gelebt; sodann, die Trennung sei ihm sehr schwer geworden und er habe in solchem leidenschaftlichen Zustande ein überaus schönes Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligtum ansehe und geheimhalte.

Ich glaubte dieser Sage, weil sie nicht allein seiner körperlichen Rüstigkeit, sondern auch der produktiven Kraft seines Geistes und der gesunden Frische seines Herzens vollkommen entsprach. Nach dem Gedicht selbst hatte ich längst ein großes Verlangen getragen, doch mit Recht Anstand genommen, Goethe darum zu bitten. Ich hatte daher die Gunst des Augenblicks zu preisen, wodurch es mir nun vor Augen lag.

Er hatte die Verse eigenhändig mit lateinischen Lettern auf starkes Velinpapier geschrieben und mit einer seidenen Schnur in einer Decke von rotem Maroquin befestigt, und es trug also schon im äußern, daß er dieses Manuskript vor allen seinen übrigen besonders wert halte.

Ich las den Inhalt mit hoher Freude und fand in jeder Zeile die Bestätigung der allgemeinen Sage. Doch deuteten gleich die ersten Verse darauf, daß die Bekanntschaft nicht dieses Mal erst gemacht, sondern erneuert worden. Das Gedicht wälzte sich stets um seine eigene Achse und schien immer dahin zurückzukehren, woher es ausgegangen. Der Schluß, wunderbar abgerissen, wirkte durchaus ungewohnt und tief ergreifend.

Als ich ausgelesen, trat Goethe wieder zu mir heran. ”Gelt,“ sagte er, ”da habe ich Euch etwas Gutes gezeigt. In einigen Tagen sollen Sie mir darüber weissagen.“ Es war mir sehr lieb, daß Goethe durch diese Worte ein augenblickliches Urteil meinerseits ablehnte, denn ohnehin war der Eindruck zu neu und zu schnell vorübergehend, als daß ich etwas Gehöriges darüber hätte sagen können.

Goethe versprach, bei ruhiger Stunde es mir abermals vorzulegen. Es war indes die Zeit des Theaters herangekommen, und ich schied unter herzlichen Händedrücken.

Die › Schachmaschine‹ mochte ein sehr gutes Stück sein und auch ebenso gut gespielt werden; allein ich war nicht dabei, meine Gedanken waren bei Goethe.

Nach dem Theater ging ich an seinem Hause vorüber; es glänzte alles von Lichtern, ich hörte, daß gespielt wurde, und bereute, daß ich nicht dort geblieben.

Am andern Tag erzählte man mir, daß die junge polnische Dame, Madame Szymanowska, der zu Ehren der festliche Abend veranstaltet worden, den Flügel ganz meisterhaft gespielt habe, zum Entzücken der ganzen Gesellschaft. Ich erfuhr auch, daß Goethe sie diesen Sommer in Marienbad kennen gelernt, und daß sie nun gekommen, ihn zu besuchen.

Mittaus kommunizierte mir Goethe ein kleines Manuskript: ›Studien‹ von Zauper, worin ich sehr treffende Bemerkungen fand. Ich sendete ihm dagegen einige Gedichte, die ich diesen Sommer in Jena gemacht und wovon ich ihm gesagt hatte.

Mittwoch, den 29. Oktober 1823

Diesen Abend zur Zeit des Lichtanzündens ging ich zu Goethe. Ich fand ihn sehr frischen aufgeweckten Geistes, seine Augen funkelten im Widerschein des Lichtes, sein ganzer Ausdruck war Heiterkeit, Kraft und Jugend.

Er fing sogleich von den Gedichten, die ich ihm gestern zugeschickt, zu reden an, indem er mit mir in seinem Zimmer auf und ab ging.

”Ich begreife jetzt,“ begann er, ”wie Sie in Jena gegen mich äußern konnten, Sie wollten ein Gedicht über die Jahreszeiten machen. Ich rate jetzt dazu; fangen Sie gleich mit dem Winter an. Sie scheinen für natürliche Gegenstände besondern Sinn und Blick zu haben.

Nur zwei Worte will ich Ihnen über die Gedichte sagen. Sie stehen jetzt auf dem Punkt, wo Sie notwendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunst durchbrechen müssen, zur Auffassung des Individuellen. Sie müssen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee herauskommen; Sie haben das Talent und sind so weit vorgeschritten, jetzt müssen Sie. Sie sind dieser Tage in Tiefurt gewesen, das möchte ich Ihnen zunächst zu einer solchen Aufgabe machen. Sie können vielleicht noch drei- bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten, ehe Sie ihm die charakteristische Seite abgewinnen und alle Motive beisammen haben; doch scheuen Sie die Mühe nicht, studieren Sie alles wohl und stellen Sie es dar; der Gegenstand verdient es. Ich selbst hätte es längst gemacht; allein ich kann es nicht, ich habe jene bedeutenden Zustände selbst mit durchlebt, ich bin zu sehr darin befangen, so daß die Einzelnheiten sich mir in zu großer Fülle aufdrängen. Sie aber kommen als Fremder und lassen sich vom Kastellan das Vergangene erzählen und sehen nur das Gegenwärtige, Hervorstechende, Bedeutende.“

Ich versprach, mich daran zu versuchen, obgleich ich nicht leugnen könne, daß es eine Aufgabe sei, die mir sehr fern stehe und die ich für sehr schwierig halte.

”Ich weiß wohl,“ sagte Goethe, ”daß es schwer ist, aber die Auffassung und Darstellung des Besonderen ist auch das eigentliche Leben der Kunst.

Und dann: solange man sich im Allgemeinen hält, kann es uns jeder nachmachen; aber das Besondere macht uns niemand nach. Warum? Weil es die anderen nicht erlebt haben.

Auch braucht man nicht zu fürchten, daß das Besondere keinen Anklang finde. Jeder Charakter, so eigentümlich er sein möge, und jedes Darzustellende, vom Stein herauf bis zum Menschen, hat Allgemeinheit; denn alles wiederholt sich, und es gibt kein Ding in der Welt, das nur einmal da wäre.

Auf dieser Stufe der individuellen Darstellung“, fuhr Goethe fort, ”beginnet dann zugleich dasjenige, was man Komposition nennet.“

Dieses war mir nicht sogleich klar, doch enthielt ich mich, danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er damit die künstlerische Verschmelzung des Idealen mit dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch vielleicht meinte er auch etwas anderes. Goethe fuhr fort:

”Und dann setzen Sie unter jedes Gedicht immer das Datum, wann Sie es gemacht haben.“ Ich sah ihn fragend an, warum das so wichtig. ”Es gilt dann“, fügte er hinzu, ”zugleich als Tagebuch Ihrer Zustände. Und das ist nichts Geringes. Ich habe es seit Jahren getan und sehe ein, was das heißen will.“

Es war indes die Zeit des Theaters herangekommen, und ich verließ Goethe. ”Sie gehen nun nach Finnland!“ rief er mir scherzend nach. Es ward nämlich gegeben: ›Johann von Finnland‹ von der Frau von Weißenthurn.

Es fehlte dem Stück nicht an wirksamen Situationen, doch war es mit Rührendem so überladen, und ich sah überall so viel Absicht, daß es im ganzen auf mich keinen guten Eindruck machte. Der letzte Akt indes gefiel mir sehr wohl und söhnte mich wieder aus.

Infolge dieses Stückes machte ich nachstehende Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmäßig gezeichnete Charaktere werden bei der Theaterdarstellung gewinnen, weil die Schauspieler, als lebendige Menschen, sie zu lebendigen Wesen machen und ihnen zu irgendeiner Art von Individualität verhelfen. Von einem großen Dichter meisterhaft gezeichnete Charaktere dagegen, die schon alle mit einer durchaus scharfen Individualität dastehen, müssen bei der Darstellung notwendig verlieren, weil die Schauspieler in der Regel nicht durchaus passen und die wenigsten ihre eigene Individualität so sehr verleugnen können. Findet sich beim Schauspieler nicht ganz das Gleiche, oder besitzt er nicht die Gabe einer gänzlichen Ablegung seiner eigenen Persönlichkeit, so entsteht ein Gemisch, und der Charakter verliert seine Reinheit. Daher kommt es denn, daß ein Stück eines wirklich großen Dichters immer nur in einzelnen Figuren so zur Erscheinung kommt, wie es die ursprüngliche Intention war.

Montag, den 3. November 1823

Ich ging gegen fünf zu Goethe. Als ich hinaufkam, hörte ich in dem größeren Zimmer sehr laut und munter reden und scherzen. Der Bediente sagte mir, die junge polnische Dame sei dort zu Tisch gewesen und die Gesellschaft noch beisammen. Ich wollte wieder gehen, allein er sagte, er habe den Befehl, mich zu melden; auch wäre es seinem Herrn vielleicht lieb, weil es schon spät sei. Ich ließ ihn daher gewähren und wartete ein Weilchen, wo denn Goethe sehr heiter herauskam und mit mir gegenüber in sein Zimmer ging. Mein Besuch schien ihm angenehm zu sein. Er ließ sogleich eine Flasche Wein bringen, wovon er mir einschenkte und auch sich selber gelegentlich.

”Ehe ich es vergesse,“sagte er dann, indem er auf dem Tisch etwas suchte, ”hier haben Sie ein Billet ins Konzert. Madame Szymanowska wird morgen abend im Saale des Stadthauses ein öffentliches Konzert geben; das dürfen Sie ja nicht versäumen.“ Ich sagte ihm, daß ich meine Torheit von neulich nicht zum zweiten Mal begehen würde. ”Sie soll sehr gut gespielt haben“, fügte ich hinzu. ”Ganz vortrefflich!“ sagte Goethe. ”Wohl so gut wie Hummel?“ fragte ich. ”Sie müssen bedenken,“ sagte Goethe, ”daß sie nicht allein eine große Virtuosin, sondern zugleich ein schönes Weib ist; da kommt es uns denn vor, als ob alles anmutiger wäre; sie hat eine meisterhafte Fertigkeit, man muß erstaunen!“ – ”Aber auch in der Kraft groß?“ fragte ich. ”Ja, auch in der Kraft,“ sagte Goethe, ”und das ist eben das Merkwürdigste an ihr, weil man das sonst bei Frauenzimmern gewöhnlich nicht findet.“ Ich sagte, daß ich mich sehr freue, sie nun doch noch zu hören.

Sekretär Kräuter trat herein und referierte in Bibliotheksangelegenheiten. Als er gegangen war, lobte Goethe seine große Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit in Geschäften.

Ich brachte sodann das Gespräch auf die im Jahre 1797 über Frankfurt und Stuttgart gemachte Reise in die Schweiz, wovon er mir die Manuskripte in drei Heften dieser Tage mitgeteilt und die ich bereits fleißig studiert hatte. Ich erwähnte, wie er damals mit Meyer so viel über die Gegenstände der bildenden Kunst nachgedacht.

”Ja,“ sagte Goethe, ”was ist auch wichtiger als die Gegenstände, und was ist die ganze Kunstlehre ohne sie. Alles Talent ist verschwendet, wenn der Gegenstand nichts taugt. Und eben weil dem neuern Künstler die würdigen Gegenstände fehlen, so hapert es auch so mit aller Kunst der neueren Zeit. Darunter leiden wir alle; ich habe auch meine Modernität nicht verleugnen können.

Die wenigsten Künstler“, fuhr er fort, ”sind über diesen Punkt im klaren und wissen, was zu ihrem Frieden dient. Da malen sie z. B. meinen ›Fischer‹ und bedenken nicht, daß sich das gar nicht malen lasse. Es ist ja in dieser Ballade bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie läßt sich das malen!“

Ich erwähnte ferner, daß ich mich freue, wie er auf jener Reise an allem Interesse genommen und alles aufgefaßt habe: Gestalt und Lage der Gebirge und ihre Steinarten; Boden, Flüsse, Wolken, Luft, Wind und Wetter; dann Städte und ihre Entstehung und sukzessive Bildung; Baukunst, Malerei, Theater; städtische Einrichtung und Verwaltung; Gewerbe, ökonomie, Straßenbau; Menschenrasse, Lebensart, Eigenheiten; dann wieder Politik und Kriegsangelegenheiten, und so noch hundert andere Dinge.

Goethe antwortete: ”Aber Sie finden kein Wort über Musik, und zwar deswegen nicht, weil das nicht in meinem Kreise lag. Jeder muß wissen, worauf er bei einer Reise zu sehen hat und was seine Sache ist.“

Der Herr Kanzler trat herein. Er sprach einiges mit Goethe und äußerte sich dann gegen mich sehr wohlwollend und mit vieler Einsicht über meine kleine Schrift, die er in diesen Tagen gelesen. Er ging dann bald wieder zu den Damen hinüber, wo, wie ich hörte, der Flügel gespielt wurde.

Als er gegangen war, sprach Goethe sehr gut über ihn und sagte dann: ”Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne, zu der man immer gerne wieder zurückkehrt.“

Ich erwiderte ihm, daß ich bereits den wohltätigen Einfluß meines hiesigen Aufenthaltes zu spüren beginne, daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretischen Richtungen nach und nach herauskomme und immer mehr den Wert des augenblicklichen Zustandes zu schätzen wisse.

”Das müßte schlimm sein,“ sagte Goethe, ”wenn Sie das nicht sollten. Beharren Sie nur dabei und halten Sie immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.“

Es trat eine kleine Pause ein; dann brachte ich das Gespräch auf Tiefurt, und in welcher Art es etwa darzustellen. ”Es ist ein mannigfaltiger Gegenstand,“ sagte ich, ”und schwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben. Am bequemsten wäre es mir, ihn in Prosa zu behandeln.“

”Dazu,“ sagte Goethe, ”ist der Gegenstand nicht bedeutend genug. Die sogenannte didaktisch-beschreibende Form würde zwar im ganzen die zu wählende sein, allein auch sie ist nicht durchgreifend passend. Am besten ist es, Sie stellen den Gegenstand in zehn bis zwölf kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in mannigfaltigen Versarten und Formen, so wie es die verschiedenen Seiten und Ansichten verlangen, wodurch denn das Ganze wird umschrieben und beleuchtet sein.“ Diesen Rat ergriff ich als zweckmäßig. ”Ja, was hindert Sie, dabei auch einmal dramatisch zu verfahren und ein Gespräch etwa mit dem Gärtner führen zu lassen? Und durch diese Zerstückelung macht man es sich leicht und kann besser das Charakteristische der verschiedenen Seiten des Gegenstandes ausdrücken. Ein umfassendes größeres Ganze dagegen ist immer schwierig, und man bringt selten etwas Vollendetes zustande.“

Montag, den 10. November 1823

Goethe befindet sich seit einigen Tagen nicht zum besten; eine heftige Erkältung scheint in ihm zu stecken. Er hustet viel, obgleich laut und kräftig; doch scheint der Husten schmerzlich zu sein, denn er faßt dabei gewöhnlich mit der Hand nach der Seite des Herzens.

Ich war diesen Abend vor dem Theater ein halbes Stündchen bei ihm. Er saß in einem Lehnstuhl, mit dem Rücken in ein Kissen gesenkt; das Reden schien ihm schwer zu werden.

Nachdem wir einiges gesprochen, wünschte er, daß ich ein Gedicht lesen möchte, womit er ein neues jetzt im Werke begriffenes Heft von ›Kunst und Altertum‹ eröffnet. Er blieb in seinem Stuhle sitzen und bezeichnete mir den Ort, wo es lag. Ich nahm ein Licht und setzte mich ein wenig entfernt von ihm an seinen Schreibtisch, um es zu lesen.

Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, so daß ich mich nach einmaligem Lesen, ohne es jedoch ganz zu verstehen, davon eigenartig berührt und ergriffen fühlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenstande und war als Trilogie behandelt. Der darin herrschende Ton war mir wie aus einer fremden Welt herüber, und die Darstellung der Art, daß mir die Belebung des Gegenstandes sehr schwer ward. Auch war Goethes persönliche Nähe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hörte ich ihn husten, bald hörte ich ihn seufzen, und so war mein Wesen geteilt: meine eine Hälfte las, und die andere war im Gefühl seiner Gegenwart. Ich mußte das Gedicht daher lesen und wieder lesen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von desto bedeutenderem Charakter und auf einer desto höheren Stufe der Kunst wollte es mir erscheinen.

Ich sprach darauf mit Goethe sowohl über den Gegenstand als die Behandlung, wo mir denn durch einige seiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.

”Freilich,“ sagte er darauf, ”die Behandlung ist sehr knapp, und man muß gut eindringen, wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldrähten geschmiedete Damaszenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre mit mir herumgetragen, so daß er denn freilich Zeit hatte, sich von allem Ungehörigen zu läutern.“

”Es wird Wirkung tun,“sagte ich, ”wenn es beim Publikum hervortritt.“

”Ach, das Publikum!“ seufzete Goethe.

”Sollte es nicht gut sein,“ sagte ich, ”wenn man dem Verständnis zu Hülfe käme und es machte wie bei der Erklärung eines Gemäldes, wo man durch Vorführung der vorhergegangenen Momente das wirklich Gegenwärtige zu beleben sucht?“

”Ich bin nicht der Meinung“, sagte Goethe. ”Mit Gemälden ist es ein anderes; weil aber ein Gedicht gleichfalls aus Worten besteht, so hebt ein Wort das andere auf.“

Goethe scheint mir hierdurch sehr treffend die Klippe angedeutet zu haben, woran Ausleger von Gedichten gewöhnlich scheitern. Es frägt sich aber, ob es nicht möglich sei, eine solche Klippe zu vermeiden und einem Gedichte dennoch durch Worte zu Hülfe zu kommen, ohne das Zarte seines innern Lebens im mindesten zu verletzen.

Als ich ging, wünschte er, daß ich die Bogen von ›Kunst und Altertum‹ mit nach Hause nehme, um das Gedicht ferner zu betrachten; desgleichen die ›östlichen Rosen‹ von Rückert, von welchem Dichter er viel zu halten und die besten Erwartungen zu hegen scheint.

Mittwoch, den 12. November 1823.

Ich ging gegen Abend, um Goethe zu besuchen, hörte aber unten im Hause, der preußische Staatsminister von Humboldt sei bei ihm, welches mir lieb war, in der überzeugung, daß dieser Besuch eines alten Freundes ihm die wohltätigste Aufheiterung gewähren würde.

Ich ging darauf ins Theater, wo die ›Schwestern von Prag‹ bei ganz vollkommener Besetzung musterhaft gegeben wurden, so daß man das ganze Stück hindurch nicht aus dem Lachen kam.

Donnerstag, den 13. November 1823

Vor einigen Tagen, als ich nachmittags bei schönem Wetter die Straße nach Erfurt hinausging, gesellte sich ein bejahrter Mann zu mir, den ich seinem äußeren nach für einen wohlhabenden Bürger hielt. Wir hatten nicht lange geredet, als das Gespräch auf Goethe kam. Ich fragte ihn, ob er Goethe persönlich kenne. ”Ob ich ihn kenne!“ antwortete er mit einigem Behagen, ”ich bin gegen zwanzig Jahre sein Kammerdiener gewesen.“ Und nun ergoß er sich in Lobsprüchen über seinen früheren Herrn. Ich ersuchte ihn, mir etwas aus Goethes Jugendzeit zu erzählen, worein er mit Freuden willigte.

”Als ich bei ihn kam,“ sagte er, ”mochte er etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; er war sehr mager, behende und zierlich, ich hätte ihn leicht tragen können.“

Ich fragte ihn, ob Goethe in jener ersten Zeit seines Hierseins auch sehr lustig gewesen. Allerdings, antwortete er, sei er mit den Fröhlichen fröhlich gewesen, jedoch nie über die Grenze; in solchen Fällen sei er gewöhnlich ernst geworden. Immer gearbeitet und geforscht und seinen Sinn auf Kunst und Wissenschaft gerichtet, das sei im allgemeinen seines Herrn fortwährende Richtung gewesen. Abends habe ihn der Herzog häufig besucht, und da hätten sie oft bis tief in die Nacht hinein über gelehrte Gegenstände gesprochen, so daß ihm oft Zeit und Weile lang geworden, und er oft gedacht habe, ob denn der Herzog noch nicht gehen wolle. ”Und die Naturforschung“, fügte er hinzu, ”war schon damals seine Sache.

Einst klingelte er mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete, hat er sein eisernes Rollbette vom untersten Ende der Kammer herauf bis ans Fenster gerollt und liegt und beobachtet den Himmel. ›Hast du nichts am Himmel gesehen?‹ fragte er mich, und als ich dies verneinte: ›So laufe einmal nach der Wache und frage den Posten, ob der nichts gesehen.‹ Ich lief hin, der Posten hatte aber nichts gesehen, welches ich meinem Herrn meldete, der noch ebenso lag und den Himmel unverwandt beobachtete. ›Höre,‹ sagte er dann zu mir, ›wir sind in einem bedeutenden Moment; entweder wir haben in diesem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins.‹ Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bette setzen, und er demonstrierte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.“

Ich fragte den guten Alten, was es für Wetter gewesen.

”Es war sehr wolkig,“ sagte er, ”und dabei regte sich kein Lüftchen, es war sehr still und schwül.“

Ich fragte ihn, ob er denn Goethen jenen Ausspruch sogleich aufs Wort geglaubt habe.

”Ja,“ sagte er, ”ich glaubte ihm aufs Wort; denn was er vorhersagte, war immer richtig. Am nächsten Tage“, fuhr er fort, ”erzählte mein Herr seine Beobachtungen bei Hofe, wobei eine Dame ihrer Nachbarin ins Ohr flüsterte: ›Höre! Goethe schwärmt!‹ Der Herzog aber und die übrigen Männer glaubten an Goethe, und es wies sich auch bald aus, daß er recht gesehen; denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in derselbigen Nacht ein Teil von Messina durch ein Erdbeben zerstört worden.“

Freitag, den 14. November 1823

Gegen Abend sendete Goethe mir eine Einladung, ihn zu besuchen. Humboldt sei an Hof, und ich würde ihm daher um so willkommener sein. Ich fand ihn noch wie vor einigen Tagen in seinem Lehnstuhl sitzend; er reichte mir freundlich die Hand, indem er mit himmlischer Sanftmut einige Worte sprach. Ein großer Ofenschirm stand ihm zur Seite und gab ihm zugleich Schatten vor den Lichtern, die weiterhin auf dem Tisch standen. Auch der Herr Kanzler trat herein und gesellte sich zu uns. Wir setzten uns in Goethes Nähe und führten leichte Gespräche, damit er sich nur zuhörend verhalten könnte. Bald kam auch der Arzt, Hofrat Rehbein. Er fand Goethes Puls, wie er sich ausdrückte, ganz munter und leichtfertig, worüber wir uns freuten und Goethe einige Scherze machte. ”Wenn nur der Schmerz von der Seite des Herzens weg wäre!“ klagte er dann. Rehbein schlug vor, ihm ein Pflaster dahin zu legen; wir sprachen über die gute Wirkung eines solchen Mittels, und Goethe ließ sich dazu geneigt finden. Rehbein brachte das Gespräch auf Marienbad, wodurch bei Goethe angenehme Erinnerungen erweckt zu werden schienen. Man machte Pläne, nächsten Sommer wieder hinzugehen, und bemerkte, daß auch der Großherzog nicht fehlen würde, durch welche Aussichten Goethe in die heiterste Stimmung versetzt wurde. Auch sprach man über Madame Szymanowska und gedachte der Tage, wo sie hier war und die Männer sich um ihre Gunst bewarben.

Als Rehbein gegangen war, las der Kanzler die indischen Gedichte. Goethe sprach derweile mit mir über seine ›Elegie‹ von Marienbad.

Um acht Uhr ging der Kanzler; ich wollte auch gehen, Goethe bat mich aber, noch ein wenig zu bleiben. Ich setzte mich wieder. Das Gespräch kam auf das Theater, und daß morgen der ›Wallenstein‹ würde gegeben werden. Dies gab Gelegenheit, über Schiller zu reden.

”Es geht mir mit Schiller eigen,“ sagte ich; ”einige Szenen seiner großen Theaterstücke lese ich mit wahrer Liebe und Bewunderung, dann aber komme ich auf Verstöße gegen die Wahrheit der Natur, und ich kann nicht weiter. Selbst mit dem ›Wallenstein‹ geht es mir nicht anders. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß Schillers philosophische Richtung seiner Poesie geschadet hat; denn durch sie kam er dahin, die Idee höher zu halten als alle Natur, ja die Natur dadurch zu vernichten. Was er sich denken konnte, mußte geschehen, es mochte nun der Natur gemäß oder ihr zuwider sein.“

”Es ist betrübend,“ sagte Goethe, ”wenn man sieht, wie ein so außerordentlich begabter Mensch sich mit philosophischen Denkweisen herumquälte, die ihm nichts helfen konnten. Humboldt hat mir Briefe mitgebracht, die Schiller in der unseligen Zeit jener Spekulationen an ihn geschrieben. Man sieht daraus, wie er sich damals mit der Intention plagte, die sentimentale Poesie von der naiven ganz frei zu machen. Aber nun konnte er für jene Dichtart keinen Boden finden, und dies brachte ihn in unsägliche Verwirrung. Und als ob“, fügte Goethe lächelnd hinzu, ”die sentimentale Poesie ohne einen naiven Grund, aus welchem sie gleichsam hervorwächst, nur irgend bestehen könnte!

Es war nicht Schillers Sache,“ fuhr Goethe fort, ”mit einer gewissen Bewußtlosigkeit und gleichsam instinktmäßig zu verfahren, vielmehr mußte er über jedes, was er tat, reflektieren; woher es auch kam, daß er über seine poetischen Vorsätze nicht unterlassen konnte, sehr viel hin und her zu reden, so daß er alle seine späteren Stücke Szene für Szene mit mir durchgesprochen hat.

Dagegen war es ganz gegen meine Natur, über das, was ich von poetischen Plänen vorhatte, mit irgend jemanden zu reden, selbst nicht mit Schiller. Ich trug alles still mit mir herum, und niemand erfuhr in der Regel etwas, als bis es vollendet war. Als ich Schillern meinen ›Hermann und Dorothea‹ fertig vorlegte, war er verwundert, denn ich hatte ihm vorher mit keiner Silbe gesagt, daß ich dergleichen vorhatte.

Aber ich bin neugierig, was Sie morgen zum ›Wallenstein‹ sagen werden! Sie werden große Gestalten sehen, und das Stück wird auf Sie einen Eindruck machen, wie Sie es sich wahrscheinlich nicht vermuten.“

Sonnabend, den 15. November 1823

Abends war ich im Theater, wo ich zum ersten Mal den ›Wallenstein‹ sah. Goethe hatte nicht zu viel gesagt; der Eindruck war groß und mein tiefstes Innere aufregend. Die Schauspieler, größtenteils noch aus der Zeit, wo Schiller und Goethe persönlich auf sie einwirkten, brachten mir ein Ensemble bedeutender Personen vor Augen, wie sie beim Lesen meiner Einbildungskraft nicht mit der Individualität erschienen waren, weshalb denn das Stück mit außerordentlicher Kraft an mir vorüberging und ich es sogar während der Nacht nicht aus dem Sinn brachte.

Sonntag, den 16. [Sonnabend, den 15.] November 1823

Abends bei Goethe. Er saß noch in seinem Lehnstuhl und schien ein wenig schwach. Seine erste Frage war nach dem ›Wallenstein‹. Ich gab ihm Rechenschaft von dem Eindruck, den das Stück von der Bühne herunter auf mich gemacht; er hörte es mit sichtbarer Freude.

Herr Soret kam, von Frau von Goethe hereingeführt, und blieb ein Stündchen, indem er im Auftrag des Großherzogs goldene Medaillen brachte, deren Vorzeigung und Besprechung Goethen eine angenehme Unterhaltung zu gewähren schien.

Frau von Goethe und Herr Soret gingen an Hof, und so war ich mit Goethe wieder alleine gelassen.

Eingedenk des Versprechens, mir seine ›Elegie‹ von Marienbad zu einer passenden Stunde abermals zu zeigen, stand Goethe auf, stellte ein Licht auf seinen Schreibtisch und gab mir das Gedicht. Ich war glücklich, es abermals vor Augen zu haben. Goethe setzte sich wieder in Ruhe und überließ mich einer ungestörten Betrachtung.

Nachdem ich eine Weile gelesen, wollte ich ihm etwas darüber sagen; es kam mir aber vor, als ob er schlief. Ich benutzte daher den günstigen Augenblick und las es aber- und abermals und hatte dabei einen seltenen Genuß. Die jugendlichste Glut der Liebe, gemildert durch die sittliche Höhe des Geistes, das erschien mir im allgemeinen als des Gedichtes durchgreifender Charakter. übrigens kam es mir vor, als seien die ausgesprochenen Gefühle stärker, als wir sie in anderen Gedichten Goethes anzutreffen gewohnt sind, und ich schloß daraus auf einen Einfluß von Byron, welches Goethe auch nicht ablehnte.

”Sie sehen das Produkt eines höchst leidenschaftlichen Zustandes,“ fügte er hinzu; ”als ich darin befangen war, hätte ich ihn um alles in der Welt nicht entbehren mögen, und jetzt möchte ich um keinen Preis wieder hineingeraten.

Ich schrieb das Gedicht, unmittelbar als ich von Marienbad abreiste und ich mich noch im vollen frischen Gefühle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe, und so dichtete ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtnis Gefaßte nieder, so daß es abends fertig auf dem Papiere stand. Es hat daher eine gewisse Unmittelbarkeit und ist wie aus einem Gusse, welches dem Ganzen zugute kommen mag.“

”Zugleich“, sagte ich, ”hat es in seiner ganzen Art viel Eigentümliches, so daß es an keins Ihrer anderen Gedichte erinnert.“

”Das mag daher kommen“, sagte Goethe. ”Ich setzte auf die Gegenwart, so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne übertreibung so hoch zu steigern als möglich.“

Diese äußerung erschien mir sehr wichtig, indem sie Goethes Verfahren ans Licht setzet und uns seine allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erklärlich macht.

Es war indes gegen neun Uhr geworden; Goethe bat mich, seinen Bedienten Stadelmann zu rufen, welches ich tat.

Er ließ sich darauf von diesem das verordnete Pflaster auf die Brust zur Seite des Herzens legen. Ich stellte mich derweil ans Fenster. Hinter meinem Rücken hörte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß sein übel sich gar nicht bessern wolle, und daß es einen bleibenden Charakter annehme. Als die Operation vorbei war, setzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er klagte nun auch gegen mich, daß er seit einigen Nächten gar nicht geschlafen habe, und daß auch zum Essen gar keine Neigung vorhanden. ”Der Winter geht nun so hin,“ sagte er, ”ich kann nichts tun, ich kann nichts zusammenbringen, der Geist hat gar keine Kraft.“ Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht so viel an seine Arbeiten zu denken, und daß ja dieser Zustand hoffentlich bald vorübergehen werde. ”Ach,“ sagte er darauf, ”ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe schon zu viel solcher Umstände durchlebt und habe schon gelernt zu leiden und zu dulden.“ Er saß in einem Schlafrock von weißem Flanell, über seine Kniee und Füße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. ”Ich werde gar nicht zu Bette gehen,“ sagte er, ”ich werde so auf meinem Stuhl die Nacht sitzen bleiben, denn zum rechten Schlaf komme ich doch nicht.“

Es war indes Zeit geworden, er reichte mir seine liebe Hand, und ich ging.

Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann sehr bestürzt. Er sagte, er habe sich über seinen Herrn erschrocken; wenn er klage, so sei das ein schlimmes Zeichen. Auch wären die Füße plötzlich ganz dünne geworden, die bisher ein wenig geschwollen gewesen. Er wolle morgen in aller Frühe zum Arzt gehen, um ihm die schlimmen Zeichen zu melden. Ich suchte ihn zu beruhigen, allein er ließ sich seine Furcht nicht ausreden.

Montag, den 17. November 1823

Als ich diesen Abend ins Theater kam, drängten viele Personen sich mir entgegen und erkundigten sich sehr ängstlich nach Goethes Befinden. Sein Zustand mußte sich in der Stadt schnell verbreitet haben und vielleicht ärger gemacht worden sein, als er wirklich war. Einige sagten mir, er habe die Brustwassersucht. Ich war betrübt den ganzen Abend.

Mittwoch, den 19. November 1823

Gestern ging ich in Sorgen umher. Es ward außer seiner Familie niemand zu ihm gelassen.

Heute gegen Abend ging ich hin und wurde auch angenommen. Ich fand ihn noch in seinem Lehnstuhl sitzen, er schien dem äußern nach noch ganz wie ich ihn am Sonntag verlassen, doch war er heiteren Geistes.

Wir sprachen besonders über Zauper und die sehr ungleichen Wirkungen, die aus dem Studium der Literatur der Alten hervorgehen.

Freitag, den 21. November 1823

Goethe ließ mich rufen. Ich fand ihn zu meiner großen Freude wieder auf, und in seinem Zimmer umhergehen. Er gab mir ein kleines Buch: ›Ghaselen‹ des Grafen Platen. ”Ich hatte mir vorgenommen,“ sagte er, ”in ›Kunst und Altertum‹ etwas darüber zu sagen, denn die Gedichte verdienen es. Mein Zustand läßt mich aber zu nichts kommen. Sehen Sie doch zu, ob es Ihnen gelingen will, einzudringen und den Gedichten etwas abzugewinnen.“

Ich versprach, mich daran zu versuchen.

”Es ist bei den Ghaselen das Eigentümliche,“ fuhr Goethe fort, ”daß sie eine große Fülle von Gehalt verlangen; der stets wiederkehrende gleiche Reim will immer einen Vorrat ähnlicher Gedanken bereit finden. Deshalb gelingen sie nicht jedem; diese aber werden Ihnen gefallen.“ Der Arzt trat herein, und ich ging.

Montag, den 24. [?] November 1823

Sonnabend und Sonntag studierte ich die Gedichte. Diesen Morgen schrieb ich meine Ansicht darüber und schickte sie Goethen zu, denn ich hatte erfahren, daß er seit einigen Tagen niemanden vor sich lasse, indem der Arzt ihm alles Reden verboten.

Heute gegen Abend ließ er mich dennoch rufen. Als ich zu ihm hineintrat, fand ich einen Stuhl bereits in seine Nähe gesetzt; er reichte mir seine Hand entgegen und war äußerst liebevoll und gut. Er fing sogleich an, über meine kleine Rezension zu reden. ”Ich habe mich sehr darüber gefreut,“ sagte er, ”Sie haben eine schöne Gabe. Ich will Ihnen etwas sagen,“ fuhr er dann fort, ”wenn Ihnen vielleicht von andern Orten her literarische Anträge gemacht werden sollten, so lehnen Sie solche ab oder sagen es mir wenigstens zuvor; denn da Sie einmal mit mir verbunden sind, so möchte ich nicht gerne, daß Sie auch zu anderen ein Verhältnis hätten.“

Ich antwortete, daß ich mich bloß zu ihm halten wolle, und daß es mir auch vorderhand um anderweitige Verbindungen durchaus nicht zu tun sei.

Das war ihm lieb, und er sagte darauf, daß wir diesen Winter noch manche hübsche Arbeit miteinander machen wollten.

Wir kamen dann auf die ›Ghaselen‹ selbst zu sprechen, und Goethe freute sich über die Vollendung dieser Gedichte und daß unsere neueste Literatur doch manches Tüchtige hervorbringe.

”Ihnen“, fuhr er dann fort, ”möchte ich unsere neuesten Talente zu einem besonderen Studium und Augenmerk empfehlen. Ich möchte, daß Sie sich von allem, was in unserer Literatur Bedeutendes hervortritt, in Kenntnis setzten und mir das Verdienstliche vor Augen brächten, damit wir in den Heften von ›Kunst und Altertum‹ darüber reden und das Gute, Edle und Tüchtige mit Anerkennung erwähnen könnten. Denn mit dem besten Willen komme ich bei meinem hohen Alter und bei meinen tausendfachen Obliegenheiten ohne anderweitige Hülfe nicht dazu.“

Ich versprach dieses zu tun, indem ich mich zugleich freute zu sehen, daß unsere neuesten Schriftsteller und Dichter Goethen mehr am Herzen liegen, als ich mir gedacht hatte.

Die Tage darauf sendete Goethe mir die neuesten literarischen Tagesblätter zu dem besprochenen Zwecke. Ich ging einige Tage nicht zu ihm und ward auch nicht gerufen. Ich hörte, sein Freund Zelter sei gekommen, ihn zu besuchen.

Montag, den 1. Dezember 1823

Heute ward ich bei Goethe zu Tisch geladen. Ich fand Zelter bei ihm sitzen, als ich hereintrat. Sie kamen mir einige Schritte entgegen und gaben mir die Hände. ”Hier“, sagte Goethe, ”haben wir meinen Freund Zelter. Sie machen an ihm eine gute Bekanntschaft; ich werde Sie bald einmal nach Berlin schicken, da sollen Sie denn von ihm auf das beste gepflegt werden.“ – ”In Berlin mag es gut sein“, sagte ich. ”Ja,“sagte Zelter lachend, ”es läßt sich darin viel lernen und verlernen.“

Wir setzten uns und führten allerlei Gespräche. Ich fragte nach Schubarth. ”Er besucht mich wenigstens alle acht Tage“, sagte Zelter. ”Er hat sich verheiratet, ist aber ohne Anstellung, weil er es in Berlin mit den Philologen verdorben.“

Zelter fragte mich darauf, ob ich Immermann kenne. ”Seinen Namen“, sagte ich, ”habe ich bereits sehr oft nennen hören, doch von seinen Schriften kenne ich bis jetzt nichts.“ – ”Ich habe seine Bekanntschaft zu Münster gemacht,“ sagte Zelter; ”es ist ein sehr hoffnungsvoller junger Mann, und es wäre ihm zu wünschen, daß seine Anstellung ihm für seine Kunst mehr Zeit ließe.“ Goethe lobte gleichfalls sein Talent. ”Wir wollen sehen,“ sagte er, ”wie er sich entwickelt; ob er sich bequemen mag, seinen Geschmack zu reinigen und hinsichtlich der Form die anerkannt besten Muster zur Richtschnur zu nehmen. Sein originelles Streben hat zwar sein Gutes, allein es führt gar zu leicht in die Irre.“

Der kleine Walter kam gesprungen und machte sich an Zelter und seinen Großpapa mit vielen Fragen. ”Wenn du kommst, unruhiger Geist,“ sagte Goethe, ”so verdirbst du gleich jedes Gespräch.“ übrigens liebte er den Knaben und war unermüdet, ihm alles zu Willen zu tun.

Frau von Goethe und Fräulein Ulrike traten herein; auch der junge Goethe in Uniform und Degen, um an Hof zu gehen. Wir setzten uns zu Tisch. Fräulein Ulrike und Zelter waren besonders munter und neckten sich auf die anmutigste Weise während der ganzen Tafel. Zelters Person und Gegenwart tat mir sehr wohl. Er war als ein glücklicher gesunder Mensch immer ganz dem Augenblick hingegeben, und es fehlte ihm nie am rechten Wort. Dabei war er voller Gutmütigkeit und Behagen und so ungeniert, daß er alles heraussagen mochte und mitunter sogar sehr Derbes. Seine eigene geistige Freiheit teilte sich mit, so daß alle beengende Rücksicht in seiner Nähe sehr bald wegfiel. Ich tat im stillen den Wunsch, eine Zeitlang mit ihm zu leben, und bin gewiß, es würde mir gut tun.

Bald nach Tisch ging Zelter. Auf den Abend war er zur Großfürstin gebeten.

Donnerstag, den 4. Dezember 1823

Diesen Morgen brachte mir Sekretär Kräuter eine Einladung bei Goethe zu Tisch. Dabei gab er mir von Goethe den Wink, Zeltern doch ein Exemplar meiner ›Beiträge zur Poesie‹ zu verehren. Ich tat so und brachte es ihm ins Wirtshaus. Zelter gab mir dagegen die ›Gedichte‹ von Immermann. ”Ich schenkte das Exemplar Ihnen gerne,“ sagte er; ”allein Sie sehen, der Verfasser hat es mir zugeschrieben, und so ist es mir ein wertes Andenken, das ich behalten muß.“

Ich machte darauf mit Zelter vor Tisch einen Spaziergang durch den Park nach Oberweimar. Bei manchen Stellen erinnerte er sich früherer Zeiten und erzählte mir dabei viel von Schiller, Wieland und Herder, mit denen er sehr befreundet gewesen, was er als einen hohen Gewinn seines Lebens schätzte.

Er sprach darauf viel über Komposition und rezitierte dabei mehrere Lieder von Goethe. ”Wenn ich ein Gedicht komponieren will,“ sagte er, ”so suche ich zuvor in den Wortverstand einzudringen und mir die Situation lebendig zu machen. Ich lese es mir dann laut vor, bis ich es auswendig weiß, und so, indem ich es mir immer einmal wieder rezitiere, kommt die Melodie von selber.“

Wind und Regen nötigten uns, früher zurückzugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn bis vor Goethes Haus, wo er zu Frau von Goethe hinaufging, um mit ihr vor Tisch noch einiges zu singen.

Darauf um zwei Uhr kam ich zu Tisch. Ich fand Zelter bereits bei Goethe sitzen und Kupferstiche italienischer Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat herein, und wir gingen zu Tisch. Fräulein Ulrike war heute abwesend, desgleichen der junge Goethe, welcher bloß hereinkam, um guten Tag zu sagen, und dann wieder an Hof ging.

Die Tischgespräche waren heute besonders mannigfaltig. Sehr viel originelle Anekdoten wurden erzählt, sowohl von Zelter als Goethe, welche alle dahin gingen, die Eigenschaften ihres gemeinschaftlichen Freundes Friedrich August Wolf zu Berlin ins Licht zu setzen. Dann ward über die Nibelungen viel gesprochen, dann über Lord Byron und seinen zu hoffenden Besuch in Weimar, woran Frau von Goethe besonders teilnahm. Das Rochusfest zu Bingen war ferner ein sehr heiterer Gegenstand, wobei Zelter sich besonders zwei schöner Mädchen erinnerte, deren Liebenswürdigkeit sich ihm tief eingeprägt hatte und deren Andenken ihn noch heute zu beglücken schien. Das gesellige Lied ›Kriegsglück‹ von Goethe ward darauf sehr heiter besprochen. Zelter war unermüdlich in Anekdoten von blessierten Soldaten und schönen Frauen, welche alle dahin gingen, um die Wahrheit des Gedichts zu beweisen. Goethe selber sagte, er habe nach solchen Realitäten nicht weit zu gehen brauchen, er habe alles in Weimar persönlich erlebt. Frau von Goethe aber hielt immerwährend ein heiteres Widerspiel, indem sie nicht zugeben wollte, daß die Frauen so wären, als das ›garstige‹ Gedicht sie schildere.

Und so vergingen denn auch heute die Stunden bei Tisch sehr angenehm.

Als ich darauf später mit Goethe allein war, fragte er mich über Zelter. ”Nun,“ sagte er, ”wie gefällt er Ihnen?“ Ich sprach über das durchaus Wohltätige seiner Persönlichkeit. ”Er kann“, fügte Goethe hinzu, ”bei der ersten Bekanntschaft etwas sehr derbe, ja mitunter sogar etwas roh erscheinen. Allein das ist nur äußerlich. Ich kenne kaum jemanden, der zugleich so zart wäre wie Zelter. Und dabei muß man nicht vergessen, daß er über ein halbes Jahrhundert in Berlin zugebracht hat. Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten.“

1824

Dienstag, den 27. Januar 1824

Goethe sprach mit mir über die Fortsetzung seiner Lebensgeschichte, mit deren Ausarbeitung er sich gegenwärtig beschäftigt. Es kam zur Erwähnung, daß diese Epoche seines spätern Lebens nicht die Ausführlichkeit des Details haben könne wie die Jugendepoche von ›Wahrheit und Dichtung‹.

”Ich muß“, sagte Goethe, ”diese späteren Jahre mehr als Annalen behandeln; es kann darin weniger mein Leben als meine Tätigkeit zur Erscheinung kommen. überhaupt ist die bedeutendste Epoche eines Individuums die der Entwickelung, welche sich in meinem Fall mit den ausführlichen Bänden von ›Wahrheit und Dichtung‹ abschließt. Später beginnt der Konflikt mit der Welt, und dieser hat nur insofern Interesse, als etwas dabei herauskommt.

Und dann, das Leben eines deutschen Gelehrten, was ist es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes sein möchte, ist nicht mitzuteilen, und das Mitteilbare ist nicht der Mühe wert. Und wo sind denn die Zuhörer, denen man mit einigem Behagen erzählen möchte?

Wenn ich auf mein früheres und mittleres Leben zurückblicke und nun in meinem Alter bedenke, wie wenige noch von denen übrig sind, die mit mir jung waren, so fällt mir immer der Sommeraufenthalt in einem Bade ein. Sowie man ankommt, schließt man Bekanntschaften und Freundschaften mit solchen, die schon eine Zeitlang dort waren und die in den nächsten Wochen wieder abgehen. Der Verlust ist schmerzlich. Nun hält man sich an die zweite Generation, mit der man eine gute Weile fortlebt und sich auf das innigste verbindet. Aber auch diese geht und läßt uns einsam mit der dritten, die nahe vor unserer Abreise ankommt und mit der man auch gar nichts zu tun hat.

Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte. Meine Annalen werden es deutlich machen, was hiemit gesagt ist. Der Ansprüche an meine Tätigkeit, sowohl von außen als innen, waren zu viele.

Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückhalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben. So aber sollte sich bald nach meinem ›Götz‹ und ›Werther‹ an mir das Wort eines Weisen bewähren, welcher sagte: wenn man der Welt etwas zuliebe getan habe, so wisse sie dafür zu sorgen, daß man es nicht zum zweiten Male tue.

Ein weitverbreiteter Name, eine hohe Stellung im Leben sind gute Dinge. Allein mit all meinem Namen und Stande habe ich es nicht weiter gebracht, als daß ich, um nicht zu verletzen, zu der Meinung anderer schweige. Dieses würde nun in der Tat ein sehr schlechter Spaß sein, wenn ich dabei nicht den Vorteil hätte, daß ich erfahre, wie die anderen denken, aber sie nicht, wie ich.“

Sonntag, den 15. Februar 1824

Heute vor Tisch hatte Goethe mich zu einer Spazierfahrt einladen lassen. Ich fand ihn frühstückend, als ich zu ihm ins Zimmer trat; er schien sehr heiterer Stimmung.

”Ich habe einen angenehmen Besuch gehabt,“ sagte er mir freudig entgegen; ”ein sehr hoffnungsvoller junger Mann, Meyer aus Westfalen, ist vorhin bei mir gewesen. Er hat Gedichte gemacht, die sehr viel erwarten lassen. Er ist erst achtzehn Jahre alt und schon unglaublich weit.

Ich freue mich,“ sagte Goethe darauf lachend, ”daß ich jetzt nicht achtzehn Jahre alt bin. Als ich achtzehn war, war Deutschland auch erst achtzehn, da ließ sich noch etwas machen; aber jetzt wird unglaublich viel gefordert, und es sind alle Wege verrannt.

Deutschland selbst steht in allen Fächern so hoch, daß wir kaum alles übersehen können, und nun sollen wir noch Griechen und Lateiner sein, und Engländer und Franzosen dazu! Ja obendrein hat man die Verrücktheit, auch nach dem Orient zu weisen, und da muß denn ein junger Mensch ganz konfus werden.

Ich habe ihm zum Trost meine kolossale Juno gezeigt, als ein Symbol, daß er bei den Griechen verharren und dort Beruhigung finden möge. Er ist ein prächtiger junger Mensch! Wenn er sich vor Zersplitterung in acht nimmt, so kann etwas aus ihm werden.

Aber, wie gesagt, ich danke dem Himmel, daß ich jetzt, in dieser durchaus gemachten Zeit, nicht jung bin. Ich würde nicht zu bleiben wissen. Ja selbst wenn ich nach Amerika flüchten wollte, ich käme zu spät, denn auch dort wäre es schon zu helle.“

Sonntag, den 22. Februar 1824

Zu Tisch mit Goethe und seinem Sohn, welcher letztere uns manches heitere Geschichtchen aus seiner Studentenzeit, namentlich aus seinem Aufenthalt in Heidelberg erzählte. Er hatte mit seinen Freunden in den Ferien manchen Ausflug am Rhein gemacht, wo ihm besonders ein Wirt in gutem Andenken geblieben war, bei dem er einst mit zehn andern Studenten übernachtet und welcher unentgeltlich den Wein hergegeben, bloß damit er einmal seine Freude an einem sogenannten Kommersch haben möge.

Nach Tisch legte Goethe uns kolorierte Zeichnungen italienischer Gegenden vor, besonders des nördlichen Italiens mit den Gebirgen der angrenzenden Schweiz und dem Lago Maggiore. Die Borromäischen Inseln spiegelten sich im Wasser, man sah am Ufer Fahrzeuge und Fischergerät, wobei Goethe bemerklich machte, daß dies der See aus seinen ›Wanderjahren‹ sei. Nordwestlich, in der Richtung nach dem Monte Rosa stand das den See begrenzende Vorgebirge in dunkelen blauschwarzen Massen, so wie es kurz nach Sonnenuntergange zu sein pflegt.

Ich machte die Bemerkung, daß mir, als einem in der Ebene Geborenen, die düstere Erhabenheit solcher Massen ein unheimliches Gefühl errege und daß ich keineswegs Lust verspüre, in solchen Schluchten zu wandern.

”Dieses Gefühl“, sagte Goethe, ”ist in der Ordnung. Denn im Grunde ist dem Menschen nur der Zustand gemäß, worin und wofür er geboren worden. Wen nicht große Zwecke in die Fremde treiben, der bleibt weit glücklicher zu Hause. Die Schweiz machte anfänglich auf mich so großen Eindruck, daß ich dadurch verwirrt und beunruhigt wurde; erst bei wiederholtem Aufenthalt, erst in späteren Jahren, wo ich die Gebirge bloß in mineralogischer Hinsicht betrachtete, konnte ich mich ruhig mit ihnen befassen.“

Wir besahen darauf eine große Folge von Kupferstichen nach Gemälden neuer Künstler aus einer französischen Galerie. Die Erfindung in diesen Bildern war fast durchgehende schwach, so daß wir unter vierzig Stücken kaum vier bis fünf gute fanden. Diese guten waren: ein Mädchen, das sich einen Liebesbrief schreiben läßt; eine Frau in einem maison à vendre, das niemand kaufen will; ein Fischfang; Musikanten vor einem Muttergottesbilde. Auch eine Landschaft in Poussins Manier war nicht übel, wobei Goethe sich folgendermaßen äußerte: ”Solche Künstler“, sagte er, ”haben den allgemeinen Begriff von Poussins Landschaften aufgefaßt, und mit diesem Begriff wirken sie fort. Man kann ihre Bilder nicht gut und nicht schlecht nennen. Sie sind nicht schlecht, weil überall ein tüchtiges Muster hindurchblickt; aber man kann sie nicht gut heißen, weil den Künstlern gewöhnlich Poussins große Persönlichkeit fehlt. Es ist unter den Poeten nicht anders, und es gibt deren, die sich z. B. in Shakespeares großer Manier sehr unzulänglich ausnehmen würden.“

Zum Schluß Rauchs Modell zu Goethes Statue, für Frankfurt bestimmt, lange betrachtet und besprochen.

Dienstag, den 24. Februar 1824

Heute um ein Uhr zu Goethe. Er legte mir Manuskripte vor, die er für das erste Heft des fünften Bandes von ›Kunst und Altertum‹ diktiert hatte. Zu meiner Beurteilung des deutschen ›Paria‹ fand ich von ihm einen Anhang gemacht, sowohl in bezug auf das französische Trauerspiel als seine eigene lyrische Trilogie, wodurch denn dieser Gegenstand gewissermaßen in sich geschlossen war.

”Es ist gut,“ sagte Goethe, ”daß Sie bei Gelegenheit Ihrer Rezension sich die indischen Zustände zu eigen gemacht haben; denn wir behalten von unsern Studien am Ende doch nur das, was wir praktisch anwenden.“

Ich gab ihm recht und sagte, daß ich bei meinem Aufenthalt auf der Akademie diese Erfahrung gemacht, indem ich von den Vorträgen der Lehrer nur das behalten, zu dessen Anwendung eine praktische Richtung in mir gelegen; dagegen hätte ich alles, was nicht später bei mir zur Ausübung gekommen, durchaus vergessen. ”Ich habe“, sagte ich, ”bei Heeren alte und neue Geschichte gehört, aber ich weiß davon kein Wort mehr. Würde ich aber jetzt einen Punkt der Geschichte in der Absicht studieren, um ihn etwa dramatisch darzustellen, so würde ich solche Studien mir sicher für immer zu eigen machen.“

”überhaupt“, sagte Goethe, ”treibt man auf Akademien viel zu viel und gar zu viel Unnützes. Auch dehnen die einzelnen Lehrer ihre Fächer zu weit aus, bei weitem über die Bedürfnisse der Hörer. In früherer Zeit wurde Chemie und Botanik als zur Arzneikunde gehörig vorgetragen, und der Mediziner hatte daran genug. Jetzt aber sind Chemie und Botanik eigene unübersehbare Wissenschaften geworden, deren jede ein ganzes Menschenleben erfordert, und man will sie dem Mediziner mit zumuten! Daraus aber kann nichts werden; das eine wird über das andere unterlassen und vergessen. Wer klug ist, lehnet daher alle zerstreuende Anforderungen ab und beschränkt sich auf ein Fach und wird tüchtig in einem.“

Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Kritik, die er über Byrons ›Kain‹ geschrieben und die ich mit großem Interesse las.

”Man sieht,“ sagte er, ”wie einem freien Geiste wie Byron die Unzulänglichkeit der kirchlichen Dogmen zu schaffen gemacht und wie er sich durch ein solches Stück von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreien gesucht. Die englische Geistlichkeit wird es ihm freilich nicht Dank wissen; mich soll aber wundern, ob er nicht in Darstellung nachbarlicher biblischer Gegensätze fortschreiten wird, und ob er sich ein Sujet wie den Untergang von Sodom und Gomorrha wird entgehen lassen.“

Nach diesen literarischen Betrachtungen lenkte Goethe mein Interesse auf die bildende Kunst, indem er mir einen antiken geschnittenen Stein zeigte, von welchem er schon tags vorher mit Bewunderung gesprochen. Ich war entzückt bei der Betrachtung der Naivität des dargestellten Gegenstandes. Ich sah einen Mann, der ein schweres Gefäß von der Schulter genommen, um einen Knaben daraus trinken zu lassen. Diesem aber ist es noch nicht bequem, noch nicht mundgerecht genug, das Getränk will nicht fließen, und indem er seine beiden Händchen an das Gefäß legt, blickt er zu dem Manne hinauf und scheint ihn zu bitten, es noch ein wenig zu neigen.

”Nun, wie gefällt Ihnen das?“ sagte Goethe. ”Wir Neueren“, fuhr er fort, ”fühlen wohl die große Schönheit eines solchen rein natürlichen, rein naiven Motivs, wir haben auch wohl die Kenntnis und den Begriff, wie es zu machen wäre, allein wir machen es nicht, der Verstand herrschet vor, und es fehlet immer diese entzückende Anmut.“

Wir betrachteten darauf eine Medaille von Brandt in Berlin, den jungen Theseus darstellend, wie er die Waffen seines Vaters unter dem Stein hervornimmt. Die Stellung der Figur hatte viel Löbliches, jedoch vermißten wir eine genugsame Anstrengung der Glieder gegen die Last des Steines. Auch erschien es keineswegs gut gedacht, daß der Jüngling schon in der einen Hand die Waffen hält, während er noch mit der andern den Stein hebt; denn nach der Natur der Sache wird er zuerst den schweren Stein zur Seite werfen und dann die Waffen aufnehmen. ”Dagegen“, sagte Goethe, ”will ich Ihnen eine antike Gemme zeigen, worauf derselbe Gegenstand von einem Alten behandelt ist.“

Er ließ von Stadelmann einen Kasten herbeiholen, worin sich einige hundert Abdrücke antiker Gemmen fanden, die er bei Gelegenheit seiner italienischen Reise sich aus Rom mitgebracht. Da sah ich nun denselbigen Gegenstand von einem alten Griechen behandelt, und zwar wie anders! Der Jüngling stemmt sich mit aller Anstrengung gegen den Stein, auch ist er einer solchen Last gewachsen, denn man sieht das Gewicht schon überwunden und den Stein bereits zu dem Punkt gehoben, um sehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine ganze Körperkraft wendet der junge Held gegen die schwere Masse, und nur seine Blicke richtet er niederwärts auf die unten vor ihm liegenden Waffen.

Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieser Behandlung.

”Meyer pflegt immer zu sagen,“ fiel Goethe lachend ein, ”wenn nur das Denken nicht so schwer wäre! – Das Schlimme aber ist,“ fuhr er heiter fort, ”daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß von Natur richtig sein, so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns zurufen: da sind wir!“

 Mittwoch, den 25. Februar 1824

Goethe zeigte mir heute zwei höchst merkwürdige Gedichte, beide in hohem Grade sittlich in ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich und wahr, daß die Welt dergleichen unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er sie denn auch geheimhielt und an eine öffentliche Mitteilung nicht dachte.

”Könnten Geist und höhere Bildung“, sagte er, ”ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen. So aber muß er sich immer in einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken, daß seine Werke in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich in acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu große Offenheit kein ärgernis gebe. Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein Tyrann, der seine Launen hat und der zu dem, was einer sagt und tut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus anmutete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr ertragen, so daß in der neuesten Zeit ein Family-Shakespeare ein gefühltes Bedürfnis wird.“

”Auch liegt sehr vieles in der Form“, fügte ich hinzu. ”Das eine jener beiden Gedichte, in dem Ton und Versmaß der Alten, hat weit weniger Zurückstoßendes. Einzelne Motive sind allerdings an sich widerwärtig, allein die Behandlung wirft über das Ganze so viel Großheit und Würde, daß es uns wird, als hörten wir einen kräftigen Alten, und als wären wir in die Zeit griechischer Heroen zurückversetzt. Das andere Gedicht dagegen, in dem Ton und der Versart von Meister Ariost, ist weit verfänglicher. Es behandelt ein Abenteuer von heute, in der Sprache von heute, und indem es dadurch ohne alle Umhüllung ganz in unsere Gegenwart hereintritt, erscheinen die einzelnen Kühnheiten bei weitem verwegener.“

”Sie haben recht,“ sagte Goethe, ”es liegen in den verschiedenen poetischen Formen geheimnisvolle große Wirkungen. Wenn man den Inhalt meiner ›Römischen Elegien‹ in den Ton und die Versart von Byrons ›Don Juan‹ übertragen wollte, so müßte sich das Gesagte ganz verrucht ausnehmen.“

Die französischen Zeitungen wurden gebracht. Der beendigte Feldzug der Franzosen in Spanien unter dem Herzog von Angoulême hatte für Goethe großes Interesse. ”Ich muß die Bourbons wegen dieses Schrittes durchaus loben,“ sagte er, ”denn erst hiedurch gewinnen sie ihren Thron, indem sie die Armee gewinnen. Und das ist erreicht. Der Soldat kehret mit Treue für seinen König zurück, denn er hat aus seinen eigenen Siegen sowie aus den Niederlagen der vielköpfig befehligten Spanier die überzeugung gewonnen, was für ein Unterschied es sei, einem einzelnen gehorchen oder vielen. Die Armee hat den alten Ruhm behauptet und an den Tag gelegt, daß sie fortwährend in sich selber brav sei und daß sie auch ohne Napoleon zu siegen vermöge.“

Goethe wendete darauf seine Gedanken in der Geschichte rückwärts und sprach sehr viel über die preußische Armee im Siebenjährigen Kriege, die durch Friedrich den Großen an ein beständiges Siegen gewöhnt und dadurch verwöhnt worden, so daß sie in späterer Zeit aus zu großem Selbstvertrauen so viele Schlachten verloren. Alle einzelnen Details waren ihm gegenwärtig, und ich hatte sein glückliches Gedächtnis zu bewundern.

”Ich habe den großen Vorteil,“ fuhr er fort, ”daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen.

Was uns die nächsten Jahre bringen werden, ist durchaus nicht vorherzusagen; doch ich fürchte, wir kommen so bald nicht zur Ruhe. Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden: den Großen nicht, daß kein Mißbrauch der Gewalt stattfinde, und der Masse nicht, daß sie in Erwartung allmählicher Verbesserungen mit einem mäßigen Zustande sich begnüge. Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüberschwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.

Das Vernünftigste ist immer, daß jeder sein Metier treibe, wozu er geboren ist und was er gelernt hat, und daß er den andern nicht hindere, das seinige zu tun. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer hinter dem Pflug, und der Fürst wisse zu regieren. Denn dies ist auch ein Metier, das gelernt sein will, und das sich niemand anmaßen soll, der es nicht versteht.“

Goethe kam darauf wieder auf die französischen Zeitungen. ”Die Liberalen“, sagte er, ”mögen reden, denn wenn sie vernünftig sind, hört man ihnen gerne zu; allein den Royalisten, in deren Händen die ausübende Gewalt ist, steht das Reden schlecht, sie müssen handeln. Mögen sie Truppen marschieren lassen und köpfen und hängen, das ist recht; allein in öffentlichen Blättern Meinungen bekämpfen und ihre Maßregeln rechtfertigen, das will ihnen nicht kleiden. Gäbe es ein Publikum von Königen, da möchten sie reden.

In dem, was ich selber zu tun und zu treiben hatte,“ fuhr Goethe fort, ”habe ich mich immer als Royalist behauptet. Die anderen habe ich schwatzen lassen, und ich habe getan, was ich für gut fand. Ich übersah meine Sache und wußte, wohin ich wollte. Hatte ich als einzelner einen Fehler begangen, so konnte ich ihn wieder gutmachen hätte ich ihn aber zu dreien und mehreren begangen, so wäre ein Gutmachen unmöglich gewesen, denn unter vielen ist zu vielerlei Meinung.“

Darauf bei Tisch war Goethe von der heitersten Laune. Er zeigte mir das Stammbuch der Frau von Spiegel, worin er sehr schöne Verse geschrieben. Es war ein Platz für ihn zwei Jahre lang offen gelassen, und er war nun froh, daß es ihm gelungen, ein altes Versprechen endlich zu erfüllen. Nachdem ich das Gedicht an Frau von Spiegel gelesen, blätterte ich in dem Buche weiter, wobei ich auf manchen bedeutenden Namen stieß. Gleich auf der nächsten Seite stand ein Gedicht von Tiedge, ganz in der Gesinnung und dem Tone seiner ›Urania‹ geschrieben. ”In einer Anwandlung von Verwegenheit“, sagte Goethe, ”war ich im Begriff einige Verse darunter zu setzen; es freut mich aber, daß ich es unterlassen, denn es ist nicht das erste Mal, daß ich durch rückhaltlose äußerungen gute Menschen zurückgestoßen und die Wirkung meiner besten Sachen verdorben habe.

Indessen“, fuhr Goethe fort, ”habe ich von Tiedges ›Urania‹ nicht wenig auszustehen gehabt; denn es gab eine Zeit, wo nichts gesungen und nichts deklamiert wurde als die ›Urania‹ Wo man hinkam, fand man die ›Urania‹ auf allen Tischen; die ›Urania‹ und die Unsterblichkeit war der Gegenstand jeder Unterhaltung. Ich möchte keineswegs das Glück entbehren, an eine künftige Fortdauer zu glauben; ja ich möchte mit Lorenzo von Medici sagen, daß alle diejenigen auch für dieses Leben tot sind, die kein anderes hoffen; allein solch unbegreifliche Dinge liegen zu fern, um ein Gegenstand täglicher Betrachtung und gedankenzerstörender Spekulation zu sein. Und ferner: wer eine Fortdauer glaubt, der sei glücklich im stillen, aber er hat nicht Ursache, sich darauf etwas einzubilden. Bei Gelegenheit von Tiedges ›Urania‹ indes machte ich die Bemerkung, daß, eben wie der Adel, so auch die Frommen eine gewisse Aristokratie bilden. Ich fand dumme Weiber, die stolz waren, weil sie mit Tiedge an Unsterblichkeit glaubten, und ich mußte es leiden, daß manche mich über diesen Punkt auf eine sehr dünkelhafte Weise examinierten. Ich ärgerte sie aber, indem ich sagte: es könne mir ganz recht sein, wenn nach Ablauf dieses Lebens uns ein abermaliges beglücke; allein ich wolle mir ausbitten, daß mir drüben niemand von denen begegne, die hier daran geglaubt hätten. Denn sonst würde meine Plage erst recht angehen! Die Frommen würden um mich herumkommen und sagen: Haben wir nicht recht gehabt? Haben wir es nicht vorhergesagt? Ist es nicht eingetroffen? Und damit würde denn auch drüben der Langenweile kein Ende sein.

Die Beschäftigung mit Unsterblichkeitsideen“, fuhr Goethe fort, ”ist für vornehme Stände und besonders für Frauenzimmer, die nichts zu tun haben. Ein tüchtiger Mensch aber, der schon hier etwas Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künftige Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in dieser. Ferner sind Unsterblichkeitsgedanken für solche, die in Hinsicht auf Glück hier nicht zum besten weggekommen sind, und ich wollte wetten, wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken.“

Donnerstag, den 26. [?] Februar 1824

Mit Goethe zu Tisch. Nachdem gegessen und abgeräumt war, ließ er durch Stadelmann große Portefeuilles mit Kupferstichen herbeischleppen. Auf den Mappen hatte sich einiger Staub gesammelt, und da keine passende Tücher zum Abwischen in der Nähe waren, so ward Goethe unwillig und schalt seinen Diener. ”Ich erinnere dich zum letzten Mal,“ sagte er, ”denn gehst du nicht noch heute, die oft verlangten Tücher zu kaufen, so gehe ich morgen selbst, und du sollst sehen, daß ich Wort halte.“ Stadelmann ging.

”Ich hatte einmal einen ähnlichen Fall mit dem Schauspieler Becker,“ fuhr Goethe gegen mich heiter fort, ”der sich weigerte, einen Reiter im ›Wallenstein‹ zu spielen. Ich ließ ihm aber sagen, wenn er die Rolle nicht spielen wolle, so würde ich sie selber spielen. Das wirkte. Denn sie kannten mich beim Theater und wußten, daß ich in solchen Dingen keinen Spaß verstand und daß ich verrückt genug war, mein Wort zu halten und das Tollste zu tun.“

”Und würden Sie im Ernst die Rolle gespielt haben?“fragte ich.

”Ja,“ sagte Goethe, ”ich hätte sie gespielt und würde den Herrn Becker heruntergespielt haben, denn ich kannte die Rolle besser als er.“

Wir öffneten darauf die Mappen und schritten zur Betrachtung der Kupfer und Zeichnungen. Goethe verfährt hiebei in bezug auf mich sehr sorgfältig, und ich fühle, daß es seine Absicht ist, mich in der Kunstbetrachtung auf eine höhere Stufe der Einsicht zu bringen. Nur das in seiner Art durchaus Vollendete zeigt er mir und macht mir des Künstlers Intention und Verdienst deutlich, damit ich erreichen möge, die Gedanken der Besten nachzudenken und den Besten gleich zu empfinden. ”Dadurch“, sagte er heute, ”bildet sich das, was wir Geschmack nennen. Denn den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten. Ich zeige Ihnen daher nur das Beste; und wenn Sie sich darin befestigen, so haben Sie einen Maßstab für das übrige, das Sie nicht überschätzen, aber doch schätzen werden. Und ich zeige Ihnen das Beste in jeder Gattung, damit Sie sehen, daß keine Gattung gering zu achten, sondern daß jede erfreulich ist, sobald ein großes Talent darin den Gipfel erreichte. Dieses Bild eines französischen Künstlers z. B. ist galant wie kein anderes und daher ein Musterstück seiner Art.“

Goethe reichte mir das Blatt, und ich sah es mit Freuden. In einem reizenden Zimmer eines Sommerpalais, wo man durch offene Fenster und Türen die Aussicht in den Garten hat, sieht man eine Gruppe der anmutigsten Personen. Eine sitzende schöne Frau von etwa dreißig, Jahren hält ein Notenbuch, woraus sie soeben gesungen zu haben scheint. Etwas tiefer, an ihrer Seite sitzend, lehnt sich ein junges Mädchen von etwa fünfzehn. Rückwärts am offenen Fenster steht eine andere junge Dame, sie hält eine Laute und scheint noch Töne zu greifen. In diesem Augenblick ist ein junger Herr hereingetreten, auf den die Blicke der Frauen sich richten; er scheint die musikalische Unterhaltung unterbrochen zu haben, und indem er mit einer leichten Verbeugung vor ihnen steht, macht er den Eindruck, als sagte er entschuldigende Worte, die vor den Frauen mit Wohlgefallen gehört werden.

”Das, dächte ich,“ sagte Goethe, ”wäre so galant wie irgendein Stück von Calderon, und Sie haben nun in dieser Art das Vorzüglichste gesehen. Was aber sagen Sie hiezu?“

Mit diesen Worten reichte er mir einige radierte Blätter des berühmten Tiermalers Roos, lauter Schafe, und diese Tiere in allen ihren Lagen und Zuständen. Das Einfältige der Physiognomien, das Häßliche, Struppige der Haare, alles mit der äußersten Wahrheit, als wäre es die Natur selber.

”Mir wird immer bange,“ sagte Goethe, ”wenn ich diese Tiere ansehe. Das Beschränkte, Dumpfe, Träumende, Gähnende ihres Zustandes zieht mich in das Mitgefühl desselben hinein man fürchtet, zum Tier zu werden, und möchte fast glauben, der Künstler sei selber eins gewesen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen Grade erstaunenswürdig, wie er sich in die Seelen dieser Geschöpfe hat hineindenken und hineinempfinden können, um den innern Charakter in der äußern Hülle mit solcher Wahrheit durchblicken zu lassen. Man sieht aber, was ein großes Talent machen kann, wenn es bei Gegenständen bleibt, die seiner Natur analog sind.“

”Hat denn dieser Künstler“, sagte ich, ”nicht auch Hunde, Katzen und Raubtiere mit einer ähnlichen Wahrheit gebildet? Ja, hat er, bei der großen Gabe, sich in einen fremden Zustand hineinzufühlen, nicht auch menschliche Charaktere mit einer gleichen Treue behandelt?“

”Nein,“ sagte Goethe, ”alles das lag außer seinem Kreise; dagegen die frommen, grasfressenden Tiere, wie Schafe, Ziegen, Kühe und dergleichen, ward er nicht müde ewig zu wiederholen; dies war seines Talentes eigentliche Region, aus der er auch zeitlebens nicht herausging. Und daran tat er wohl! Das Mitgefühl der Zustände dieser Tiere war ihm angeboren, die Kenntnis ihres Psychologischen war ihm gegeben, und so hatte er denn auch für deren Körperliches ein so glückliches Auge. Andere Geschöpfe dagegen waren ihm vielleicht nicht so durchsichtig, und es fehlte ihm daher zu ihrer Darstellung sowohl Beruf als Trieb.“

Durch diese äußerung Goethes ward manches Analoge in mir aufgeregt, das mir wieder lebhaft vor die Seele trat. So hatte er mir vor einiger Zeit gesagt, daß dem echten Dichter die Kenntnis der Welt angeboren sei und daß er zu ihrer Darstellung keineswegs vieler Erfahrung und einer großen Empirie bedürfe. ”Ich schrieb meinen ›Götz von Berlichingen‹“, sagte er, ”als junger Mensch von zweiundzwanzig und erstaunte zehn Jahre später über die Wahrheit meiner Darstellung. Erlebt und gesehen hatte ich bekanntlich dergleichen nicht, und ich mußte also die Kenntnis mannigfaltiger menschlicher Zustände durch Antizipation besitzen.

überhaupt hatte ich nur Freude an der Darstellung meiner innern Welt, ehe ich die äußere kannte. Als ich nachher in der Wirklichkeit fand, daß die Welt so war, wie ich sie mir gedacht hatte, war sie mir verdrießlich, und ich hatte keine Lust mehr sie darzustellen. Ja, ich möchte sagen: hätte ich mit Darstellung der Welt so lange gewartet, bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung Persiflage geworden.“

”Es liegt in den Charakteren“, sagte er ein andermal, ”eine gewisse Notwendigkeit, eine gewisse Konsequenz, vermöge welcher bei diesem oder jenem Grundzuge eines Charakters gewisse sekundäre Züge stattfinden. Dieses lehrt die Empirie genugsam, es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntnis davon angeboren sein. Ob bei mir Angeborenes und Erfahrung sich vereinige, will ich nicht untersuchen –, aber so viel weiß ich: wenn ich jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich ihn zwei Stunden reden lassen.“

So hatte Goethe von Lord Byron gesagt, daß ihm die Welt durchsichtig sei und daß ihm ihre Darstellung durch Antizipation möglich. Ich äußerte darauf einige Zweifel, ob es Byron z. B. gelingen möchte, eine untergeordnete tierische Natur darzustellen, indem seine Individualität mir zu gewaltsam erscheine, um sich solchen Gegenständen mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieses zu und erwiderte, daß die Antizipation sich überall nur so weit erstrecke, als die Gegenstände dem Talent analog seien, und wir wurden einig, daß in dem Verhältnis, wie die Antizipation beschränkt oder umfassend sei, das darstellende Talent selbst von größerem oder geringerem Umfange befunden werde.

”Wenn Eure Exzellenz behaupten,“ sagte ich darauf, ”daß dem Dichter die Welt angeboren sei, so haben Sie wohl nur die Welt des Innern dabei im Sinne, aber nicht die empirische Welt der Erscheinung und Konvenienz; und wenn also dem Dichter eine wahre Darstellung derselben gelingen soll, so muß doch wohl die Erforschung des Wirklichen hinzukommen?“

”Allerdings,“ erwiderte Goethe, ”es ist so. Die Region der Liebe, des Hasses, der Hoffnung, der Verzweiflung, und wie die Zustände und Leidenschaften der Seele heißen, ist dem Dichter angeboren, und ihre Darstellung gelingt ihm. Es ist aber nicht angeboren, wie man Gericht hält, oder wie man im Parlament oder bei einer Kaiserkrönung verfährt; und um nicht gegen die Wahrheit solcher Dinge zu verstoßen, muß der Dichter sie aus Erfahrung oder überlieferung sich aneignen. So konnte ich im ›Faust‹ den düstern Zustand des Lebensüberdrusses im Helden, sowie die Liebesempfindungen Gretchens recht gut durch Antizipation in meiner Macht haben; allein um z. B. zu sagen:

Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des späten Monds mit feuchter Glut heran –

bedurfte es einiger Beobachtung der Natur.“ ”Es ist aber“, sagte ich, ”im ganzen ›Faust‹ keine Zeile, die nicht von sorgfältiger Durchforschung der Welt und des Lebens unverkennbare Spuren trüge, und man wird keineswegs erinnert, als sei Ihnen das alles, ohne die reichste Erfahrung, nur so geschenkt worden.“

”Mag sein,“ antwortete Goethe; ”allein hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz totes vergebliches Bemühen. Das Licht ist da, und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“

Sonnabend, den 28. [Mittwoch, den 25.] Februar 1824

”Es gibt vortreffliche Menschen,“ sagte Goethe, ”die nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu tun vermögen, sondern deren Natur es verlangt, ihre jedesmaligen Gegenstände mit Ruhe tief zu durchdringen. Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man selten von ihnen erlangt, was man augenblicklich wünscht; allein auf diesem Wege wird das Höchste geleistet.“

Ich brachte das Gespräch auf Ramberg. ”Das ist freilich ein Künstler ganz anderer Art,“ sagte Goethe, ”ein höchst erfreuliches Talent, und zwar ein improvisierendes, das nicht seinesgleichen hat. Er verlangte einst in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm den Agamemnon, wie er, von Troja in seine Heimat zurückkehrend, vom Wagen steigt, und wie es ihm unheimlich wird, die Schwelle seines Hauses zu betreten. Sie werden zugeben, daß dies ein Gegenstand der allerschwierigsten Sorte ist, der bei einem anderen Künstler die reiflichste überlegung würde erfordert haben.

Ich hatte aber kaum das Wort ausgesprochen, als Ramberg schon an zu zeichnen fing, und zwar mußte ich bewundern, wie er den Gegenstand sogleich richtig auffaßte. Ich kann nicht leugnen, ich möchte einige Blätter von Rambergs Hand besitzen.“

Wir sprachen sodann über andere Künstler, die in ihren Werken leichtsinnig verfahren und zuletzt in Manier zugrunde gehen.

”Die Manier“, sagte Goethe, ”will immer fertig sein und hat keinen Genuß an der Arbeit. Das echte, wahrhaft große Talent aber findet sein höchstes Glück in der Ausführung. Roos ist unermüdlich in emsiger Zeichnung der Haare und Wolle seiner Ziegen und Schafe, und man sieht an dem unendlichen Detail, daß er während der Arbeit die reinste Seligkeit genoß und nicht daran dachte fertig zu werden.

Geringeren Talenten genügt nicht die Kunst als solche; sie haben während der Ausführung immer nur den Gewinn vor Augen, den sie durch ein fertiges Werk zu erreichen hoffen. Bei so weltlichen Zwecken und Richtungen aber kann nichts Großes zustande kommen.“

Sonntag, den 29. Februar 1824

Ich ging um zwölf Uhr zu Goethe, der mich vor Tisch zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Ich fand ihn frühstückend, als ich zu ihm hereintrat, und setzte mich ihm gegenüber, indem ich das Gespräch auf die Arbeiten brachte, die uns gemeinschaftlich in bezug auf die neue Ausgabe seiner Werke beschäftigten. Ich redete ihm zu, sowohl seine ›Götter, Helden und Wieland‹ als auch seine ›Briefe des Pastors‹ in diese neue Edition mit aufzunehmen.

”Ich habe“, sagte Goethe, ”auf meinem jetzigen Standpunkt über jene jugendlichen Produktionen eigentlich kein Urteil. Da mögt ihr Jüngeren entscheiden. Ich will indes jene Anfänge nicht schelten; ich war freilich noch dunkel und strebte in bewußtlosem Drange vor mir hin, aber ich hatte ein Gefühl des Rechten, eine Wünschelrute, die mir anzeigte, wo Gold war.“

Ich machte bemerklich, daß dieses bei jedem großen Talent der Fall sein müsse, indem es sonst bei seinem Erwachen in der gemischten Welt nicht das Rechte ergreifen und das Verkehrte vermeiden würde.

Es war indes angespannt, und wir fuhren den Weg nach Jena hinaus. Wir sprachen verschiedene Dinge, Goethe erwähnte die neuen französischen Zeitungen.

”Die Konstitution in Frankreich,“ sagte er, ”bei einem Volke, das so viele verdorbene Elemente in sich hat, ruht auf ganz anderem Fundament als die in England. Es ist in Frankreich alles durch Bestechungen zu erreichen, ja die ganze Französische Revolution ist durch Bestechungen geleitet worden.“

Darauf erzählte mir Goethe die Nachricht von dem Tode Eugen Napoleons, Herzog von Leuchtenberg, die diesen Morgen eingegangen, welcher Fall ihn tief zu betrüben schien. ”Er war einer von den großen Charakteren,“ sagte Goethe, ”die immer seltener werden, und die Welt ist abermals um einen bedeutenden Menschen ärmer. Ich kannte ihn persönlich; noch vorigen Sommer war ich mit ihm in Marienbad zusammen. Er war ein schöner Mann von etwa zweiundvierzig Jahren, aber er schien älter zu sein, und das war kein Wunder, wenn man bedenkt, was er ausgestanden und wie in seinem Leben sich ein Feldzug und eine große Tat auf die andere drängte. Er teilte mir in Marienbad einen Plan mit, über dessen Ausführung er viel mit mir verhandelte. Er ging nämlich damit um, den Rhein mit der Donau durch einen Kanal zu vereinigen. Ein riesenhaftes Unternehmen, wenn man die widerstrebende Lokalität bedenkt. Aber jemandem, der unter Napoleon gedient und mit ihm die Welt erschüttert hat, erscheint nichts unmöglich. Karl der Große hatte schon denselbigen Plan und ließ auch mit der Arbeit anfangen; allein das Unternehmen geriet bald in Stocken: der Sand wollte nicht Stich halten, die Erdmassen fielen von beiden Seiten immer wieder zusammen.“

Montag, den 22. März 1824

Mit Goethe vor Tisch nach seinem Garten gefahren.

Die Lage dieses Gartens, jenseits der Ilm, in der Nähe des Parks, an dem westlichen Abhange eines Hügelzuges, hat etwas sehr Trauliches. Vor Nord- und Ostwinden geschützt, ist er den erwärmenden und belebenden Einwirkungen des südlichen und westlichen Himmels offen, welches ihn besonders im Herbst und Frühling zu einem höchst angenehmen Aufenthalte macht.

Der in nordwestlicher Richtung liegenden Stadt ist man so nahe, daß man in wenigen Minuten dort sein kann, und doch, wenn man umherblickt, sieht man nirgend ein Gebäude oder eine Turmspitze ragen, die an eine solche städtische Nähe erinnern könnte; die hohen dichten Bäume des Parks verhüllen alle Aussicht nach jener Seite. Sie ziehen sich links, nach Norden zu, unter dem Namen des Sternes, ganz nahe an den Fahrweg heran, der unmittelbar vor dem Garten vorüberführt.

Gegen Westen und Südwesten blickt man frei über eine geräumige Wiese hin, durch welche in der Entfernung eines guten Pfeilschusses die Ilm in stillen Windungen vorbeigeht. Jenseits des Flusses erhebt sich das Ufer gleichfalls hügelartig, an dessen Abhängen und auf dessen Höhen, in den mannigfaltigen Laubschattierungen hoher Erlen, Eschen, Pappelweiden und Birken, der sich breit hinziehende Park grünet, indem er den Horizont gegen Mittag und Abend in erfreulicher Entfernung begrenzet.

Diese Ansicht des Parkes über die Wiese hin, besonders im Sommer, gewährt den Eindruck, als sei man in der Nähe eines Waldes, der sich stundenweit ausdehnt. Man denkt, es müsse jeden Augenblick ein Hirsch, ein Reh auf die Wiesenfläche hervorkommen. Man fühlt sich in den Frieden tiefer Natureinsamkeit versetzt, denn die große Stille ist oft durch nichts unterbrochen als durch die einsamen Töne der Amsel oder durch den pausenweise abwechselnden Gesang einer Walddrossel.

Aus solchen Träumen gänzlicher Abgeschiedenheit erwecket uns jedoch das gelegentliche Schlagen der Turmuhr, das Geschrei der Pfauen von der Höhe des Parks herüber, oder das Trommeln und Hörnerblasen des Militärs der Kaserne. Und zwar nicht unangenehm; denn es erwacht mit solchen Tönen das behagliche Nähegefühl der heimatlichen Stadt, von der man sich meilenweit versetzt glaubte.

Zu gewissen Tages- und Jahreszeiten sind diese Wiesenflächen nichts weniger als einsam. Bald sieht man Landleute, die nach Weimar zu Markt oder in Arbeit gehen und von dort zurückkommen, bald Spaziergänger aller Art längs den Krümmungen der Ilm, besonders in der Richtung nach Oberweimar, das zu gewissen Tagen ein sehr besuchten Ort ist. Sodann die Zeit der Heuernte belebt diese Räume auf das heiterste. Hinterdrein sieht man weidende Schafherden, auch wohl die stattlichen Schweizerkühe der nahen ökonomie.

Heute jedoch war von allen diesen die Sinne erquickenden Sommererscheinungen noch keine Spur. Auf den Wiesen waren kaum einige grünende Stellen sichtbar, die Bäume des Parks standen noch in braunen Zweigen und Knospen; doch verkündigte der Schlag der Finken sowie der hin und wieder vernehmbare Gesang der Amsel und Drossel das Herannahen des Frühlings.

Die Luft war sommerartig, angenehm; es wehte ein sehr linder Südwestwind. Einzelne kleine Gewitterwolken zogen am heitern Himmel herüber; sehr hoch bemerkte man sich auflösende Cirrusstreifen. Wir betrachteten die Wolken genau und sahen, daß sich die ziehenden geballten der untern Region gleichfalls auflösten, woraus Goethe schloß, daß das Barometer im Steigen begriffen sein müsse.

Goethe sprach darauf sehr viel über das Steigen und Fallen des Barometers welches er die Wasserbejahung und Wasserverneinung nannte. Er sprach über das Ein- und Ausatmen der Erde nach ewigen Gesetzen, über eine mögliche Sündflut bei fortwährender Wasserbejahung. Ferner: daß jeder Ort seine eigene Atmosphäre habe, daß jedoch in den Barometerständen von Europa eine große Gleichheit stattfinde. Die Natur sei inkommensurabel, und bei den großen Irregularitäten sei es sehr schwer, das Gesetzliche zu finden.

Während er mich so über höhere Dinge belehrte, gingen wir in dem breiten Sandwege des Gartens auf und ab. Wir traten in die Nähe des Hauses, das er seinem Diener aufzuschließen befahl, um mir später das Innere zu zeigen. Die weißabgetünchten Außenseiten sah ich ganz mit Rosenstöcken umgeben, die, von Spalieren gehalten, sich bis zum Dache hinaufgerankt hatten. Ich ging um das Haus herum und bemerkte zu meinem besonderen Interesse an den Wänden in den Zweigen des Rosengebüsches eine große Zahl mannigfaltiger Vogelnester, die sich von vorigem Sommer her erhalten hatten und jetzt bei mangelndem Laube den Blicken freistanden, besonders Nester der Hänflinge und verschiedener Art Grasemücken, wie sie höher oder niedriger zu bauen Neigung haben.

Goethe führte mich darauf in das Innere des Hauses, das ich vorigen Sommer zu sehen versäumt hatte. Unten fand ich nur ein wohnbares Zimmer, an dessen Wänden einige Karten und Kupferstiche hingen, desgleichen ein farbiges Porträt Goethes in Lebensgröße, und zwar von Meyer gemalt bald nach der Zurückkunft beider Freunde aus Italien. Goethe erscheint hier im kräftigen mittleren Mannesalter, sehr braun und etwas stark. Der Ausdruck des wenig belebten Gesichtes ist sehr ernst; man glaubt einen Mann zu sehen, dem die Last künftiger Taten auf der Seele liegt.

Wir gingen die Treppe hinauf in die oberen Zimmer; ich fand deren drei und ein Kabinettchen, aber alle sehr klein und ohne eigentliche Bequemlichkeit. Goethe sagte, daß er in früheren Jahren hier eine ganze Zeit mit Freuden gewohnt und sehr ruhig gearbeitet habe.

Die Temperatur dieser Zimmer war etwas kühl, und wir trachteten wieder nach der milden Wärme im Freien. In dem Hauptwege in der Mittagssonne auf und ab gehend, kam das Gespräch auf die neueste Literatur, auf Schelling, und unter andern auch auf einige neue Schauspiele von Platen.

Bald jedoch kehrte unsere Aufmerksamkeit auf die uns umgebende nächste Natur zurück. Die Kaiserkronen und Lilien sproßten schon mächtig, auch kamen die Malven zu beiden Seiten des Weges schon grünend hervor.

Der obere Teil des Gartens, am Abhange des Hügels, liegt als Wiese mit einzelnen zerstreut stehenden Obstbäumen. Wege schlängeln sich hinauf, längs der Höhe hin und wieder herunter, welches einige Neigung in mir erregte, mich oben umzusehen. Goethe schritt, diese Wege hinansteigend, mir rasch voran, und ich freute mich über seine Rüstigkeit.

Oben an der Hecke fanden wir eine Pfauhenne, die vom fürstlichen Park herübergekommen zu sein schien; wobei Goethe mir sagte, daß er in Sommertagen die Pfauen durch ein beliebtes Futter herüberzulocken und herzugewöhnen pflege.

An der anderen Seite den sich schlängelnden Weg herabkommend, fand ich von Gebüsch umgeben einen Stein mit den eingehauenen Versen des bekannten Gedichtes:

Hier im Stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten –

und ich hatte das Gefühl, daß ich mich an einer klassischen Stelle befinde.

Ganz nahe dabei kamen wir auf eine Baumgruppe halbwüchsiger Eichen, Tannen, Birken und Buchen. Unter den Tannen fand ich ein herabgeworfenes Gewölle eines Raubvogels; ich zeigte es Goethen, der mir erwiderte, daß er dergleichen an dieser Stelle häufig gefunden, woraus ich schloß, daß diese Tannen ein beliebter Aufenthalt einiger Eulen sein mögen, die in dieser Gegend häufig gefunden werden.

Wir traten um die Baumgruppe herum und befanden uns wieder an dem Hauptwege in der Nähe des Hauses. Die soeben umschrittenen Eichen, Tannen, Birken und Buchen, wie sie untermischt stehen, bilden hier einen Halbkreis, den innern Raum grottenartig überwölbend, worin wir uns auf kleinen Stühlen setzten, die einen runden Tisch umgaben. Die Sonne war so mächtig, daß der geringe Schatten dieser blätterlosen Bäume bereits als eine Wohltat empfunden ward. ”Bei großer Sommerhitze“, sagte Goethe, ”weiß ich keine bessere Zuflucht als diese Stelle. Ich habe die Bäume vor vierzig Jahren alle eigenhändig gepflanzt, ich habe die Freude gehabt, sie heranwachsen zu sehen, und genieße nun schon seit geraumer Zeit die Erquickung ihres Schattens. Das Laub dieser Eichen und Buchen ist der mächtigsten Sonne undurchdringlich; ich sitze hier gerne an warmen Sommertagen nach Tische, wo denn auf diesen Wiesen und auf dem ganzen Park umher oft eine Stille herrscht, von der die Alten sagen würden: daß der Pan schlafe.“

Indessen hörten wir es in der Stadt zwei Uhr schlagen und fuhren zurück.

Dienstag, den 30. März 1824

Abends bei Goethe. – Ich war alleine mit ihm. Wir sprachen vielerlei und tranken eine Flasche Wein dazu. Wir sprachen über das französische Theater im Gegensatz zum deutschen.

”Es wird schwer halten,“ sagte Goethe, ”daß das deutsche Publikum zu einer Art von reinem Urteil komme, wie man es etwa in Italien und Frankreich findet. Und zwar ist uns besonders hinderlich, daß auf unseren Bühnen alles durcheinander gegeben wird. An derselbigen Stelle, wo wir gestern den ›Hamlet‹ sahen, sehen wir heute den ›Staberle‹, und wo uns morgen die ›Zauberflöte‹ entzückt, sollen wir übermorgen an den Späßen des ›Neuen Sonntagskindes‹ Gefallen finden. Dadurch entsteht beim Publikum eine Konfusion im Urteil, eine Vermengung der verschiedenen Gattungen, die es nie gehörig schätzen und begreifen lernt. Und dann hat jeder seine individuellen Forderungen und seine persönlichen Wünsche, mit denen er sich wieder nach der Stelle wendet, wo er sie realisiert fand. An demselbigen Baum, wo er heute Feigen gepflückt, will er sie morgen wieder pflücken, und er würde ein sehr verdrießliches Gesicht machen, wenn etwa über Nacht Schlehen gewachsen wären. Ist aber jemand Freund von Schlehen, der wendet sich an die Dornen.

Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes Haus für die Tragödie zu bauen, auch jede Woche ein Stück bloß für Männer zu geben. Allein dies setzte eine sehr große Residenz voraus und war in unsern kleinen Verhältnissen nicht zu realisieren.“

Wir sprachen über die Stücke von Iffland und Kotzebue, die Goethe in ihrer Art sehr hoch schätzte. ”Eben aus dem gedachten Fehler,“ sagte er, ”daß niemand die Gattungen gehörig unterscheidet, sind die Stücke jener Männer oft sehr ungerechterweise getadelt worden. Man kann aber lange warten, ehe ein paar so populare Talente wieder kommen.“

Ich lobte Ifflands ›Hagestolzen‹, die mir von der Bühne herunter sehr wohl gefallen hatten. ”Es ist ohne Frage Ifflands bestes Stück,“ sagte Goethe; ”es ist das einzige, wo er aus der Prosa ins Ideelle geht.“

Er erzählte mir darauf von einem Stück, welches er mit Schiller als Fortsetzung der ›Hagestolzen‹ gemacht, aber nicht geschrieben, sondern bloß gesprächsweise gemacht. Goethe entwickelte mir die Handlung Szene für Szene; es war sehr artig und heiter, und ich hatte daran große Freude.

Goethe sprach darauf über einige neue Schauspiele von Platen. ”Man sieht“, sagte er, ”an diesen Stücken die Einwirkung Calderons. Sie sind durchaus geistreich und in gewisser Hinsicht vollendet, allein es fehlt ihnen ein spezifisches Gewicht, eine gewisse Schwere des Gehalts. Sie sind nicht der Art, um im Gemüt des Lesers ein tiefes und nachwirkendes Interesse zu erregen, vielmehr berühren sie die Saiten unseres Innern nur leicht und vorübereilend. Sie gleichen dem Kork, der auf dem Wasser schwimmend keinen Eindruck macht, sondern von der Oberfläche sehr leicht getragen wird.

Der Deutsche verlangt einen gewissen Ernst, eine gewisse Größe der Gesinnung, eine gewisse Fülle des Innern, weshalb denn auch Schiller von allen so hoch gehalten wird. Ich zweifle nun keinesfalls an Platens sehr tüchtigem Charakter, allein das kommt, wahrscheinlich aus einer abweichenden Kunstansicht, hier nicht zur Erscheinung. Er entwickelt eine reiche Bildung, Geist, treffenden Witz und sehr viele künstlerische Vollendung; allein damit ist es, besonders bei uns Deutschen, nicht getan.

überhaupt: der persönliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die Künste seines Talents. Napoleon sagte von Corneille: ›S'il vivait, je le ferais Prince‹ – und er las ihn nicht. Den Racine las er, aber von diesem sagte er es nicht. Deshalb steht auch der Lafontaine bei den Franzosen in so hoher Achtung, nicht seines poetischen Verdienstes wegen, sondern wegen der Großheit seines Charakters, der aus seinen Schriften hervorgeht.“

Wir kamen sodann auf die ›Wahlverwandtschaften‹ zu reden, und Goethe erzählte mir von einem durchreisenden Engländer, der sich scheiden lassen wolle, wenn er nach England zurückkäme. Er lachte über solche Torheit und erwähnte mehrere Beispiele von Geschiedenen, die nachher doch nicht hätten voneinander lassen können.

”Der selige Reinhard in Dresden“, sagte er, ”wunderte sich oft über mich, daß ich in bezug auf die Ehe so strenge Grundsätze habe, während ich doch in allen übrigen Dingen so läßlich denke.“

Diese äußerung Goethes war mir aus dem Grunde merkwürdig, weil sie ganz entschieden an den Tag legt, wie er es mit jenem so oft gemißdeuteten Romane eigentlich gemeint hat.

Wir sprachen darauf über Tieck und dessen persönliche Stellung zu Goethe.

”Ich bin Tiecken herzlich gut,“ sagte Goethe, ”und er ist auch im ganzen sehr gut gegen mich gesinnt; allein es ist in seinem Verhältnis zu mir doch etwas, wie es nicht sein sollte. Und zwar bin ich daran nicht schuld, und er ist es auch nicht, sondern es hat seine Ursachen anderer Art.

Als nämlich die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu mächtig, und um mich zu balancieren, mußten sie sich nach einem Talent umsehen, das sie mir entgegenstellten. Ein solches fanden sie in Tieck, und damit er mir gegenüber in den Augen des Publikums genugsam bedeutend erscheine, so mußten sie mehr aus ihm machen, als er war. Dieses schadete unserm Verhältnis; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es sich eigentlich bewußt zu werden, in eine schiefe Stellung.

Tieck ist ein Talent von hoher Bedeutung, und es kann seine außerordentlichen Verdienste niemand besser erkennen als ich selber; allein wenn man ihn über ihn selbst erheben und mir gleichstellen will, so ist man im Irrtum. Ich kann dieses geradeheraus sagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es wäre ebenso, wenn ich mich mit Shakespeare vergleichen wollte, der sich auch nicht gemacht hat und der doch ein Wesen höherer Art ist, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe.“

Goethe war diesen Abend besonders kräftig, heiter und aufgelegt. Er holte ein Manuskript ungedruckter Gedichte herbei, woraus er mir vorlas. Es war ein Genuß ganz einziger Art, ihm zuzuhören, denn nicht allein daß die originelle Kraft und Frische der Gedichte mich in hohem Grade anregte, sondern Goethe zeigte sich auch beim Vorlesen von einer mir bisher unbekannten höchst bedeutenden Seite. Welche Mannigfaltigkeit und Kraft der Stimme! Welcher Ausdruck und welches Leben des großen Gesichtes voller Falten! Und welche Augen!

Mittwoch, den 14. April 1824

Um ein Uhr mit Goethe spazieren gefahren. Wir sprachen über den Stil verschiedener Schriftsteller.

”Den Deutschen“, sagte Goethe, ”ist im ganzen die philosophische Spekulation hinderlich, die in ihren Stil oft ein unsinnliches, unfaßliches, breites und aufdröselndes Wesen hineinbringt. Je näher sie sich gewissen philosophischen Schulen hingeben, desto schlechter schreiben sie. Diejenigen Deutschen aber, die als Geschäfts- und Lebemenschen bloß aufs Praktische gehen, schreiben am besten. So ist Schillers Stil am prächtigsten und wirksamsten, sobald er nicht philosophiert, wie ich noch heute an seinen höchst bedeutenden Briefen gesehen, mit denen ich mich grade beschäftige.

Gleicherweise gibt es unter deutschen Frauenzimmern geniale Wesen, die einen ganz vortrefflichen Stil schreiben, so daß sie sogar manche unserer gepriesenen Schriftsteller darin übertreffen.

Die Engländer schreiben in der Regel alle gut, als geborene Redner und als praktische, auf das Reale gerichtete Menschen.

Die Franzosen verleugnen ihren allgemeinen Charakter auch in ihrem Stil nicht. Sie sind geselliger Natur und vergessen als solche nie das Publikum, zu dem sie reden; sie bemühen sich klar zu sein, um ihren Leser zu überzeugen, und anmutig, um ihm zu gefallen.

Im ganzen ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines Innern; will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor klar in seiner Seele; und will jemand einen großartigen Stil schreiben, so habe er einen großartigen Charakter.“

Goethe sprach darauf über seine Gegner und daß dieses Geschlecht nie aussterbe. ”Ihre Zahl ist Legion,“ sagte er, ”doch ist es nicht unmöglich, sie einigermaßen zu klassifizieren.

Zuerst nenne ich meine Gegner aus Dummheit; es sind solche, die mich nicht verstanden und die mich tadelten, ohne mich zu kennen. Diese ansehnliche Masse hat mir in meinem Leben viele Langeweile gemacht; doch es soll ihnen verziehen sein, denn sie wußten nicht, was sie taten.

Eine zweite große Menge bilden sodann meine Neider. Diese Leute gönnen mir das Glück und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich durch mein Talent mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und hätten mich gerne vernichtet. Wäre ich unglücklich und elend, so würden sie aufhören.

Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus Mangel an eigenem Sukzeß meine Gegner geworden. Es sind begabte Talente darunter, allein sie können mir nicht verzeihen, daß ich sie verdunkele.

Viertens nenne ich meine Gegner aus Gründen. Denn da ich ein Mensch bin und als solcher menschliche Fehler und Schwächen habe, so können auch meine Schriften davon nicht frei sein. Da es mir aber mit meiner Bildung ernst war und ich an meiner Veredelung unablässig arbeitete, so war ich im beständigen Fortstreben begriffen, und es ereignete sich oft, daß sie mich wegen eines Fehlers tadelten, den ich längst abgelegt hatte. Diese Guten haben mich am wenigsten verletzt; sie schossen nach mir, wenn ich schon meilenweit von ihnen entfernt war. überhaupt war ein abgemachtes Werk mir ziemlich gleichgültig; ich befaßte mich nicht weiter damit und dachte sogleich an etwas Neues.

Eine fernere große Masse zeigt sich als meine Gegner aus abweichender Denkungsweise und verschiedenen Ansichten. Man sagt von den Blättern eines Baumes, daß deren kaum zwei vollkommen gleich befunden werden, und so möchten sich auch unter tausend Menschen kaum zwei finden, die in ihrer Gesinnungs- und Denkungsweise vollkommen harmonieren. Setze ich dieses voraus, so sollte ich mich billig weniger darüber wundern, daß die Zahl meiner Widersacher so groß ist, als vielmehr darüber, daß ich noch so viele Freunde und Anhänger habe. Meine ganze Zeit wich von mir ab, denn sie war ganz in subjektiver Richtung begriffen, während ich in meinem objektiven Bestreben im Nachteile und völlig allein stand.

Schiller hatte in dieser Hinsicht vor mir große Avantagen. Ein wohlmeinender General gab mir daher einst nicht undeutlich zu verstehen, ich möchte es doch machen wie Schiller. Darauf setzte ich ihm Schillers Verdienste erst recht auseinander, denn ich kannte sie doch besser als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig fort, ohne mich um den Sukzeß weiter zu bekümmern, und von allen meinen Gegnern nahm ich so wenig Notiz als möglich.“

Wir fuhren zurück und waren darauf bei Tische sehr heiter. Frau von Goethe erzählte viel von Berlin, woher sie vor kurzem gekommen; sie sprach mit besonderer Wärme von der Herzogin von Cumberland, die ihr viel Freundliches erwiesen. Goethe erinnerte sich dieser Fürstin, die als sehr junge Prinzeß eine Zeitlang bei seiner Mutter gewohnt, mit besonderer Neigung.

Abends hatte ich bei Goethe einen musikalischen Kunstgenuß bedeutender Art, indem ich den ›Messias‹ von Händel teilweise vortragen hörte, wozu einige treffliche Sänger sich unter Eberweins Leitung vereinigt hatten. Auch Gräfin Karoline von Egloffstein, Fräulein von Froriep, sowie Frau von Pogwisch und Frau von Goethe hatten sich den Sängerinnen angeschlossen und wirkten dadurch zur Erfüllung eines lange gehegten Wunsches von Goethe auf das freundlichste mit.

Goethe, in einiger Ferne sitzend, im Zuhören vertieft, verlebte einen glücklichen Abend, voll Bewunderung des großartigen Werkes.

Montag, den 19. April 1824

Der größte Philologe unserer Zeit, Friedrich August Wolf aus Berlin, ist hier, auf seiner Durchreise nach dem südlichen Frankreich begriffen. Goethe gab ihm zu Ehren heute ein Diner, wobei von weimarischen Freunden Generalsuperintendent Röhr, Kanzler von Müller, Oberbaudirektor Coudray, Professor Riemer und Hofrat Rehbein außer mir anwesend waren. über Tisch ging es äußerst heiter zu: Wolf gab manchen geistreichen Einfall zum besten; Goethe, in der anmutigsten Laune, spielte immer den Gegner. ”Ich kann mit Wolf nicht anders auskommen,“ sagte Goethe mir später, ”als daß ich immer als Mephistopheles gegen ihn agiere. Auch geht er sonst mit seinen inneren Schätzen nicht hervor.“

Die geistreichen Scherze über Tisch waren zu flüchtig und zu sehr die Frucht des Augenblicks, als daß man sich ihrer hätte bemächtigen können. Wolf war in witzigen und schlagenden Antworten und Wendungen sehr groß, doch kam es mir vor, als ob Goethe dennoch eine gewisse Superiorität über ihn behauptet hätte.

Die Stunden bei Tisch entschwunden wie mit Flügeln, und es war sechs Uhr geworden, ehe man es sich versah. Ich ging mit dem jungen Goethe ins Theater, wo man die ›Zauberflöte‹ gab. Später sah ich auch Wolf in der Loge mit dem Großherzog Carl August.

Wolf blieb bis zum 25. in Weimar, wo er in das südliche Frankreich abreiste. Der Zustand seiner Gesundheit war derart, daß Goethe die innigste Besorgnis über ihn nicht verhehlte.

Sonntag, den 2. Mai 1824

Goethe machte mir Vorwürfe, daß ich eine hiesige angesehene Familie nicht besucht. ”Sie hätten“, sagte er, ”im Laufe des Winters dort manchen genußreichen Abend verleben, auch die Bekanntschaft manches bedeutenden Fremden dort machen können; das ist Ihnen nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren gegangen.“

”Bei meiner erregbaren Natur“, antwortete ich, ”und bei meiner Disposition, vielseitig Interesse zu nehmen und in fremde Zustände einzugehen, hätte mir nichts lästiger und verderblicher sein können als eine zu große Fülle neuer Eindrücke. Ich bin nicht zu Gesellschaften erzogen und nicht darin hergekommen. Meine früheren Lebenszustände waren der Art, daß es mir ist, als hätte ich erst seit der kurzen Zeit zu leben angefangen, die ich in Ihrer Nähe bin. Nun ist mir alles neu. Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht in meinem Innern Epoche. Was an anders kultivierten und anders gewöhnten Personen gleichgültig vorübergeht, ist bei mir im höchsten Grade wirksam; und da die Begier, mich zu belehren, groß ist, so ergreift meine Seele alles mit einer gewissen Energie und saugt daraus so viele Nahrung als möglich. Bei solcher Lage meines Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Winters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkommen genug, und ich hätte mich nicht neuen Bekanntschaften und anderem Umgange hingeben können, ohne mich im Innersten zu zerstören.“

”Ihr seid ein wunderlicher Christ,“ sagte Goethe lachend; ”tut, was Ihr wollt, ich will Euch gewähren lassen.“

”Und dann“, fuhr ich fort, ”trage ich in die Gesellschaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und Abneigungen und ein gewisses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich gerne hingeben und mit den andern nichts zu tun haben.“

”Diese Ihre Naturtendenz“, erwiderte Goethe, ”ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit, zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen. Ich habe es nie getan. Ich habe einen Menschen immer nur als ein für sich bestehendes Individuum angesehen, das ich zu erforschen und das ich in seiner Eigentümlichkeit kennen zu lernen trachtete, wovon ich aber durchaus keine weitere Sympathie verlange. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis mannigfaltiger Charaktere sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen, und dadurch werden alle die verschiedenen Seiten in uns angeregt und zur Entwickelung und Ausbildung gebracht, so daß man sich denn bald jedem Vis-à-vis gewachsen fühlt. So sollen Sie es auch machen. Sie haben dazu mehr Anlage, als Sie selber glauben; und das hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein, Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.“

Ich merkte mir diese guten Worte und nahm mir vor, soviel wie möglich danach zu handeln.

Gegen Abend hatte Goethe mich zu einer Spazierfahrt einladen lassen. Unser Weg ging durch Oberweimar über die Hügel, wo man gegen Westen die Ansicht des Parkes hat. Die Bäume blühten, die Birken waren schon belaubt und die Wiesen durchaus ein grüner Teppich, über welche die sinkende Sonne herstreifte. Wir suchten malerische Gruppen und konnten die Augen nicht genug auftun. Es ward bemerkt, daß weißblühende Bäume nicht zu malen, weil sie kein Bild machen, sowie daß grünende Birken nicht im Vordergrunde eines Bildes zu gebrauchen, indem das schwache Laub dem weißen Stamme nicht das Gleichgewicht zu halten vermöge; es bilde keine große Partieen, die man durch mächtige Licht- und Schattenmassen herausheben könne. ”Ruysdael“, sagte Goethe, ”hat daher nie belaubte Birken in den Vordergrund gestellt, sondern bloße Birken-Stämme, abgebrochene, die kein Laub haben. Ein solcher Stamm paßt vortrefflich in den Vordergrund, denn seine helle Gestalt tritt auf das mächtigste heraus.“

Wir sprachen sodann, nach flüchtiger Berührung anderer Gegenstände, über die falsche Tendenz solcher Künstler, welche die Religion zur Kunst machen wollen, während ihnen die Kunst Religion sein sollte. ”Die Religion“, sagte Goethe, ”steht in demselbigen Verhältnis zur Kunst wie jedes andere höhere Lebensinteresse auch. Sie ist bloß als Stoff zu betrachten, der mit allen übrigen Lebensstoffen gleiche Rechte hat. Auch sind Glaube und Unglaube durchaus nicht diejenigen Organe, mit welchen ein Kunstwerk aufzufassen ist, vielmehr gehören dazu ganz andere menschliche Kräfte und Fähigkeiten. Die Kunst aber soll für diejenigen Organe bilden, mit denen wir sie auffassen; tut sie das nicht, so verfehlt sie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche Wirkung an uns vorüber. Ein religiöser Stoff kann indes gleichfalls ein guter Gegenstand für die Kunst sein, jedoch nur in dem Fall, wenn er allgemein menschlich ist. Deshalb ist eine Jungfrau mit dem Kinde ein durchaus guter Gegenstand, der hundertmal behandelt worden und immer gern wieder gesehen wird.“

Wir waren indes um das Gehölz, das Webicht, gefahren und bogen in der Nähe von Tiefurt in den Weg nach Weimar zurück, wo wir die untergehende Sonne im Anblick hatten. Goethe war eine Weile in Gedanken verloren, dann sprach er zu mir die Worte eines Alten:

Untergehend sogar ists immer dieselbige Sonne.

”Wenn einer fünfundsiebzig Jahre alt ist,“ fuhr er darauf mit großer Heiterkeit fort, ”kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denke. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.“

Die Sonne war indes hinter dem Ettersberge hinabgegangen; wir spürten in dem Gehölz einige Abendkühle und fuhren desto rascher in Weimar hinein und an seinem Hause vor. Goethe bat mich, noch ein wenig mit hinaufzukommen, welches ich tat. Er war in äußerst guter, liebenswürdiger Stimmung. Er sprach darauf besonders viel über die Farbenlehre, über seine versteckten Gegner, und daß er das Bewußtsein habe, in dieser Wissenschaft etwas geleistet zu haben.

”Um Epoche in der Welt zu machen,“ sagte er bei dieser Gelegenheit, ”dazu gehören bekanntlich zwei Dinge: erstens, daß man ein guter Kopf sei, und zweitens, daß man eine große Erbschaft tue. Napoleon erbte die Französische Revolution, Friedrich der Große den Schlesischen Krieg, Luther die Finsternis der Pfaffen, und mir ist der Irrtum der Newtonischen Lehre zuteil geworden. Die gegenwärtige Generation hat zwar keine Ahnung, was hierin von mir geleistet worden; doch künftige Zeiten werden gestehen, daß mir keineswegs eine schlechte Erbschaft zugefallen.“

Goethe hatte mir heute früh ein Konvolut Papiere in bezug auf das Theater zugesendet; besonders fand ich darin zerstreute einzelne Bemerkungen, die Regeln und Studien enthaltend, die er mit Wolf und Grüner durchgemacht, um sie zu tüchtigen Schauspielern zu bilden. Ich fand diese Einzelnheiten von Bedeutung und für junge Schauspieler in hohem Grade lehrreich, weshalb ich mir vornahm, sie zusammenzustellen und daraus eine Art von Theaterkatechismus zu bilden. Goethe billigte dieses Vorhaben, und wir sprachen die Angelegenheit weiter durch. Dies gab Veranlassung, einiger bedeutender Schauspieler zu gedenken, die aus seiner Schule hervorgegangen, und ich fragte bei dieser Gelegenheit unter andern auch nach der Frau von Heygendorf. ”Ich mag auf sie gewirkt haben,“sagte Goethe, ”allein meine eigentliche Schülerin ist sie nicht. Sie war auf den Brettern wie geboren und gleich in allem sicher und entschieden gewandt und fertig, wie die Ente auf dem Wasser. Sie bedurfte meiner Lehre nicht, sie tat instinktmäßig das Rechte, vielleicht ohne es selber zu wissen.“

Wir sprachen darauf über die manchen Jahre seiner Theaterleitung, und welche unendliche Zeit er damit für sein schriftstellerisches Wirken verloren. ”Freilich,“ sagte Goethe, ”ich hätte indes manches gute Stück schreiben können, doch wenn ich es recht bedenke, gereut es mich nicht. Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln.“

Donnerstag, den 6. [Sonntag, den 16.] Mai 1824

Als ich im vorigen Sommer nach Weimar kam, war es, wie gesagt, nicht meine Absicht, hier zu bleiben, ich wollte vielmehr bloß Goethes persönliche Bekanntschaft machen und dann an den Rhein gehen, wo ich an einem passenden Ort längere Zeit zu verweilen gedachte.

Gleichwohl ward ich in Weimar durch Goethes besonderes Wohlwollen gefesselt; auch gestaltete sich mein Verhältnis zu ihm immer mehr zu einem praktischen, indem er mich immer tiefer in sein Interesse zog und mir, als Vorbereitung einer vollständigen Ausgabe seiner Werke, manche nicht unwichtige Arbeit übertrug.

So stellte ich im Laufe dieses Winters unter andern verschiedene Abteilungen ›Zahmer Xenien‹ aus den konfusesten Konvoluten zusammen, redigierte einen Band neuer Gedichte sowie den erwähnten Theaterkatechismus und eine skizzierte Abhandlung über den Dilettantismus in den verschiedenen Künsten.

Jener Vorsatz, den Rhein zu sehen, war indes in mir beständig wach geblieben, und damit ich nicht ferner den Stachel einer unbefriedigten Sehnsucht in mir tragen möchte, so riet Goethe selber dazu, einige Monate dieses Sommers auf einen Besuch jener Gegenden zu verwenden.

Es war jedoch sein ganz entschiedener Wunsch, daß ich nach Weimar zurückkehren möchte. Er führte an, daß es nicht gut sei, kaum geknüpfte Verhältnisse wieder zu zerreißen, und daß alles im Leben, wenn es gedeihen wolle, eine Folge haben müsse. Er ließ dabei nicht undeutlich merken, daß er mich in Verbindung mit Riemer dazu ausersehen, ihn nicht allein bei der bevorstehenden neuen Ausgabe seiner Werke tätigst zu unterstützen, sondern auch jenes Geschäft mit gedachtem Freunde allein zu übernehmen, im Fall er bei seinem hohen Alter abgerufen werden sollte.

Er zeigte mir diesen Morgen große Konvolute seiner Korrespondenz, die er im sogenannten Büstenzimmer hatte auseinander legen lassen. ”Es sind dies alles Briefe,“ sagte er, ”die seit Anno 1780 von den bedeutendsten Männern der Nation an mich eingegangen; es steckt darin ein wahrer Schatz von Ideen, und es soll ihre öffentliche Mitteilung Euch künftig vorbehalten sein. Ich lasse jetzt einen Schrank machen, wohinein diese Briefe nebst meinem übrigen literarischen Nachlasse gelegt werden. Das sollen Sie erst alles in Ordnung und beieinander sehen, bevor Sie Ihre Reise antreten, damit ich ruhig sei und eine Sorge weniger habe.“

Er eröffnete mir sodann, daß er diesen Sommer Marienbad abermals zu besuchen gedenke, daß er jedoch erst Ende Juli gehen könne, wovon er mir alle Gründe zutraulich entdeckte. Er äußerte den Wunsch, daß ich noch vor seiner Abreise zurück sein möchte, um mich vorher noch zu sprechen.

Ich besuchte darauf nach einigen Wochen meine Lieben zu Hannover, verweilte dann während der Monate Juni und Juli am Rhein, wo ich, besonders zu Frankfurt, Heidelberg und Bonn, unter Goethes Freunden manche werte Bekanntschaft machte.

Dienstag, den 10. August 1824

Seit etwa acht Tagen bin ich von meiner Rheinreise zurück. Goethe äußerte bei meiner Ankunft eine lebhafte Freude, und ich meinerseits war nicht weniger glücklich, wieder bei ihm zu sein. Er hatte sehr viel zu reden und mitzuteilen, so daß ich die ersten Tage wenig von seiner Seite kam. Seine frühere Absicht, nach Marienbad zu gehen, hat er aufgegeben, er will diesen Sommer gar keine Reise machen. ”Nun da Sie wieder hier sind,“ sagte er gestern, ”kann es noch einen recht hübschen August für mich geben.“

Vor einigen Tagen kommunizierte er mir die Anfänge einer Fortsetzung von ›Wahrheit und Dichtung‹, ein auf Quartblättern geschriebenes Heft, kaum von der Stärke eines Fingers. Einiges ist ausgeführt, das meiste jedoch nur in Andeutungen enthalten. Doch ist bereits eine Abteilung in fünf Bücher gemacht, und die schematisierten Blätter sind so zusammengelegt, daß man bei einigem Studium den Inhalt des Ganzen wohl übersehen kann.

Das bereits Ausgeführte erscheint mir nun so vortrefflich und der Inhalt des Schematisierten von solcher Bedeutung, daß ich auf das lebhafteste bedaure, eine so viel Belehrung und Genuß versprechende Arbeit ins Stocken geraten zu sehen, und daß ich Goethe auf alle Weise zu einer baldigen Fortsetzung und Vollendung treiben werde.

Die Anlage des Ganzen hat sehr viel vom Roman. Zartes, anmutiges, leidenschaftliches Liebesverhältnis, heiter im Entstehen, idyllisch im Fortgange, tragisch am Ende durch ein stillschweigendes gegenseitigem Entsagen, schlingt sich durch vier Bücher hindurch und verbindet diese zu einem wohlgeordneten Ganzen. Der Zauber von Lilis Wesen, im Detail geschildert ist geeignet jeden Leser zu fesseln, so wie er den Liebenden selbst dergestalt in Banden hielt, daß er sich nur durch eine wiederholte Flucht zu retten imstande war.

Die dargestellte Lebensepoche ist gleichfalls höchst romantischer Natur, oder sie wird es, indem sie sich an dem Hauptcharakter entwickelt. Von ganz besonderer Bedeutung und Wichtigkeit aber ist sie dadurch, daß sie, als Vorepoche der weimarischen Verhältnisse, für das ganze Leben entscheidet. Wenn also irgendein Abschnitt aus Goethes Leben Interesse hat und den Wunsch einer detaillierten Darstellung rege macht, so ist es dieser.

Um nun bei Goethe für die unterbrochene und seit Jahren ruhende Arbeit neue Lust und Liebe zu erregen, habe ich diese Angelegenheit nicht allein sogleich mündlich mit ihm besprochen, sondern ich habe ihm auch heute folgende Notizen zugehen lassen, damit es ihm vor die Augen trete, was vollendet ist und welche Stellen noch einer Ausführung und anderweiten Anordnung bedürfen.

Erstes Buch

Dieses Buch, welches der anfänglichen Absicht gemäß als fertig anzusehen ist, enthält eine Art von Exposition, indem namentlich darin der Wunsch nach Teilnahme an Weltgeschäften ausgesprochen wird, auf dessen Erfüllung das Ende der ganzen Epoche durch die Berufung nach Weimar abläuft. Damit es sich aber dem Ganzen noch inniger anschließen möge, so rate ich, das durch die folgenden vier Bücher gehende Verhältnis zu Lili schon in diesem ersten Buche anzuknüpfen und fortzuführen bis zu der Ausflucht nach Offenbach. Dadurch würde auch dieses erste Buch an Umfang und Bedeutung gewinnen und ein allzu starkes Anwachsen des zweiten verhütet werden.

Zweites Buch

Das idyllische Leben zu Offenbach eröffnete sodann dieses zweite Buch und führte das glückliche Liebesverhältnis durch, bis es zuletzt einen bedenklichen, ernsten, ja tragischen Charakter anzunehmen beginnt. Hier ist nun die Betrachtung ernster Dinge, wie sie das Schema in bezug auf Stilling verspricht, wohl am Platze, und es läßt sich aus den nur mit wenigen Worten angedeuteten Intentionen auf viel Belehrendes von hoher Bedeutung schließen.

Drittes Buch

Das dritte Buch, welches den Plan zu einer Fortsetzung des ›Faust‹ usw. enthält, ist als Episode zu betrachten, welche sich durch den noch auszuführenden Versuch der Trennung von Lili den übrigen Büchern gleichfalls anschließt.

Ob nun dieser Plan zu ›Faust‹ mitzuteilen oder zurückzuhalten sein wird, dieser Zweifel dürfte sich dann beseitigen lassen, wenn man die bereits fertigen Bruchstücke zur Prüfung vor Augen hat und erst darüber klar ist, ob man überall die Hoffnung einer Fortsetzung des ›Faust‹ aufgeben muß oder nicht.

Viertes Buch

Das dritte Buch schlösse mit dem Versuch einer Trennung von Lili. Dieses vierte beginnt daher sehr passend mit der Ankunft der Stolberge und Haugwitzens, wodurch die Schweizerreise und mithin die erste Flucht von Lili motiviert wird. Das über dieses Buch vorhandene ausführliche Schema verspricht uns die interessantesten Dinge und erregt den Wunsch nach möglichst detaillierter Ausführung auf das lebendigste. Die immer wieder hervorbrechende, nicht zu unterdrückende Leidenschaft zu Lili durchwärmt auch dieses Buch mit der Glut jugendlicher Liebe und wirft auf den Zustand des Reisenden eine höchst eigene, angenehme, zauberische Beleuchtung.

Fünftes Buch

Dieses schöne Buch ist gleichfalls beinahe vollendet. Fortgang und Ende, welche an das unerforschliche höchste Schicksalswesen hinanstreifen, ja es aussprechen, sind wenigstens als durchaus fertig anzusehen, und es bedarf nur noch mit wenigem der Einleitung, worüber ja auch bereits ein sehr klares Schema vorliegt. Die Ausführung dieses ist aber um so notwendiger und wünschenswerter, als dadurch die weimarischen Verhältnisse zuerst zur Sprache kommen und das Interesse für sie zuerst rege gemacht wird.

Montag, den 16. August 1824

Der Verkehr mit Goethe war in diesen Tagen sehr reichhaltig, ich jedoch mit anderen Dingen zu beschäftigt, als daß es mir möglich gewesen, etwas Bedeutendes aus der Fülle seiner Gespräche niederzuschreiben.

Nur folgende Einzelheiten finden sich in meinem Tagebuche notiert, wovon ich die Verbindung und die Anlässe vergessen, aus denen sie hervorgegangen:

”Menschen sind schwimmende Töpfe, die sich aneinanderstoßen.“

”Am Morgen sind wir am klügsten, aber auch am sorglichsten; denn auch die Sorge ist eine Klugheit, wiewohl nur eine passive. Die Dummheit weiß von keiner Sorge.“

”Man muß keine Jugendfehler ins Alter hineinnehmen, denn das Alter führt seine eigenen Mängel mit sich.“

”Das Hofleben gleicht einer Musik, wo jeder seine Takte und Pausen halten muß.“

”Die Hofleute müßten vor Langerweile umkommen, wenn sie ihre Zeit nicht durch Zeremonie auszufüllen wüßten.“

”Es ist nicht gut einem Fürsten zu raten, auch in der geringfügigsten Sache abzudanken.“

”Wer Schauspieler bilden will, muß unendliche Geduld haben.“

Dienstag, den 9. November 1824

Abends bei Goethe. Wir sprachen über Klopstock und Herder, und ich hörte ihm gerne zu, wie er die großen Verdienste dieser Männer gegen mich auseinandersetzte.

”Unsere Literatur“, sagte er, ”wäre ohne die gewaltigen Vorgänger das nicht geworden, was sie jetzt ist. Mit ihrem Auftreten waren sie der Zeit voran und haben sie gleichsam nach sich gerissen; jetzt aber ist die Zeit ihnen vorangeeilt, und sie, die einst so notwendig und wichtig waren, haben jetzt aufgehört Mittel zu sein. Ein junger Mensch, der heutzutage seine Kultur aus Klopstock und Herder ziehen wollte, würde sehr zurückbleiben.“

Wir sprachen über Klopstocks ›Messias‹ und seine ›Oden‹ und gedachten ihrer Verdienste und Mängel. Wir waren einig, daß Klopstock zur Anschauung und Auffassung der sinnlichen Welt und Zeichnung von Charakteren keine Richtung und Anlage gehabt, und daß ihm also das Wesentlichste zu einem epischen und dramatischen Dichter, ja man könnte sagen, zu einem Dichter überhaupt, gefehlt habe.

”Mir fällt hier jene Ode ein,“ sagte Goethe, ”wo er die deutsche Muse mit der britischen einen Wettlauf machen läßt und in der Tat, wenn man bedenkt, was es für ein Bild gibt, wenn die beiden Mädchen miteinander laufen und die Beine werfen und den Staub mit ihren Füßen erregen, so muß man wohl annehmen, der gute Klopstock habe nicht lebendig vor Augen gehabt und sich nicht sinnbildlich ausgebildet, was er machte, denn sonst hätte er sich unmöglich so vergreifen können.“

Ich fragte Goethe, wie er in der Jugend zu Klopstock gestanden und wie er ihn in jener Zeit angesehen.

”Ich verehrte ihn“, sagte Goethe, ”mit der Pietät, die mir eigen war; ich betrachtete ihn wie meinen Oheim. Ich hatte Ehrfurcht vor dem, was er machte, und es fiel mir nicht ein, darüber denken und daran etwas aussetzen zu wollen. Sein Vortreffliches ließ ich auf mich wirken und ging übrigens meinen eigenen Weg.“

Wir kamen auf Herder zurück, und ich fragte Goethe, was er für das beste seiner Werke halte. ”Seine ›Ideen zur Geschichte der Menschheit‹“, antwortete Goethe, ”sind unstreitig das vorzüglichste. Später warf er sich auf die negative Seite, und da war er nicht erfreulich.“

”Bei der großen Bedeutung Herders“, versetzte ich, ”kann ich nicht mit ihm vereinigen, wie er in gewissen Dingen so wenig Urteil zu haben schien. Ich kann ihm z. B. nicht vergeben, daß er, zumal bei dem damaligen Stande der deutschen Literatur, das Manuskript des ›Götz von Berlichingen‹ ohne Würdigung seines Guten mit spöttelnden Anmerkungen zurücksandte. Es mußte ihm doch für gewisse Gegenstände an allen Organen fehlen.“

”In dieser Hinsicht war es arg mit Herder,“ erwiderte Goethe; ”ja wenn er als Geist in diesem Augenblick hier gegenwärtig wäre,“ fügte er lebhaft hinzu, ”er würde uns nicht verstehen.“

”Dagegen muß ich den Merck loben,“ sagte ich, ”daß er Sie trieb, den ›Götz‹ drucken zu lassen.“

”Das war freilich ein wunderlicher bedeutender Mensch“, erwiderte Goethe. ”›Laß das Zeug drucken!‹ sagte er; ›es taugt zwar nichts, aber laß es nur drucken!‹ Er war nicht für das Umarbeiten und er hatte recht; denn es wäre wohl anders geworden, aber nicht besser.“

Mittwoch, den 24. November 1824

Ich besuchte Goethe abends vor dem Theater und fand ihn sehr wohl und heiter. Er erkundigte sich nach den hier anwesenden jungen Engländern, und ich sagte ihm, daß ich die Absicht habe, mit Herrn Doolan eine deutsche Übersetzung des Plutarch zu lesen. Dies führte das Gespräch auf die römische und griechische Geschichte, und Goethe äußerte sich darüber folgendermaßen:

”Die römische Geschichte“, sagte er, ”ist für uns eigentlich nicht mehr an der Zeit. Wir sind zu human geworden, als daß uns die Triumphe des Cäsar nicht widerstehen sollten. So auch die griechische Geschichte bietet wenig Erfreuliches. Wo sich dieses Volk gegen äußere Feinde wendet, ist es zwar groß und glänzend, allein die Zerstückelung der Staaten und der ewige Krieg im Innern, wo der eine Grieche die Waffen gegen den andern kehrt, ist auch desto unerträglicher. Zudem ist die Geschichte unserer eigenen Tage durchaus groß und bedeutend, die Schlachten von Leipzig und Waterloo ragen so gewaltig hervor, daß jene von Marathon und ähnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch sind unsere einzelnen Helden nicht zurückgeblieben: die französischen Marschälle und Blücher und Wellington sind denen des Altertums völlig an die Seite zu setzen.“

Das Gespräch wendete sich auf die neueste französische Literatur und der Franzosen täglich zunehmendes Interesse an deutschen Werken.

”Die Franzosen“, sagte Goethe, ”tun sehr wohl, daß sie anfangen, unsere Schriftsteller zu studieren und zu übersetzen; denn beschränkt in der Form und beschränkt in den Motiven, wie sie sind, bleibt ihnen kein anderes Mittel, als sich nach außen zu wenden. Mag man uns Deutschen eine gewisse Formlosigkeit vorwerfen, allein wir sind ihnen doch an Stoff überlegen. Die Theaterstücke von Kotzebue und Iffland sind so reich an Motiven, daß sie sehr lange daran werden zu pflücken haben, bis alles verbraucht sein wird. Besonders aber ist ihnen unsere philosophische Idealität willkommen; denn jedes Ideelle ist dienlich zu revolutionären Zwecken.

Die Franzosen“, fuhr Goethe fort, ”haben Verstand und Geist, aber kein Fundament und keine Pietät. Was ihnen im Augenblick dient, was ihrer Partei zugute kommen kann, ist ihnen das Rechte. Sie loben uns daher auch nie aus Anerkennung unserer Verdienste, sondern nur, wenn sie durch unsere Ansichten ihre Partei verstärken können.“

Wir sprachen darauf über unsere eigene Literatur, und was einigen unserer neuesten jungen Dichter hinderlich.

”Der Mehrzahl unserer jungen Poeten“, sagte Goethe, ”fehlt weiter nichts, als daß ihre Subjektivität nicht bedeutend ist und daß sie im Objektiven den Stoff nicht zu finden wissen. Im höchsten Falle finden sie einen Stoff, der ihnen ähnlich ist, der ihrem Subjekte zusagt; den Stoff aber um sein selbst willen, weil er ein poetischer ist, auch dann zu ergreifen, wenn er dem Subjekt widerwärtig wäre, daran ist nicht zu denken.

Aber, wie gesagt, wären es nur bedeutende Personagen, die durch große Studien und Lebensverhältnisse gebildet würden, so möchte es, wenigstens um unsere jungen Dichter lyrischer Art, dennoch sehr gut stehen.“

Freitag, den 3. Dezember 1824

Es war mir in diesen Tagen ein Antrag zugekommen, für ein englisches Journal unter sehr vorteilhaften Bedingungen monatliche Berichte über die neuesten Erzeugnisse deutscher Literatur einzusenden. Ich war sehr geneigt, das Anerbieten anzunehmen, doch dachte ich, es wäre vielleicht gut, die Angelegenheit zuvor mit Goethe zu bereden.

Ich ging deshalb diesen Abend zur Zeit des Lichtanzündens zu ihm. Er saß bei herabgelassenen Rouleaux vor einem großen Tisch, auf welchem gespeist worden und wo zwei Lichter brannten, die zugleich sein Gesicht und eine kolossale Büste beleuchteten, die vor ihm auf dem Tische stand und mit deren Betrachtung er sich beschäftigte. ”Nun,“ sagte Goethe, nachdem er mich freundlich begrüßt, auf die Büste deutend, ”wer ist das?“ – ”Ein Poet, und zwar ein Italiener scheint es zu sein“, sagte ich. ”Es ist Dante“, sagte Goethe. ”Er ist gut gemacht, es ist ein schöner Kopf, aber er ist doch nicht ganz erfreulich. Er ist schon alt, gebeugt, verdrießlich, die Züge schlaff und herabgezogen, als wenn er eben aus der Hölle käme. Ich besitze eine Medaille, die bei seinen Lebzeiten gemacht worden, da ist alles bei weitem schöner.“ Goethe stand auf und holte die Medaille. ”Sehen Sie, was hier die Nase für Kraft hat, wie die Oberlippe so kräftig aufschwillet, und das Kinn so strebend ist und mit den Knochen der Kinnlade so schön zusammenfließt! Die Partie um die Augen, die Stirn ist in diesem kolossalen Bilde fast dieselbige geblieben, alles übrige ist schwächer und älter. Doch damit will ich das neue Werk nicht schelten, das im ganzen sehr verdienstlich und sehr zu loben ist.“

Goethe erkundigte sich sodann, wie ich in diesen Tagen gelebt und was ich gedacht und getrieben. Ich sagte ihm, daß mir eine Aufforderung zugekommen, unter sehr vorteilhaften Bedingungen für ein englisches Journal monatliche Berichte über die neuesten Erzeugnisse deutscher schöner Prosa einzureichen, und daß ich sehr geneigt sei, das Anerbieten anzunehmen.

Goethes Gesicht, das bisher so freundlich gewesen, zog sich bei diesen Worten ganz verdrießlich, und ich konnte in jeder seiner Mienen die Mißbilligung meines Vorhabens lesen.

”Ich wollte,“ sagte er, ”Ihre Freunde hätten Sie in Ruhe gelassen. Was wollen Sie sich mit Dingen befassen, die nicht in Ihrem Wege liegen und die den Richtungen Ihrer Natur ganz zuwider sind? Wir haben Gold, Silber und Papiergeld, und jedes hat seinen Wert und seinen Kurs, aber um jedes zu würdigen, muß man den Kurs kennen. Mit der Literatur ist es nicht anders. Sie wissen wohl die Metalle zu schätzen, aber nicht das Papiergeld, Sie sind darin nicht hergekommen, und da wird Ihre Kritik ungerecht sein, und Sie werden die Sachen vernichten. Wollen Sie aber gerecht sein und jedes in seiner Art anerkennen und gelten lassen, so müssen Sie sich zuvor mit unserer mittleren Literatur ins Gleichgewicht setzen und sich zu keinen geringen Studien bequemen. Sie müssen zurückgehen und sehen, was die Schlegel gewollt und geleistet, und dann alle neuesten Autoren: Franz Horn, Hoffmann, Clauren usw., alle müssen Sie lesen. Und das ist nicht genug. Auch alle Zeitschriften, vom ›Morgenblatt‹ bis zur ›Abendzeitung‹ müssen Sie halten, damit Sie von allem Neuhervortretenden sogleich in Kenntnis sind, und damit verderben Sie Ihre schönsten Stunden und Tage. Und dann, alle neuen Bücher, die Sie einigermaßen gründlich anzeigen wollen, müssen Sie doch auch nicht bloß durchblättern, sondern sogar studieren. Wie würde Ihnen das munden! Und endlich, wenn Sie das Schlechte schlecht finden, dürfen Sie es nicht einmal sagen, wenn Sie sich nicht der Gefahr aussetzen wollen, mit aller Welt in Krieg zu geraten.

Nein, wie gesagt, schreiben Sie das Anerbieten ab, es liegt nicht in Ihrem Wege. Überhaupt hüten Sie sich vor Zersplitterung und halten Sie Ihre Kräfte zusammen. Wäre ich vor dreißig Jahren so klug gewesen, ich würde ganz andere Dinge gemacht haben. Was habe ich mit Schiller an den ›Horen‹ und ›Musenalmanachen‹ nicht für Zeit verschwendet! Grade in diesen Tagen, bei Durchsicht unserer Briefe ist mir alles recht lebendig geworden, und ich kann nicht ohne Verdruß an jene Unternehmungen zurückdenken, wobei die Welt uns mißbrauchte und die für uns selbst ganz ohne Folge waren. Das Talent glaubt freilich, es könne das auch, was es andere Leute tun sieht; allein es ist nicht so, und es wird seine faux-frais bereuen. Was haben wir davon, wenn unsere Haare auf eine Nacht gewickelt sind? Wir haben Papier in den Haaren, das ist alles, und am andern Abend sind sie doch wieder schlicht.

Es kommt darauf an,“ fuhr Goethe fort, ”daß Sie sich ein Kapital bilden, das nie ausgeht. Dieses werden Sie erlangen in dem begonnenen Studium der englischen Sprache und Literatur. Halten Sie sich dazu und benutzen Sie die treffliche Gelegenheit der jungen Engländer zu jeder Stunde. Die alten Sprachen sind Ihnen in der Jugend größtenteils entgangen, deshalb suchen Sie in der Literatur einer so tüchtigen Nation, wie die Engländer, einen Halt. Zudem ist ja unsere eigene Literatur größtenteils aus der ihrigen hergekommen. Unsere Romane, unsere Trauerspiele, woher haben wir sie denn als von Goldsmith, Fielding und Shakespeare? Und noch heutzutage, wo wollen Sie denn in Deutschland drei literarische Helden finden, die dem Lord Byron, Moore und Walter Scott an die Seite zu setzen wären? Also noch einmal, befestigen Sie sich im Englischen, halten Sie Ihre Kräfte zu etwas Tüchtigem zusammen, und lassen Sie alles fahren, was für Sie keine Folge hat und Ihnen nicht gemäß ist.“

Ich freute mich, daß ich Goethe zu reden gebracht, und war in meinem Innern vollkommen beruhigt und entschlossen, nach seinem Rat in alle Wege zu handeln.

Herr Kanzler von Müller ließ sich melden und setzte sich zu uns. Und so kam das Gespräch wieder auf die vor uns stehende Büste des Dante und dessen Leben und Werke. Besonders ward der Dunkelheit jener Dichtungen gedacht, wie seine eigenen Landsleute ihn nie verstanden, und daß es einem Ausländer um so mehr unmöglich sei, solche Finsternisse zu durchdringen. ”Ihnen“, wendete sich Goethe freundlich zu mir, ”soll das Studium dieses Dichters von Ihrem Beichtvater hiemit durchaus verboten sein.“

Goethe bemerkte ferner, daß der schwere Reim an jener Unverständlichkeit vorzüglich mit schuld sei. Übrigens sprach Goethe von Dante mit aller Ehrfurcht, wobei es mir merkwürdig war, daß ihm das Wort Talent nicht genügte, sondern daß er ihn eine Natur nannte, als womit er ein Umfassenderes, Ahndungsvolleres, tiefer und weiter um sich Blickendes ausdrücken zu wollen schien.

Donnerstag, den 9. Dezember 1824

Ich ging gegen Abend zu Goethe. Er reichte mir freundlich die Hand entgegen und begrüßte mich mit dem Lobe meines Gedichtes zu Schellhorns Jubiläum. Ich brachte ihm dagegen die Nachricht, daß ich geschrieben und das englische Anerbieten abgelehnt habe.

”Gottlob,“ sagte er, ”daß Sie wieder frei und in Ruhe sind. Nun will ich Sie gleich noch vor etwas warnen. Es werden die Komponisten kommen und eine Oper haben wollen; aber da seien Sie gleichfalls nur standhaft und lehnen Sie ab, denn das ist auch eine Sache, die zu nichts führt und womit man seine Zeit verdirbt.“

Goethe erzählte mir darauf, daß er dem Verfasser des ›Paria‹ durch Nees von Esenbeck den Komödienzettel nach Bonn geschickt habe, woraus der Dichter sehen möge, daß sein Stück hier gegeben worden. ”Das Leben ist kurz,“ fügte er hinzu, ”man muß sich einander einen Spaß zu machen suchen.“

Die Berliner Zeitungen lagen vor ihm, und er erzählte mir von der großen Wasserflut in Petersburg. Er gab mir das Blatt, daß ich es lesen möchte. Er sprach dann über die schlechte Lage von Petersburg und lachte beifällig über eine Äußerung Rousseaus, welcher gesagt habe, daß man ein Erdbeben dadurch nicht verhindern könne, daß man in die Nähe eines feuerspeienden Berges eine Stadt baue. ”Die Natur geht ihren Gang,“ sagte er, ”und dasjenige, was uns als Ausnahme erscheint, ist in der Regel.“

Wir gedachten darauf der großen Stürme, die an allen Küsten gewütet, sowie der übrigen gewaltsamen Naturäußerungen, welche die Zeitungen gemeldet, und ich fragte Goethe, ob man wohl wisse, wie dergleichen zusammenhänge. ”Das weiß niemand,“ antwortete Goethe, ”man hat kaum bei sich von solchen geheimen Dingen eine Ahndung, viel weniger könnte man es aussprechen.“

Oberbaudirektor Coudray ließ sich melden, desgleichen Professor Riemer; beide gesellten sich zu uns, und so wurde denn die Wassersnot von Petersburg abermals durchgesprochen, wobei Coudray uns durch Zeichnung des Planes jener Stadt die Einwirkungen der Newa und übrige Lokalität deutlich machte.

1825

Montag, den 10. Januar 1825

Bei seinem großen Interesse für die englische Nation hatte Goethe mich ersucht, die hier anwesenden jungen Engländer ihm nach und nach vorzustellen. Heute um fünf Uhr erwartete er mich mit dem englischen Ingenieuroffizier Herrn H., von welchem ich ihm vorläufig viel Gutes hatte sagen können. Wir gingen also zur bestimmten Stunde hin und wurden durch den Bedienten in ein angenehm erwärmtes Zimmer geführt, wo Goethe in der Regel nachmittags und abends zu sein pflegt. Drei Lichter brannten auf dem Tisch; aber Goethe war nicht darin, wir hörten ihn in dem anstoßenden Saale sprechen.

Herr H. sah sich derweile um und bemerkte außer den Gemälden und einer großen Gebirgskarte an den Wänden ein Repositorium mit vielen Mappen, von welchen ich ihm sagte, daß sie viele Handzeichnungen berühmter Meister und Kupferstiche nach den besten Gemälden aller Schulen enthielten, die Goethe im Leben nach und nach gesammelt habe und deren wiederholte Betrachtung ihm Unterhaltung gewähre.

Nachdem wir einige Minuten gewartet hatten, trat Goethe zu uns herein und begrüßte uns freundlich. ”Ich darf Sie gradezu in deutscher Sprache anreden,“ wendete er sich an Herrn H., ”denn ich höre, Sie sind im Deutschen schon recht bewandert.“ Dieser erwiderte hierauf mit wenigem freundlich, und Goethe bat uns darauf, Platz zu nehmen.

Die Persönlichkeit des Herrn H. mußte auf Goethe einen guten Eindruck machen, denn seine große Liebenswürdigkeit und heitere Milde zeigte sich dem Fremden gegenüber heute in ihrer wahren Schönheit. ”Sie haben wohl getan,“ sagte er, ”daß Sie, um Deutsch zu lernen, zu uns herübergekommen sind, wo Sie nicht allein die Sprache leicht und schnell gewinnen, sondern auch die Elemente, worauf sie ruhet, unsern Boden, Klima, Lebensart, Sitten, gesellschaftlichen Verkehr, Verfassung und dergleichen mit nach England im Geiste hinübernehmen.“

”Das Interesse für die deutsche Sprache“, erwiderte Herr H., ”ist jetzt in England groß und wird täglich allgemeiner, so daß jetzt fast kein junger Engländer von guter Familie ist, der nicht Deutsch lernte.“

”Wir Deutschen“, versetzte Goethe freundlich, ”haben es jedoch Ihrer Nation in dieser Hinsicht um ein halbes Jahrhundert zuvorgetan. Ich beschäftige mich seit funfzig Jahren mit der englischen Sprache und Literatur, so daß ich Ihre Schriftsteller und das Leben und die Einrichtung Ihres Landes sehr gut kenne. Käme ich nach England hinüber, ich würde kein Fremder sein.

Aber, wie gesagt, Ihre jungen Landsleute tun wohl, daß sie jetzt zu uns kommen und auch unsere Sprache lernen. Denn nicht allein, daß unsere eigene Literatur es an sich verdient, sondern es ist auch nicht zu leugnen, daß, wenn einer jetzt das Deutsche gut versteht, er viele andere Sprachen entbehren kann. Von der französischen rede ich nicht, sie ist die Sprache des Umgangs und ganz besonders auf Reisen unentbehrlich, weil sie jeder versteht und man sich in allen Ländern mit ihr statt eines guten Dolmetschers aushelfen kann. Was aber das Griechische, Lateinische, Italienische und Spanische betrifft, so können wir die vorzüglichsten Werke dieser Nationen in so guten deutschen Übersetzungen lesen, daß wir ohne ganz besondere Zwecke nicht Ursache haben, auf die mühsame Erlernung jener Sprachen viele Zeit zu verwenden. Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen.

Und dann ist wohl nicht zu leugnen, daß man im allgemeinen mit einer guten Übersetzung sehr weit kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las seinen Cicero in der französischen Übersetzung ebenso gut als wir andern in der Ursprache.“

Dann das Gespräch auf das Theater wendend, fragte Goethe Herrn H., ob er es viel besuche. ”Ich besuche das Theater jeden Abend,“ antwortete dieser, ”und ich finde, daß der Gewinn für das Verstehen der Sprache sehr groß ist.“ – ”Es ist merkwürdig,“ erwiderte Goethe, ”daß das Ohr und überhaupt das Vermögen des Verstehens dem des Sprechens voraufeilt, so daß einer bald sehr gut alles verstehen, aber keineswegs alles ausdrücken kann.“ – ”Ich finde täglich,“ entgegenete Herr H., ”daß diese Bemerkung sehr wahr ist; denn ich verstehe sehr gut alles, was gesprochen wird, auch sehr gut alles, was ich lese, ja ich fühle sogar, wenn einer im Deutschen sich nicht richtig ausdrücket. Allein wenn ich spreche, so stockt es, und ich weiß nicht recht zu sagen, was ich möchte. Eine leichte Konversation bei Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beim Tanz und dergleichen gelingt mir schon. Will ich aber im Deutschen über einen höheren Gegenstand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigentümliches und Geistreiches sagen, so stockt es, und ich kann nicht fort.“ – ”Da trösten und beruhigen Sie sich nur,“ erwiderte Goethe; ”denn dergleichen Ungewöhnliches auszudrücken wird uns wohl in unserer eigenen Muttersprache schwer.“

Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deutscher Literatur gelesen habe. ”Ich habe den ›Egmont‹ gelesen“, antwortete dieser, ”und habe an dem Buche so viele Freude gehabt, daß ich dreimal zu ihm zurückgekehrt bin. So auch hat ›Torquato Tasso‹ mir vielen Genuß gewährt. Jetzt lese ich den ›Faust‹. Ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist.“ Goethe lachte bei diesen letzten Worten. ”Freilich“, sagte er, ”würde ich Ihnen zum ›Faust‹ noch nicht geraten haben. Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von selbst getan haben, ohne mich zu fragen, so mögen Sie sehen, wie Sie durchkommen. Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können. So der Charakter des Mephistopheles ist durch die Ironie und als lebendiges Resultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas sehr Schweres. Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabei auftun. Der ›Tasso‹ dagegen steht dem allgemeinen Menschengefühl bei weitem näher, auch ist das Ausführliche seiner Form einem leichteren Verständnis günstig.“ – ”Dennoch“, erwiderte Herr H., ”hält man in Deutschland den ›Tasse‹ für schwer, so daß man sich wunderte, als ich sagte, daß ich ihn lese.“ – ”Die Hauptsache beim ›Tasso‹“, sagte Goethe, ”ist die, daß man kein Kind mehr sei und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn und genugsamer äußerer Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen der höheren und höchsten Stände hervorgeht, wird den ›Tasso‹ nicht schwer finden.“

Das Gespräch lenkte sich auf den ›Egmont‹, und Goethe sagte darüber folgendes: ”Ich schrieb den ›Egmont‹ im Jahre 1775, also vor funfzig Jahren. Ich hielt mich sehr treu an die Geschichte und strebte nach möglichstes Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre später in Rom war, las ich in den Zeitungen, daß die geschilderten revolutionären Szenen in den Niederlanden sich buchstäblich wiederholten. Ich sah daraus, daß die Welt immer dieselbige bleibt und daß meine Darstellung einiges Leben haben mußte.“

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen war die Zeit des Theaters herangekommen, und wir standen auf und wurden von Goethe freundlich entlassen.

Im Nachhausegehen fragte ich Herrn H., wie ihm Goethe gefallen. ”Ich habe nie einen Mann gesehen,“ antwortete dieser, ”der bei aller liebevollen Milde so viel angebotene Würde besäße. Er ist immer groß, er mag sich stellen und sich herablassen, wie er wolle.“

Dienstag, den 18. Januar 1825

Ich ging heute um fünf Uhr zu Goethe, den ich in einigen Tagen nicht gesehen hatte, und verlebte mit ihm einen schönen Abend. Ich fand ihn, in seiner Arbeitsstube in der Dämmerung sitzend, in Gesprächen mit seinem Sohn und dem Hofrat Rehbein, seinem Arzt. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. Wir sprachen noch eine Weile in der Dämmerung; dann ward Licht gebracht, und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen frisch und heiter vor mir zu sehen.

Er erkundigte sich, wie gewöhnlich, teilnehmend nach dem, was mir in diesen Tagen Neues begegnet, und ich erzählte ihm, daß ich die Bekanntschaft einer Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht gewöhnliches Talent rühmen, und Goethe, der einige ihrer Produkte gleichfalls kannte, stimmte in dieses Lob mit ein. ”Eins von ihren Gedichten,“ sagte er, ”wo sie eine Gegend ihrer Heimat beschreibt, ist von einem höchst eigentümlichen Charakter. Sie hat eine gute Richtung auf äußere Gegenstände, auch fehlt es ihr nicht an guten inneren Eigenschaften. Freilich wäre auch manches an ihr auszusetzen, wir wollen sie jedoch gehen lassen und sie auf dem Wege nicht irren, den das Talent ihr zeigen wird.“

Das Gespräch kam nun auf die Dichterinnen im allgemeinen, und der Hofrat Rehbein bemerkte, daß das poetische Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine Art von geistigem Geschlechtstrieb vorkomme. ”Da hören Sie nur,“ sagte Goethe lachend, indem er mich ansah, ”geistigen Geschlechtstrieb! – wie der Arzt das zurechtlegt!“ – ”Ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdrücke,“ fuhr dieser fort, ”aber es ist so etwas. Gewöhnlich haben diese Wesen das Glück der Liebe nicht genossen, und sie suchen nun in geistigen Richtungen Ersatz. Wären sie zu rechter Zeit verheiratet und hätten sie Kinder geboren, sie würden an poetische Produktionen nicht gedacht haben.“

”Ich will nicht untersuchen,“ sagte Goethe, ”inwiefern Sie in diesem Falle recht haben; aber bei Frauenzimmertalenten anderer Art habe ich immer gefunden, daß sie mit der Ehe aufhörten. Ich habe Mädchen gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber sobald sie Frauen und Mütter wurden, war es aus; sie hatten mit den Kindern zu tun und nahmen keinen Griffel mehr in die Hand.

Doch unsere Dichterinnen“, fuhr er sehr lebhaft fort, ”möchten immer dichten und schreiben, soviel sie wollten, wenn nur unsere Männer nicht wie die Weiber schrieben! Aber das ist es, was mir nicht gefällt. Man sehe doch unsere Zeitschriften und Taschenbücher, wie das alles so schwach ist und immer schwächer wird! Wenn man jetzt ein Kapitel des ›Cellini‹ im ›Morgenblatt‹ abdrucken ließe, wie würde sich das ausnehmen!

Unterdessen“, fuhr er heiter fort, ”wollen wir es gut sein lassen und uns unseres kräftigen Mädchens in Halle freuen, die uns mit männlichem Geiste in die serbische Welt einführt. Die Gedichte sind vortrefflich! Es sind einige darunter, die sich dem ›Hohen Liede‹ an die Seite setzen lassen, und das will etwas heißen. Ich habe den Aufsatz über diese Gedichte beendigt, und er ist auch bereits abgedruckt.“ Mit diesen Worten reichte er mir die ersten vier Aushängebogen eines neuen Heftes von ›Kunst und Altertum‹ zu, wo ich diesen Aufsatz fand. ”Ich habe die einzelnen Gedichte ihrem Hauptinhalte nach mit kurzen Worten charakterisiert, und Sie werden sich über die köstlichen Motive freuen. Rehbein ist ja auch der Poesie nicht unkundig, wenigstens was den Gehalt und Stoff betrifft, und er hört vielleicht gerne mit zu, wenn Sie diese Stelle vorlesen.“

Ich las den Inhalt der einzelnen Gedichte langsam. Die angedeuteten Situationen waren so sprechend und so zeichnend, daß mir bei einem jeden Wort ein ganzes Gedicht sich vor den Augen aufbildete. Besonders anmutig wollten mir die folgenden erscheinen:

1.

Sittsamkeit eines serbischen Mädchens, welches die schönen Augenwimpern niemals aufschlägt.

2.

Innerer Streit des Liebenden, der als Brautführer seine Geliebte einem Dritten zuführen soll.

3.

Besorgt um den Geliebten, will das Mädchen nicht singen, um nicht froh zu scheinen.

4.

Klage über Umkehrung der Sitten, daß der Jüngling die Witwe freie, der Alte die Jungfrau.

5.

Klage eines Jünglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freiheit gebe.

6.

Vertraulich-frohes Gespräch des Mädchens mit dem Pferde, das ihr seines Herrn Neigung und Absichten verrät.

7.

Mädchen will den Ungeliebten nicht.

8.

Die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen.

9.

Finden und zartes Aufwecken der Geliebten.

10.

Welches Gewerbes wird der Gatte sein?

11.

Liebesfreuden verschwatzt.

12.

Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie am Tage, überrascht sie zu Nacht.

Ich bemerkte, daß diese bloßen Motive so viel Leben in mir anregten, als läse ich die Gedichte selbst, und daß ich daher nach dem Ausgeführten gar kein Verlangen trage.

”Sie haben ganz recht,“ sagte Goethe, ”es ist so. Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen sie, und denken dabei bloß an die Empfindungen, an die Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln. Überhaupt haben die Dilettanten und besonders die Frauen von der Poesie sehr schwache Begriffe. Sie glauben gewöhnlich, wenn sie nur das Technische loshätten, so hätten sie das Wesen und wären gemachte Leute; allein sie sind sehr in der Irre.“

Professor Riemer ließ sich melden; Hofrat Rehbein empfahl sich. Riemer setzte sich zu uns. Das Gespräch über die Motive der serbischen Liebesgedichte ging fort. Riemer kannte schon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhaltsandeutungen nicht allein Gedichte machen könne, sondern daß auch jene Motive, ohne sie aus dem Serbischen gekannt zu haben, von deutscher Seite schon wären gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Gedichte von sich selber, so wie mir während dem Lesen schon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwähnte.

”Die Welt bleibt immer dieselben sagte Goethe, ”die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere: warum sollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens sind sich gleich: warum sollten denn die Situationen der Gedichte sich nicht gleich sein?“

”Und eben diese Gleichheit des Lebens und der Empfindungen“, sagte Riemer, ”macht es ja, daß wir imstande sind, die Poesie anderer Völker zu verstehen. Wäre dieses nicht, so würden wir ja bei ausländischen Gedichten nie wissen, wovon die Rede ist.“

”Mir sind daher“, nahm ich das Wort, ”immer die Gelehrten höchst seltsam vorgekommen, welche die Meinung zu haben scheinen, das Dichten geschehe nicht vom Leben zum Gedicht, sondern vom Buche zum Gedicht. Sie sagen immer: das hat er dort her, und das dort! Finden sie z. B. beim Shakespeare Stellen, die bei den Alten auch vorkommen, so soll er es auch von den Alten haben! So gibt es unter andern beim Shakespeare ein Situation, wo man beim Anblick eines schönen Mädchens die Eltern glücklich preiset, die sie Tochter nennen, und den Jüngling glücklich, der sie als Braut heimführen wird. Und weil nun beim Homer dasselbige vorkommt, so soll es der Shakespeare auch vom Homer haben! – Wie wunderlich! Als ob man nach solchen Dingen so weit zu gehen brauchte, und als ob man dergleichen nicht täglich vor Augen hätte und empfände und ausspräche!“

”Ach ja,“ sagte Goethe, ”das ist höchst lächerlich!“

”So auch“, fuhr ich fort, ”zeigt selbst Lord Byron sich nicht klüger, wenn er Ihren ›Faust‹ zerstückelt und der Meinung ist, als hätten Sie dieses hier her und jenes dort her.“

”Ich habe“, sagte Goethe, ”alle jene von Lord Byron angeführten Herrlichkeiten größtenteils nicht einmal gelesen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den ›Faust‹ machte. Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflektiert, ist er ein Kind. So weiß er sich auch gegen dergleichen ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine Szene meines ›Egmonts‹, und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah, so ist er zu loben. So auch hat er den Charakter meiner Mignon in einem seiner Romane nachgebildet; ob aber mit ebensoviel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons Verwandelter Teufel ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht! Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er hätte es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat daher auch die Exposition meines ›Faust‹ mit der des ›Hiob‹ einige Ähnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.“

Goethe war in der besten Laune. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er Riemern und mir einschenkte; er selbst trank Marienbader Wasser. Der Abend schien bestimmt zu sein, mit Riemern das Manuskript seiner fortgesetzten Selbstbiographie durchzugehen, um vielleicht hinsichtlich des Ausdruckes hin und wieder noch einiges zu verbessern. ”Eckermann bleibt wohl bei uns und hört mit zu“, sagte Goethe, welches mir sehr lieb war zu vernehmen. Und so legte er denn Riemern das Manuskript vor, der mit dem Jahre 1795 zu lesen anfing.

Ich hatte schon im Laufe des Sommers die Freude gehabt, alle diese noch ungedruckten Lebensjahre bis auf die neueste Zeit herauf wiederholt zu lesen und zu betrachten. Aber jetzt in Goethes Gegenwart sie laut vorlesen zu hören, gewährte mir einen ganz neuen Genuß. – Riemer war auf den Ausdruck gerichtet, und ich hatte Gelegenheit, seine große Gewandtheit und seinen Reichtum an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen aber war die geschilderte Lebensepoche rege, er schwelgte in Erinnerungen und ergänzte bei Erwähnung einzelner Personen und Vorfälle das Geschriebene durch detaillierte mündliche Erzählung. – Es war ein köstlicher Abend! Der bedeutendsten mitlebenden Männer ward wiederholt gedacht; zu Schillern jedoch, der dieser Epoche von 1795 bis 1800 am engsten verflochten war, kehrte das Gespräch immer von neuem zurück. Das Theater war ein Gegenstand ihres gemeinsamen Wirkens gewesen, so auch fallen Goethes vorzüglichste Werke in jene Zeit. Der ›Wilhelm Meister‹ wird beendigt, ›Hermann und Dorothea‹ gleich hinterher entworfen und geschrieben, ›Cellini‹ übersetzt für die ›Horen‹, die ›Xenien‹ gemeinschaftlich gedichtet für Schillers ›Musenalmanach‹, an täglichen Berührungspunkten war kein Mangel. Dieses alles kam nun diesen Abend zur Sprache, und es fehlte Goethen nicht an Anlaß zu den interessantesten Äußerungen.

”›Hermann und Dorothea‹“, sagte er unter andern, ”ist fast das einzige meiner größeren Gedichte, das mir noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Anteil lesen. Besonders lieb ist es mir in der lateinischen Übersetzung, es kommt mir da vornehmer vor, als wäre es, der Form nach, zu seinem Ursprunge zurückgekehrt.“

Auch vom ›Wilhelm Meister‹ war wiederholt die Rede. ”Schiller“, sagte er, ”tadelte die Einflechtung des Tragischen, als welches nicht in den Roman gehöre. Er hatte jedoch unrecht, wie wir alle wissen. In seinen Briefen an mich sind über den ›Wilhelm Meister‹ die bedeutendsten Ansichten und Äußerungen. Es gehört dieses Werk übrigens zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt: ›Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.‹ Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.“

Der großen Kultur der mittleren Stände ward darauf gedacht, die sich seit den letzten funfzig Jahren über Deutschland verbreitet, und Goethe schrieb die Verdienste hierum weniger Lessingen zu als Herdern und Wieland. ”Lessing“, sagte er, ”war der höchste Verstand, und nur ein ebenso großer konnte von ihm wahrhaft lernen. Dem Halbvermögen war er gefährlich.“ Er nannte einen Journalisten, der sich nach Lessing gebildet und am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Rolle, aber keine edle gespielt habe, weil er seinem großen Vorgänger so weit nachgestanden.

”Wielanden“, sagte Goethe, ”verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil. Es hat viel von ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszudrücken, ist nicht das geringste.“

Bei Erwähnung der ›Xenien‹ rühmte Goethe besonders die von Schiller, die er scharf und schlagend nannte, dagegen seine eigenen unschuldig und geringe. ”Den ›Tierkreis‹,“ sagte er, ”welcher von Schiller ist, lese ich stets mit Bewunderung. Die guten Wirkungen, die sie zu ihrer Zeit auf die deutsche Literatur ausübten, sind gar nicht zu berechnen.“ Viele Personen wurden bei dieser Gelegenheit genannt, gegen welche die ›Xenien‹ gerichtet waren; ihre Namen sind jedoch meinem Gedächtnis entgangen.

Nachdem nun so, von diesen und hundert andern interessanten Äußerungen und Einflechtungen Goethes unterbrochen, das gedachte Manuskript bis zu Ende des Jahres 1800 vorgelesen und besprochen war, legte Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem Ende des großen Tisches, an dem wir saßen, decken und ein kleines Abendessen bringen. Wir ließen es uns wohl sein; Goethe selbst rührte aber keinen Bissen an, wie ich ihn denn nie abends habe essen sehen. Er saß bei uns, schenkte uns ein, putzte die Lichter und erquickte uns überdies geistig mit den herrlichsten Worten. Das Andenken Schillers war in ihm so lebendig, daß die Gespräche dieser letzten Hälfte des Abends nur ihm gewidmet waren.

Riemer erinnerte an Schillers Persönlichkeit. ”Der Bau seiner Glieder, sein Gang auf der Straße, jede seiner Bewegungen“, sagte er, ”war stolz, nur die Augen waren sanft.“ – ”Ja,“ sagte Goethe, ”alles übrige an ihm war stolz und großartig, aber seine Augen waren sanft. Und wie sein Körper war sein Talent. Er griff in einen großen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her, und sah ihn so an und so, und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegenstand gleichsam nur von außen an, eine stille Entwickelung aus dem Innern war nicht seine Sache. Sein Talent war mehr desultorisch. Deshalb war er auch nie entschieden und konnte nie fertig werden. Er wechselte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.

Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren. Ich weiß, was ich mit ihm beim ›Tell‹ für Not hatte, wo er geradezu den Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben schießen lassen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, daß er Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt großtun lasse, indem er sagt, daß er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schieße. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorstellungen und Bitten nach und machte es so, wie ich ihm geraten.

Daß ich dagegen oft zu viel motivierte, entfernte meine Stücke vom Theater. Meine ›Eugenie‹ ist eine Kette von lauter Motiven, und dies kann auf der Bühne kein Glück machen.

Schillers Talent war recht fürs Theater geschaffen. Mit jedem Stück schritt er vor und ward er vollendeter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von den ›Räubern‹ her ein gewisser Sinn für das Grausame anklebte, der selbst in seiner schönsten Zeit ihn nie ganz verlassen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl, daß er im ›Egmont‹ in der Gefängnisszene, wo diesem das Urteil vorgelesen wird, den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehüllt im Hintergrunde erscheinen ließ, um sich an dem Effekt zu weiden, den das Todesurteil auf Egmont haben würde. Hiedurch sollte sich der Alba als unersättlich in Rache und Schadenfreude darstellen. Ich protestierte jedoch, und die Figur blieb weg. Er war ein wunderlicher großer Mensch.

Alle acht Tage war er ein anderer und ein vollendeterer; jedesmal wenn ich ihn wiedersah, erschien er mir vorgeschritten in Belesenheit, Gelehrsamkeit und Urteil. Seine Briefe sind das schönste Andenken, das ich von ihm besitze, und sie gehören mit zu dem Vortrefflichsten, was er geschrieben. Seinen letzten Brief bewahre ich als ein Heiligtum unter meinen Schätzen.“ Goethe stand auf und holte ihn. ”Da sehen und lesen Sie“, sagte er, indem er mir ihn zureichte.

Der Brief war schön und mit kühner Hand geschrieben. Er enthielt ein Urteil über Goethes Anmerkungen zu ›Rameaus Neffen‹, welche die französische Literatur jener Zeit darstellen, und die er Schillern in Manuskript zur Ansicht mitgeteilt hatte. Ich las den Brief Riemern vor. ”Sie sehen,“ sagte Goethe, ”wie sein Urteil treffend und beisammen ist, und wie die Handschrift durchaus keine Spur irgendeiner Schwäche verrät. Er war ein prächtiger Mensch, und bei völligen Kräften ist er von uns gegangen. Dieser Brief ist vom 24. April 1805 – Schiller starb am 9. Mai.“

Wir betrachteten den Brief wechselweise und freuten uns des klaren Ausdrucks wie der schönen Handschrift, und Goethe widmete seinem Freunde noch manches Wort eines liebevollen Andenkens, bis es spät gegen eilf Uhr geworden war und wir gingen.

Donnerstag, den 24. Februar 1825

”Wäre es meine Sache noch, dem Theater vorzustehen,“ sagte Goethe diesen Abend, ”ich würde Byrons ›Dogen von Venedig‹ auf die Bühne bringen. Freilich ist das Stück zu lang und es müßte gekürzt werden; aber man müßte nichts daran schneiden und streichen, sondern es so machen: man müßte den Inhalt jeder Szene in sich aufnehmen und ihn bloß kürzer wiedergeben. Dadurch würde das Stück zusammengehen, ohne daß man ihm durch Änderungen schadete, und es würde an kräftiger Wirkung durchaus gewinnen, ohne im wesentlichen von seinem Schönen etwas einzubüßen.“

Diese Äußerung Goethes gab mir eine neue Ansicht, wie man beim Theater in hundert ähnlichen Fällen zu verfahren habe, und ich war über diese Maxime, die freilich einen guten Kopf, ja einen Poeten voraussetzt, der seine Sache versteht, höchst erfreut.

Wir sprachen über Lord Byron weiter, und ich erwähnte, wie er in seinen Konversationen mit Medwin es als etwas höchst Schwieriges und Undankbares ausgesprochen habe, für das Theater zu schreiben. ”Es kommt darauf an,“ sagte Goethe, ”daß der Dichter die Bahn zu treffen wisse, die der Geschmack und das Interesse des Publikums genommen hat. Fällt die Richtung des Talents mit der des Publikums zusammen, so ist alles gewonnen. Diese Bahn hat Houwald mit seinem ›Bilde‹ getroffen, daher der allgemeine Beifall. Lord Byron wäre vielleicht nicht so glücklich gewesen, insofern seine Richtungen von der des Publikums abwichen. Denn es fragt sich hiebei keineswegs, wie groß der Poet sei; vielmehr kann ein solcher, der mit seiner Persönlichkeit aus dem allgemeinen Publikum wenig hervorragt, oft eben dadurch die allgemeinste Gunst gewinnen.“

Wir setzten das Gespräch über Lord Byron fort, und Goethe bewunderte sein außerordentliches Talent. ”Dasjenige, was ich die Erfindung nenne“, sagte er, ”ist mir bei keinem Menschen in der Welt größer vorgekommen als bei ihm. Die Art und Weise, wie er einen dramatischen Knoten löset, ist stets über alle Erwartung und immer besser, als man es sich dachte.“ – ”Mir geht es mit Shakespeare so,“ erwiderte ich, ”namentlich mit dem Falstaff, wenn er sich festgelogen hat und ich mich frage, was ich ihn tun lassen würde, um sich wieder loszuhelfen, wo denn freilich Shakespeare alle meine Gedanken bei weitem übertrifft. Daß aber Sie ein Gleiches von Lord Byron sagen, ist wohl das höchste Lob, das diesem zuteil werden kann. Jedoch“, fügte ich hinzu, ”steht der Poet, der Anfang und Ende klar übersieht, gegen den befangenen Leser bei weitem im Vorteil.“

Goethe gab mir recht und lachte dann über Lord Byron, daß er, der sich im Leben nie gefügt und der nie nach einem Gesetz gefragt, sich endlich dem dümmsten Gesetz der drei Einheiten unterworfen habe. ”Er hat den Grund dieses Gesetzes so wenig verstanden,“ sagte er, ”als die übrige Welt. Das Faßliche ist der Grund, und die drei Einheiten sind nur insofern gut, als dieses durch sie erreicht wird. Sind sie aber dem Faßlichen hinderlich, so ist es immer unverständig, sie als Gesetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbst die Griechen, von denen diese Regel ausging, haben sie nicht immer befolgt; im ›Phaëthon‹ des Euripides und in andern Stücken wechselt der Ort und man sieht also, daß die gute Darstellung ihres Gegenstandes ihnen mehr galt als der blinde Respekt vor einem Gesetz, das an sich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakespeareschen Stücke gehen über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinaus als nur möglich; aber sie sind faßlich, es ist nichts faßlicher als sie, und deshalb würden auch die Griechen sie untadelig finden. Die französischen Dichter haben dem Gesetz der drei Einheiten am strengsten Folge zu leisten gesucht, aber sie sündigen gegen das Faßliche, indem sie ein dramatisches Gesetz nicht dramatisch lösen, sondern durch Erzählung.“

Ich dachte hiebei an ›Die Feinde‹ von Houwald, bei welchem Drama der Verfasser sich auch sehr im Lichte stand, indem er, um die Einheit des Orts zu bewahren, im ersten Akt dem Faßlichen schadete und überhaupt eine mögliche größere Wirkung seines Stückes einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Dagegen dachte ich auch an den ›Götz von Berlichingen‹, welches Stück über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinausgeht als nur immer möglich; aber auch so in der Gegenwart sich entwickelnd, alles vor die unmittelbare Anschauung bringend, und daher so echt dramatisch und faßlich ist als nur irgendein Stück in der Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und des Orts dann natürlich und im Sinne der Griechen wäre, wenn ein Faktum so wenig Umfang habe, daß es sich in gehöriger Zeit vor unsern Augen im Detail entwickeln könne; daß aber bei einer großen, durch verschiedene Orte sich machenden Handlung kein Grund sei, solche auf einen Ort beschränken zu wollen, um so weniger, als bei unseren jetzigen Bühnen zu beliebiger Verwandlung der Szene durchaus kein Hindernis im Wege stehe.

Goethe fuhr über Lord Byron zu reden fort. ”Seinem stets ins Unbegrenzte strebenden Naturell“, sagte er, ”steht jedoch die Einschränkung, die er sich durch Beobachtung der drei Einheiten auflegte, sehr wohl. Hätte er sich doch auch im Sittlichen so zu begrenzen gewußt! Daß er dieses nicht konnte, war sein Verderben, und es läßt sich sehr wohl sagen, daß er an seiner Zügellosigkeit zugrunde gegangen ist.

Er war gar zu dunkel über sich selbst. Er lebte immer leidenschaftlich in den Tag hin und wußte und bedachte nicht, was er tat. Sich selber alles erlaubend und an andern nichts billigend, mußte er es mit sich selbst verderben und die Welt gegen sich aufregen. Mit seinen ›English Bards and Scotch Reviewers‹ verletzte er gleich anfänglich die vorzüglichsten Literatoren. Um nachher nur zu leben, mußte er einen Schritt zurücktreten. In seinen folgenden Werken ging er in Opposition und Mißbilligung fort; Staat und Kirche blieben nicht unangetastet. Dieses rücksichtslose Hinwirken trieb ihn aus England und hätte ihn mit der Zeit auch aus Europa getrieben. Es war ihm überall zu enge, und bei der grenzenlosesten persönlichen Freiheit fühlte er sich beklommen; die Welt war ihm wie ein Gefängnis. Sein Gehen nach Griechenland war kein freiwilliger Entschluß, sein Mißverhältnis mit der Welt trieb ihn dazu.

Daß er sich vom Herkömmlichen, Patriotischen lossagte, hat nicht allein einen so vorzüglichen Menschen persönlich zugrunde gerichtet, sondern sein revolutionären Sinn und die damit verbundene beständige Agitation des Gemüts hat auch sein Talent nicht zur gehörigen Entwickelung kommen lassen. Auch ist die ewige Opposition und Mißbilligung seinen vortrefflichen Werken selbst, so wie sie daliegen, höchst schädlich. Denn nicht allein, daß das Unbehagen des Dichters sich dem Leser mitteilt, sondern auch alles opponierende Wirken geht auf das Negative hinaus, und das Negative ist nichts. Wenn ich das Schlechte schlecht nenne, was ist da viel gewonnen? Nenne ich aber gar das Gute schlecht, so ist viel geschadet. Wer recht wirken will, muß nie schelten, sich um das Verkehrte gar nicht bekümmern, sondern nur immer das Gute tun. Denn es kommt nicht darauf an, daß eingerissen, sondern daß etwas aufgebaut werde, woran die Menschheit reine Freude empfinde.“

Ich erquickte mich an diesen herrlichen Worten und freute mich der köstlichen Maxime.

”Lord Byron“, fuhr Goethe fort, ”ist zu betrachten: als Mensch, als Engländer und als großes Talent. Seine guten Eigenschaften sind vorzüglich vom Menschen herzuleiten, seine schlimmen, daß er ein Engländer und ein Peer von England war; und sein Talent ist inkommensurabel.

Alle Engländer sind als solche ohne eigentliche Reflexion, die Zerstreuung und der Parteigeist lassen sie zu keiner ruhigen Ausbildung kommen. Aber sie sind groß als praktische Menschen.

So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken über sich selbst gelangen; deswegen auch seine Reflexionen überhaupt ihm nicht gelingen wollen, wie sein Symbolum ›Viel Geld und keine Obrigkeit‹ beweiset, weil durchaus vieles Geld die Obrigkeit paralysiert.

Aber alles, was er produzieren mag, gelingt ihm, und man kann wirklich sagen, daß sich bei ihm die Inspiration an die Stelle der Reflexion setzt. Er mußte immer dichten; und da war denn alles, was vom Menschen, besonders vom Herzen ausging, vortrefflich. Zu seinen Sachen kam er wie die Weiber zu schönen Kindern; sie denken nicht daran und wissen nicht wie.

Er ist ein großes Talent, ein geborenes, und die eigentlich poetische Kraft ist mir bei niemanden größer vorgekommen als bei ihm. In Auffassung des Äußern und klarem Durchblick vergangener Zustände ist er ebenso groß als Shakespeare. Aber Shakespeare ist als reines Individuum überwiegend. Dieses fühlte Byron sehr wohl, deshalb spricht er vom Shakespeare nicht viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß. Er hätte ihn gern verleugnet, denn Shakespeares Heiterkeit ist ihm im Wege; er fühlt, daß er nicht dagegen aufkann. Pope verleugnet er nicht, weil er ihn nicht zu fürchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr, wo er kann, denn er weiß sehr wohl, daß Pope nur eine Wand gegen ihn ist.“

Goethe schien über Byron unerschöpflich, und ich konnte nicht satt werden, ihm zuzuhören. Nach einigen kleinen Zwischengesprächen fuhr er fort:

”Der hohe Stand als englischer Peer war Byron sehr nachteilig; denn jedes Talent ist durch die Außenwelt geniert, geschweige eins bei so hoher Geburt und so großem Vermögen. Ein gewisser mittler Zustand ist dem Talent bei weitem zuträglicher; weshalb wir denn auch alle große Künstler und Poeten in den mittleren Ständen finden. Byrons Hang zum Unbegrenzten hätte ihm bei einer geringeren Geburt und niederem Vermögen bei weitem nicht so gefährlich werden können. So aber stand es in seiner Fracht, jede Anwandlung in Ausführung zu bringen, und das verstrickte ihn in unzählige Händel. Und wie sollte ferner dem, der selbst aus so hohem Stande war, irgendein Stand imponieren und Rücksicht einflößen? Er sprach aus, was sich in ihm regte, und das brachte ihn mit der Welt in einen unauflöslichen Konflikt.

Man bemerkt mit Verwunderung,“ fuhr Goethe fort, ”welcher große Teil des Lebens eines vornehmen reichen Engländers in Entführungen und Duellen zugebracht wird. Lord Byron erzählt selbst, daß sein Vater drei Frauen entführt habe. Da sei einer einmal ein vernünftiger Sohn!

Er lebte eigentlich immer im Naturzustande, und bei seiner Art zu sein, mußte ihm täglich das Bedürfnis der Notwehr vorschweben. Deswegen sein ewiges Pistolenschießen. Er mußte jeden Augenblick erwarten, herausgefordert zu werden.

Er konnte nicht allein leben. Deswegen war er trotz aller seiner Wunderlichkeiten gegen seine Gesellschaft höchst nachsichtig. Er las das herrliche Gedicht über den Tod des General Moore einen Abend vor, und seine edlen Freunde wissen nicht, was sie daraus machen sollen. Das rührt ihn nicht, und er steckt es wieder ein. Als Poet beweist er sich wirklich wie ein Lamm. Ein anderer hätte sie dem Teufel übergeben!“

Mittwoch, den 20. [Dienstag, den 19.] April 1825

Goethe zeigte mir diesen Abend einen Brief eines jungen Studierenden, der ihn um den Plan zum zweiten Teile des ›Faust‹ bittet, indem er den Vorsatz habe, dieses Werk seinerseits zu vollenden. Trocken, gutmütig und aufrichtig geht er mit seinen Wünschen und Absichten frei heraus und äußert zuletzt ganz unverhohlen, daß es zwar mit allen übrigen neuesten literarischen Bestrebungen nichts sei, daß aber in ihm eine neue Literatur frisch erblühen solle.

Wenn ich im Leben auf einen jungen Menschen stieße, der Napoleons Welteroberungen fortzusetzen sich rüstete, oder auf einen jungen Bau-Dilettanten, der den Kölner Dom zu vollenden sich anschickte, so würde ich mich über diese nicht mehr verwundern und sie nicht verrückter und lächerlicher finden, als eben diesen jungen Liebhaber der Poesie, der Wahn genug besitzt, aus bloßer Neigung den zweiten Teil des ›Faust‹ machen zu können.

Ja ich halte es für möglicher, den Kölner Dom auszubauen, als in Goethes Sinne den ›Faust‹ fortzusetzen! Denn jenem ließe sich doch allenfalls mathematisch beikommen, er steht uns doch sinnlich vor Augen und läßt sich mit Händen greifen. Mit welchen Schnüren und Maßen aber wollte man zu einem unsichtbaren geistigen Werk reichen, das durchaus auf dem Subjekt beruht, bei welchem alles auf das Aperçu ankommt, das zum Material ein großes selbstdurchlebtes Leben und zur Ausführung eine jahrelang geübte, zur Meisterschaft gesteigerte Technik erfordert?

Wer ein solches Unternehmen für leicht, ja nur für möglich hält, hat sicher nur ein sehr geringes Talent, eben weil er keine Ahndung vom Hohen und Schwierigen besitzt; und es ließe sich sehr wohl behaupten, daß, wenn Goethe seinen ›Faust‹ bis auf eine Lücke von wenigen Versen selbst vollenden wollte, ein solcher Jüngling nicht fähig sein würde, nur die wenigen Verse schicklich hineinzubringen.

Ich will nicht untersuchen, woher unserer jetzigen Jugend die Einbildung gekommen, daß sie dasjenige als etwas Angeborenes bereits mit sich bringe, was man bisher nur auf dem Wege vieljähriger Studien und Erfahrungen erlangen konnte, aber so viel glaube ich sagen zu können, daß die in Deutschland jetzt so häufig vorkommenden Äußerungen eines alle Stufen allmählicher Entwickelung keck überschreitenden Sinnes zu künftigen Meisterwerken wenige Hoffnung machen.

”Das Unglück ist“, sagte Goethe, ”im Staat, daß niemand leben und genießen, sondern jeder regieren, und in der Kunst, daß niemand sich des Hervorgebrachten freuen, sondern jeder seinerseits selbst wieder produzieren will.

Auch denkt niemand daran, sich von einem Werk der Poesie auf seinem eigenen Wege fördern zu lassen, sondern jeder will sogleich wieder dasselbige machen.

Es ist ferner kein Ernst da, der ins Ganze geht, kein Sinn, dem Ganzen etwas zuliebe zu tun, sondern man trachtet nur, wie man sein eigenes Selbst bemerklich mache und es vor der Welt zu möglichstes Evidenz bringe. Dieses falsche Bestreben zeigt sich überall, und man tut es den neuesten Virtuosen nach, die nicht sowohl solche Stücke zu ihrem Vortrage wählen, woran die Zuhörer reinen musikalischen Genuß haben, als vielmehr solche, worin der Spielende seine erlangte Fertigkeit könne bewundern lassen. Überall ist es das Individuum, das sich herrlich zeigen will, und nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem Ganzen und der Sache zuliebe sein eigenes Selbst zurücksetzte.

Hiezu kommt sodann, daß die Menschen in ein pfuscherhaftes Produzieren hineinkommen, ohne es selbst zu wissen. Die Kinder machen schon Verse und gehen so fort und meinen als Jünglinge, sie könnten was, bis sie zuletzt als Männer zur Einsicht des Vortrefflichen gelangen, was da ist, und über die Jahre erschrecken, die sie in einer falschen, höchst unzulänglichen Bestrebung verloren haben.

Ja, viele kommen zur Erkenntnis des Vollendeten und ihrer eigenen Unzulänglichkeit nie und produzieren Halbheiten bis an ihr Ende.

Gewiß ist es, daß wenn jeder früh genug zum Bewußtsein zu bringen wäre, wie die Welt von dem Vortrefflichsten so voll ist und was dazu gehört, diesen Werken etwas Gleiches an die Seite zu setzen, daß sodann von jetzigen hundert dichtenden Jünglingen kaum ein einziger Beharren und Talent und Mut genug in sich fühlen würde, zu Erreichung einer ähnlichen Meisterschaft ruhig fortzugehen.

Viele junge Maler würden nie einen Pinsel in die Hand genommen haben; wenn sie früh genug gewußt und begriffen hätten, was denn eigentlich ein Meister wie Raffael gemacht hat.“

Das Gespräch lenkte sich auf die falschen Tendenzen im allgemeinen, und Goethe fuhr fort:

”So war meine praktische Tendenz zur bildenden Kunst eigentlich eine falsche, denn ich hatte keine Naturanlage dazu und konnte sich also dergleichen nicht aus mir entwickeln. Eine gewisse Zärtlichkeit gegen die landschaftlichen Umgebungen war mir eigen und daher meine ersten Anfänge eigentlich hoffnungsvoll. Die Reise nach Italien zerstörte dieses praktische Behagen; eine weite Aussicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Fähigkeit ging verloren, und da sich ein künstlerisches Talent weder technisch noch ästhetisch entwickeln konnte, so zerfloß mein Bestreben zu nichts.

Man sagt mit Recht,“ fuhr Goethe fort, ”daß die gemeinsame Ausbildung menschlicher Kräfte zu wünschen und auch das Vorzüglichste sei. Der Mensch aber ist dazu nicht geboren, jeder muß sich eigentlich als ein besonderes Wesen bilden, aber den Begriff zu erlangen suchen, was alle zusammen sind.“

Ich dachte hiebei an den ›Wilhelm Meister‹, wo gleichfalls ausgesprochen ist, daß nur alle Menschen zusammengenommen die Menschheit ausmachen und wir nur insofern zu achten sind, als wir zu schätzen wissen.

So auch dachte ich an die ›Wanderjahre‹, wo Montan immer nur zu einem Handwerk rät und dabei ausspricht, daß jetzt die Zeit der Einseitigkeiten sei und man den glücklich zu preisen habe, der dieses begreife und für sich und andere in solchem Sinne wirke.

Nun aber fragt es sich, was jemand für ein Handwerk habe, damit er die Grenzen nicht überschreite, aber auch nicht zu wenig tue.

Wessen Sache es sein wird, viele Fächer zu übersehen, zu beurteilen, zu leiten, der soll auch eine möglichste Einsicht in viele Fächer zu erlangen suchen. So kann ein Fürst, ein künftiger Staatsmann sich nicht vielseitig genug ausbilden, denn die Vielseitigkeit gehört zu seinem Handwerk.

Gleicherweise soll der Poet nach mannigfaltiger Kenntnis streben; denn die ganze Welt ist sein Stoff, den er zu handhaben und auszusprechen verstehen muß.

Aber der Dichter soll kein Maler sein wollen, sondern sich begnügen, die Welt durch das Wort wiederzugeben; so wie er dem Schauspieler überläßt, sie durch persönliche Darstellung uns vor die Augen zu bringen.

Denn Einsicht und Lebenstätigkeit sollen wohl unterschieden werden, und man soll bedenken, daß jede Kunst, sobald es auf die Ausübung ankommt, etwas sehr Schwieriges und Großes ist, worin es zur Meisterschaft zu bringen, ein eigenes Leben verlangt wird.

So hat Goethe nach vielseitigsten Einsicht gestrebt, aber in seiner Lebenstätigkeit hat er sich nur auf eins beschränkt. Nur eine einzige Kunst hat er geübt, und zwar meisterhaft geübt, nämlich die: deutsch zu schreiben. Daß der Stoff, den er aussprach, vielseitiger Natur war, ist eine andere Sache.

Gleicherweise soll man Ausbildung von Lebenstätigkeit wohl unterscheiden.

So gehört zur Ausbildung des Dichters, daß sein Auge zur Auffassung der äußeren Gegenstände auf alle Weise geübt werde. Und wenn Goethe seine praktische Tendenz zur bildenden Kunst, insofern er sie zu seiner Lebenstätigkeit hätte machen wollen, eine falsche nennt, so war sie wiederum ganz am Orte, insofern es seine Ausbildung als Dichter galt.

”Die Gegenständlichkeit meiner Poesie“, sagte Goethe, ”bin ich denn doch jener großen Aufmerksamkeit und Übung des Auges schuldig geworden; so wie ich auch die daraus gewonnene Kenntnis hoch anzuschlagen habe.“

Hüten aber soll man sich, die Grenzen seiner Ausbildung zu weit zu stecken.

”Die Naturforscher“, sagte Goethe, ”werden am ersten dazu verführt, weil zur Betrachtung der Natur wirklich eine sehr harmonische allgemeine Ausbildung erfordert wird.“

Dagegen aber soll sich jeder, sobald es die Kenntnisse betrifft, die zu seinem Fache unerläßlich gehören, vor Beschränkung und Einseitigkeit zu bewahren suchen.

Ein Dichter, der für das Theater schreiben will, soll Kenntnis der Bühne haben, damit er die Mittel erwäge, die ihm zu Gebote stehen, und er überhaupt wisse, was zu tun und zu lassen sei; so wie es dem Opernkomponisten nicht an Einsicht der Poesie fehlen darf, damit er das Schlechte vom Guten unterscheiden könne und seine Kunst nicht an etwas Unzulänglichem verschwendet werde.

”Carl Maria von Weber“, sagte Goethe, ”mußte die ›Euryanthe‹ nicht komponieren; er mußte gleich sehen, daß dies ein schlechter Stoff sei, woraus sich nichts machen lasse. Diese Einsicht dürfen wir bei jedem Komponisten, als zu seiner Kunst gehörig, voraussetzen.“

So soll der Maler Kenntnis in Unterscheidung der Gegenstände haben; denn es gehört zu seinem Fache, daß er wisse, was er zu malen habe und was nicht.

”Im übrigen aber“, sagte Goethe, ”ist es zuletzt die größte Kunst, sich zu beschränken und zu isolieren.“

So hat er die ganze Zeit, die ich in seiner Nähe bin, mich stets vor allen ableitenden Richtungen zu bewahren und mich immer auf ein einziges Fach zu konzentrieren gesucht. Zeigte ich etwa Neigung, mich in Naturwissenschaften umzutun, so war immer sein Rat, es zu unterlassen und mich für jetzt bloß an die Poesie zu halten. Wollte ich ein Buch lesen, wovon er wußte, daß es mich auf meinem jetzigen Wege nicht weiter brächte, so widerrief er es mir stets, indem er sagte, es sei für mich von keinem praktischen Nutzen.

”Ich habe gar zu viele Zeit auf Dinge verwendet,“ sagte er eines Tages, ”die nicht zu meinem eigentlichen Fache gehörten. Wenn ich bedenke, was Lopez de Vega gemacht hat, so kommt mir die Zahl meiner poetischen Werke sehr klein vor. Ich hätte mich mehr an mein eigentliches Metier halten sollen.

Hätte ich mich nicht so viel mit Steinen beschäftiget“, sagte er ein andermal, ”und meine Zeit zu etwas Besserem verwendet, ich könnte den schönsten Schmuck von Diamanten haben.“

Aus gleicher Ursache schätzt und rühmt er an seinem Freunde Meyer, daß dieser ausschließlich auf das Studium der Kunst sein ganzes Leben verwendet habe, wodurch man ihm denn die höchste Einsicht in diesem Fache zugestehen müsse.

”Ich bin auch in solcher Richtung frühzeitig hergekommen“, sagte Goethe, ”und habe auch fast ein halbes Leben an Betrachtung und Studium von Kunstwerken gewendet, aber Meyern kann ich es denn doch in gewisser Hinsicht nicht gleichtun. Ich hüte mich daher auch wohl, ein neues Gemälde diesem Freunde sogleich zu zeigen, sondern ich sehe zuvor zu, wie weit ich ihm meinerseits beikommen kann. Glaube ich nun, über das Gelungene und Mangelhafte völlig im klaren zu sein, so zeige ich es Meyern, der denn freilich weit schärfer sieht und dem in manchem Betracht noch ganz andere Lichter dabei aufgehen. Und so sehe ich immer von neuem, was es sagen will und was dazu gehört, um in einer Sache durchaus groß zu sein. In Meyern liegt eine Kunsteinsicht von ganzen Jahrtausenden.“

Nun aber könnte man fragen, warum denn Goethe, wenn er so lebhaft durchdrungen sei, daß der Mensch nur ein Einziges tun solle, warum denn gerade er selbst sein Leben an so höchst vielseitige Richtungen verwendet habe.

Hierauf antworte ich, daß, wenn Goethe jetzt in die Welt käme und er die poetischen und wissenschaftlichen Bestrebungen seiner Nation bereits auf der Höhe vorfände, auf welche sie jetzt, und zwar größtenteils durch ihn, gebracht sind, er sodann sicher zu so mannigfaltigen Richtungen keine Veranlassung finden und sich gewiß auf ein einziges Fach beschränken würde.

So aber lag es nicht allein in seiner Natur, nach allen Seiten hin zu forschen und sich für die irdischen Dinge klar zu machen, sondern es lag auch im Bedürfnis der Zeit, das Wahrgenommene auszusprechen.

Er tat bei seinem Erscheinen zwei große Erbschaften: der Irrtum und die Unzulänglichkeit fielen ihm zu, daß er sie hinwegräume, und verlangten seine lebenslänglichen Bemühungen nach vielen Seiten.

Wäre die Newtonische Theorie Goethen nicht als ein großer, dem menschlichen Geiste höchst schädlicher Irrtum erschienen, glaubt man denn, daß es ihm je eingefallen sein würde, eine ›Farbenlehre‹ zu schreiben und vieljährige Bemühungen einer solchen Nebenrichtung zu widmen? Keineswegs! Sondern sein Wahrheitsgefühl im Konflikt mit dem Irrtum war es, das ihn bewog, sein reines Licht auch in diese Dunkelheiten leuchten zu lassen.

Ein Gleiches ist von seiner Metamorphosenlehre zu sagen, worin wir ihm jetzt ein Muster wissenschaftlicher Behandlung verdanken, welches Werk zu schreiben Goethen aber gewiß nie eingefallen sein würde, wenn er seine Zeitgenossen bereits auf dem Wege zu einem solchen Ziele erblickt hätte.

Ja sogar von seinen vielseitigen poetischen Bestrebungen möchte solches gelten. Denn es ist sehr die Frage, ob Goethe je einen Roman würde geschrieben haben, wenn ein Werk wie der ›Wilhelm Meister‹ bei seiner Nation bereits wäre vorhanden gewesen. Und sehr die Frage, ob er in solchem Fall sich nicht vielleicht ganz ausschließlich der dramatischen Poesie gewidmet hätte.

Was er in solchem Fall einer einseitigen Richtung alles hervorgebracht und gewirkt haben würde, ist gar nicht abzusehen; so viel ist jedoch gewiß, daß, sobald man aufs Ganze sieht, kein Verständiger wünschen wird, daß Goethe eben nicht alles dasjenige möchte hervorgebracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal seinem Schöpfer gefallen hat.

Donnerstag, den 12. [?] Mai 1825

Goethe sprach mit hoher Begeisterung über Menander. ”Nächst dem Sophokles“, sagte er, ”kenne ich keinen, der mir so lieb wäre. Er ist durchaus rein, edel, groß und heiter, seine Anmut ist unerreichbar. Daß wir so wenig von ihm besitzen, ist allerdings zu bedauern, allein auch das Wenige ist unschätzbar und für begabte Menschen viel daraus zu lernen.

Es kommt nur immer darauf an,“ fuhr Goethe fort, ”daß derjenige, von dem wir lernen wollen, unserer Natur gemäß sei. So hat z. B. Calderon, so groß er ist und so sehr ich ihn bewundere, auf mich gar keinen Einfluß gehabt, weder im Guten noch im Schlimmen. Schillern aber wäre er gefährlich gewesen, er wäre an ihm irre geworden, und es ist daher ein Glück, daß Calderon erst nach seinem Tode in Deutschland in allgemeine Aufnahme gekommen. Calderon ist unendlich groß im Technischen und Theatralischen; Schiller dagegen weit tüchtiger, ernster und größer im Wollen, und es wäre daher schade gewesen, von solchen Tugenden vielleicht etwas einzubüßen, ohne doch die Größe Calderons in anderer Hinsicht zu erreichen.“

Wir kamen auf Molière. ”Molière“, sagte Goethe, ”ist so groß, daß man immer von neuem erstaunt, wenn man ihn wieder liest. Er ist ein Mann für sich, seine Stücke grenzen ans Tragische, sie sind apprehensiv, und niemand hat den Mut, es ihm nachzutun. Sein ›Geiziger‹, wo das Laster zwischen Vater und Sohn alle Pietät aufhebt, ist besonders groß und im hohen Sinne tragisch. Wenn man aber in einer deutschen Bearbeitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, so wird es schwach und will nicht viel mehr heißen. Man fürchtet, das Laster in seiner wahren Natur erscheinen zu sehen allein was wird es da, und was ist denn überhaupt tragisch wirksam als das Unerträgliche.

Ich lese von Molière alle Jahr einige Stücke, so wie ich auch von Zeit zu Zeit die Kupfer nach den großen italienischen Meistern betrachte. Denn wir kleinen Menschen sind nicht fähig, die Größe solcher Dinge in uns zu bewahren, und wir müssen daher von Zeit zu Zeit immer dahin zurückkehren, um solche Eindrücke in uns anzufrischen.

Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! Sowie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überhaupt, was können wir denn unser Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.

Hiebei aber ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Epoche unseres Lebens der Einfluß einer fremden bedeutenden Persönlichkeit stattfindet.

Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter waren als ich, und die beiden ersteren auf meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung.

Ferner: daß Schiller so viel jünger war und im frischesten Streben begriffen, da ich an der Welt müde zu werden begann; angleichen, daß die Gebrüder von Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir daher unnennbare Vorteile entstanden.“

Nach solchen Äußerungen über die Einflüsse bedeutender Personen auf ihn kam das Gespräch auf die Wirkungen, die er auf andere gehabt, und ich erwähnte Bürger, bei welchem es mir problematisch erscheine, daß bei ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine Spur einer Einwirkung von Goethes Seite wahrzunehmen.

”Bürger“, sagte Goethe, ”hatte zu mir wohl eine Verwandtschaft als Talent, allein der Baum seiner sittlichen Kultur wurzelte in einem ganz anderen Boden und hatte eine ganz andere Richtung. Und jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen. Ein Mann aber, der in seinem dreißigsten Jahre ein Gedicht wie die ›Frau Schnips‹ schreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch sein bedeutendes Talent sich ein Publikum gewonnen, dem er völlig genügte, und er hatte daher keine Ursache, sich nach den Eigenschaften eines Mitstrebenden umzutun, der ihn weiter nichts anging.

”Überhaupt“, fuhr Goethe fort, ”lernt man nur von dem, den man liebt. Solche Gesinnungen finden sich nun wohl gegen mich bei jetzt heranwachsenden jungen Talenten, allein ich fand sie sehr spärlich unter Gleichzeitigen. Ja ich wüßte kaum einen einzigen Mann von Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht gewesen wäre. Gleich an meinem ›Werther‹ tadelten sie so viel, daß, wenn ich jede gescholtene Stelle hätte tilgen wollen, von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben wäre. Allein aller Tadel schadete mir nichts, denn solche subjektive Urteile einzelner obgleich bedeutender Männer stellten sich durch die Masse wieder ins Gleiche. Wer aber nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben.

Nun streitet sich das Publikum seit zwanzig Jahren, wer größer sei: Schiller oder ich, und sie sollten sich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da sind, worüber sie streiten können.“

Sonnabend, den 11. [Mittwoch, den 1.] Juni 1825

Goethe sprach heute bei Tisch sehr viel von dem Buche des Major Parry über Lord Byron. Er lobte es durchaus und bemerkte, daß Lord Byron in dieser Darstellung weit vollkommener und weit klarer über sich und seine Vorsätze erscheine als in allem, was bisher über ihn geschrieben worden.

”Der Major Parry“, fuhr Goethe fort, ”muß gleichfalls ein sehr bedeutender, ja ein hoher Mensch sein, daß er seinen Freund so rein hat auffassen und so vollkommen hat darstellen können. Eine Äußerung seines Buches ist mir besonders lieb und erwünscht gewesen, sie ist eines alten Griechen, eines Plutarch würdig. ›Dem edlen Lord‹, sagt Parry, ›fehlten alle jene Tugenden, die den Bürgerstand zieren und welche sich anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Lebensweise gehindert war. Nun sind aber seine ungünstigen Beurteiler sämtlich aus der Mittelklasse, die denn freilich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu vermissen, was sie an sich selber zu schätzen Ursache haben. Die wackern Leute bedenken nicht, daß er an seiner hohen Stelle Verdienste besaß, von denen sie sich keinen Begriff machen können.‹ Nun, wie gefällt Ihnen das?“ sagte Goethe; ”nicht wahr, so etwas hört man nicht alle Tage?“

”Ich freue mich“, sagte ich, ”eine Ansicht öffentlich ausgesprochen zu wissen, wodurch alle kleinlichen Tadler und Herunterzieher eines höher stehenden Menschen ein für allemal durchaus gelähmt und geschlagen worden.“

Wir sprachen darauf über welthistorische Gegenstände in bezug auf die Poesie, und zwar inwiefern die Geschichte des einen Volkes für den Dichter günstiger sein könne als die eines andern.

”Der Poet“, sagte Goethe, ”soll das Besondere ergreifen, und er wird, wenn dieses nur etwas Gesundes ist, darin ein Allgemeines darstellen. Die englische Geschichte ist vortrefflich zu poetischer Darstellung, weil sie etwas Tüchtiges, Gesundes und daher Allgemeines ist, das sich wiederholt. Die französische Geschichte dagegen ist nicht für die Poesie, denn sie stellt eine Lebensepoche dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieses Volkes, insofern sie auf jener Epoche gegründet ist, steht daher als ein Besonderes da, das mit der Zeit veralten wird.

Die jetzige Epoche der französischen Literatur“, sagte Goethe später, ”ist gar nicht zu beurteilen. Das eindringende Deutsche bringt darin eine große Gärung hervor, und erst nach zwanzig Jahren wird man sehen, was dies für ein Resultat gibt.“

Wir sprachen darauf über Ästhetiker, welche das Wesen der Poesie und des Dichters durch abstrakte Definitionen auszudrücken sich abmühen, ohne jedoch zu einem klaren Resultat zu kommen.

”Was ist da viel zu definieren!“ sagte Goethe. ”Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Poeten.“

Mittwoch, den 15. [12.] Oktober 1825

Ich fand Goethe diesen Abend in besonders hoher Stimmung und hatte die Freude, aus seinem Munde abermals manches Bedeutende zu hören. Wir sprachen über den Zustand der neuesten Literatur, wo denn Goethe sich folgendermaßen äußerte:

”Mangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen“, sagte er, ”ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.

Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches Wahres uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre.

Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lucretia, eines Mucius Scävola, und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! Und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.

So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Faktum des dreizehnten Jahrhunderts, wo Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Papste zu tun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg geschlagen. Diese Tapfern lebten daher bis jetzt immer in mir als große Retter der deutschen Nation. Nun aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Helden sich ganz unnütz aufgeopfert hätten, indem das asiatische Heer bereits zurückgerufen gewesen und von selbst zurückgegangen sein würde. Dadurch ist nun ein großes vaterländisches Faktum gelähmt und zernichtet, und es wird einem ganz abscheulich zumute.“

Nach diesen Äußerungen über historische Kritiker sprach Goethe über Forscher und Literatoren anderer Art.

”Ich hätte die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu tun ist, nie so kennen gelernt,“ sagte er, ”wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte. Da aber sah ich, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.

Und in der schönen Literatur ist es nicht besser. Auch dort sind große Zwecke und echter Sinn für das Wahre und Tüchtige und dessen Verbreitung sehr seltene Erscheinungen. Einer hegt und trägt den andern, weil er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das wahrhaft Große ist ihnen widerwärtig, und sie möchten es gerne aus der Welt schaffen, damit sie selber nur etwas zu bedeuten hätten. So ist die Masse, und einzelne Hervorragende sind nicht viel besser.

Böttiger hätte bei seinem großen Talent, bei seiner weltumfassenden Gelehrsamkeit der Nation viel sein können. Aber so hat seine Charakterlosigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn selbst um die Achtung der Nation gebracht.

Ein Mann wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!

Viele sind geistreich genug und voller Kenntnisse, allein sie sind zugleich voller Eitelkeit, und um sich von der kurzsichtigen Masse als witzige Köpfe bewundern zu lassen, haben sie keine Scham und Scheu und ist ihnen nichts heilig.

Die Frau von Genlis hat daher vollkommen recht, wenn sie sich gegen die Freiheiten und Frechheiten von Voltaire auflegte. Denn im Grunde, so geistreich alles sein mag, ist der Welt doch nichts damit gedient; es läßt sich nichts darauf gründen. Ja es kann sogar von der größten Schädlichkeit sein, indem es die Menschen verwirrt und ihnen den nötigen Halt nimmt.

Und dann! Was wissen wir denn, und wie weit reichen wir denn mit all unserm Witze!

Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann an der Grenze des Begreiflichen zu halten.

Die Handlungen des Universums zu messen, reichen seine Fähigkeiten nicht hin, und in das Weltall Vernunft bringen zu wollen, ist bei seinem kleinen Standpunkt ein sehr vergebliches Bestreben. Die Vernunft des Menschen und die Vernunft der Gottheit sind zwei sehr verschiedene Dinge.

Sobald wir dem Menschen die Freiheit zugestehen, ist es um die Allwissenheit Gottes getan; denn sobald die Gottheit weiß, was ich tun werde, bin ich gezwungen zu handeln, wie sie es weiß.

Dieses führe ich nur an als ein Zeichen, wie wenig wir wissen, und daß an göttlichen Geheimnissen nicht gut zu rühren ist.

Auch sollen wir höhere Maximen nur aussprechen, insofern sie der Welt zugute kommen; andere sollen wir bei uns behalten, aber sie mögen und werden auf das, was wir tun, wie der milde Schein einer verborgenen Sonne ihren Glanz breiten.“

Sonntag, den 25. Dezember 1825

Ich ging diesen Abend um sechs Uhr zu Goethe, den ich alleine fand und mit dem ich einige schöne Stunden verlebte.

”Mein Gemüt“, sagte er, ”war diese Zeit her durch vieles belästigst; es war mir von allen Seiten her so viel Gutes geschehen, daß ich vor lauter Danksagungen nicht zum eigentlichen Leben kommen konnte. Die Privilegien wegen des Verlags meiner Werke gingen nach und nach von den Höfen ein, und weil die Verhältnisse bei jedem anders waren, so verlangte auch jeder Fall eine eigene Erwiderung. Nun kamen die Anträge unzähliger Buchhändler, die auch bedacht, behandelt und beantwortet sein wollten. Dann, mein Jubiläum brachte mir so tausendfältiges Gute, daß ich mit den Danksagungsbriefen noch jetzt nicht fertig bin. Man will doch nicht hohl und allgemein sein, sondern jedem doch gerne etwas Schickliches und Gehöriges sagen. Jetzt aber werde ich nach und nach frei, und ich fühle mich wieder zu Unterhaltungen aufgelegt.

Ich habe in diesen Tagen eine Bemerkung gemacht, die ich Ihnen doch mitteilen will.

Alles, was wir tun, hat eine Folge. Aber das Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Günstiges, und das Verkehrte nicht immer etwas Ungünstiges hervor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegenteil.

Ich machte vor einiger Zeit, eben bei jenen Unterhandlungen mit Buchhändlern, einen Fehler, und es tat mir leid, daß ich ihn gemacht hatte. Jetzt aber haben sich die Umstände so geändert, daß ich einen großen Fehler begangen haben würde, wenn ich jenen nicht gemacht hätte. Dergleichen wiederholt sich im Leben häufig, und Weltmenschen, welche dieses wissen, sieht man daher mit einer großen Frechheit und Dreistigkeit zu Werke gehen.“

Ich merkte mir diese Beobachtung, die mir neu war. Ich brachte sodann das Gespräch auf einige seiner Werke, und wir kamen auch auf die Elegie ›Alexis und Dora‹.

”An diesem Gedicht“, sagte Goethe, ”tadelten die Menschen den starken leidenschaftlichen Schluß und verlangten, daß die Elegie sanft und ruhig ausgehen solle, ohne jene eifersüchtige Aufwallung; allein ich konnte nicht einsehen, daß jene Menschen recht hätten. Die Eifersucht liegt hier so nahe und ist so in der Sache, daß dem Gedicht etwas fehlen würde, wenn sie nicht da wäre. Ich habe selbst einen jungen Menschen gekannt, der in leidenschaftlicher Liebe zu einem schnell gewonnenen Mädchen ausrief: Aber wird sie es nicht einem andern ebenso machen wie mir?“

Ich stimmte Goethen vollkommen bei und erwähnte sodann der eigentümlichen Zustände dieser Elegie, wo in so kleinem Raum mit wenig Zügen alles so wohl gezeichnet sei, daß man die häusliche Umgebung und das ganze Leben der handelnden Personen darin zu erblicken glaube. ”Das Dargestellte erscheint so wahr,“ sagte ich, ”als ob Sie nach einem wirklich Erlebten gearbeitet hätten.“

”Es ist mir lieb,“ antwortete Goethe, ”wenn es Ihnen so erscheint. Es gibt indes wenige Menschen, die eine Phantasie für die Wahrheit des Realen besitzen, vielmehr ergehen sie sich gerne in seltsamen Ländern und Zuständen, wovon sie gar keine Begriffe haben und die ihre Phantasie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.

Und dann gibt es wieder andere, die durchaus am Realen kleben und, weil es ihnen an aller Poesie fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So verlangten z. B. einige bei dieser Elegie, daß ich dem Alexis hätte einen Bedienten beigeben sollen, um sein Bündelchen zu tragen; die Menschen bedenken aber nicht, daß alles Poetische und Idyllische jenes Zustandes dadurch wäre gestört worden.“

Von ›Alexis und Dora‹ lenkte sich das Gespräch auf den ›Wilhelm Meister‹.

”Es gibt wunderliche Kritiker“, fuhr Goethe fort. ”An diesem Roman tadelten sie, daß der Held sich zu viel in schlechter Gesellschaft befinde. Dadurch aber, daß ich die sogenannte schlechte Gesellschaft als Gefäß betrachtete, um das, was ich von der guten zu sagen hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetischen Körper und einen mannigfaltigen dazu. Hätte ich aber die gute Gesellschaft wieder durch sogenannte gute Gesellschaft zeichnen wollen, so hätte niemand das Buch lesen mögen.

Den anscheinenden Geringfügigkeiten des ›Wilhelm Meister‹ liegt immer etwas Höheres zum Grunde, und es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Weltkenntnis und Übersicht genug besitze, um im Kleinen das Größere wahrzunehmen. Andern mag das gezeichnete Leben als Leben genügen.“

Goethe zeigte mir darauf ein höchst bedeutendes englisches Werk, welches in Kupfern den ganzen Shakespeare darstellte. Jede Seite umfaßte in sechs kleinen Bildern ein besonderes Stück mit einigen untergeschriebenen Versen, so daß der Hauptbegriff und die bedeutendsten Situationen des jedesmaligen Werkes dadurch vor die Augen traten. Alle die unsterblichen Trauerspiele und Lustspiele gingen auf solche Weise, gleich Maskenzügen, dem Geiste vorüber.

”Man erschrickt,“ sagte Goethe, ”wenn man diese Bilderchen durchsieht. Da wird man erst gewahr, wie unendlich reich und groß Shakespeare ist! Da ist doch kein Motiv des Menschenlebens, das er nicht dargestellt und ausgesprochen hätte. Und alles mit welcher Leichtigkeit und Freiheit!

Man kann über Shakespeare gar nicht reden, es ist alles unzulänglich. Ich habe in meinem ›Wilhelm Meister‹ an ihm herumgetupft; allein das will nicht viel heißen. Er ist kein Theaterdichter, an die Bühne hat er nie gedacht, sie war seinem großen Geiste viel zu enge; ja selbst die ganze sichtbare Welt war ihm zu enge.

Er ist gar zu reich und zu gewaltig. Eine produktive Natur darf alle Jahre nur ein Stück von ihm lesen, wenn sie nicht an ihm zugrunde gehen will. Ich tat wohl, daß ich durch meinen ›Götz von Berlichingen‹ und ›Egmont‹ ihn mir vom Halse schaffte, und Byron tat sehr wohl, daß er vor ihm nicht zu großen Respekt hatte und seine eigenen Wege ging. Wie viel treffliche Deutsche sind nicht an ihm zugrunde gegangen, an ihm und Calderon!

Shakespeare“, fuhr Goethe fort, ”gibt uns in silbernen Schalen goldene Äpfel. Wir bekommen nun wohl durch das Studium seiner Stücke die silberne Schale, allein wir haben nur Kartoffeln hineinzutun, das ist das Schlimme!“

Ich lachte und freute mich des herrlichen Gleichnisses.

Goethe las mir darauf einen Brief von Zelter über eine Darstellung des ›Macbeth‹ in Berlin, wo die Musik mit dem großen Geiste und Charakter des Stückes nicht hatte Schritt halten können und worüber nun Zelter sich in verschiedenen Andeutungen auslässet. Durch Goethes Vorlesen gewann der Brief sein volles Leben wieder, und Goethe hielt oft inne, um sich mit mir über das Treffende einzelner Stellen zu freuen.

”›Macbeth“‹, sagte Goethe bei dieser Gelegenheit, ”halte ich für Shakespeares bestes Theaterstück; es ist darin der meiste Verstand in bezug auf die Bühne. Wollen Sie aber seinen freien Geist erkennen, so lesen Sie ›Troilus und Cressida‹, wo er den Stoff der ›Ilias‹ auf seine Weise behandelt.“

Das Gespräch wendete sich auf Byron, und zwar wie er gegen Shakespeares unschuldige Heiterkeit im Nachteil stehe, und wie er durch sein vielfältig negatives Wirken sich so häufigen und meistenteils nicht ungerechten Tadel zugezogen habe. ”Hätte Byron Gelegenheit gehabt,“ sagte Goethe, ”sich alles dessen, was von Opposition in ihm war, durch wiederholte derbe Äußerungen im Parlament zu entledigen, so würde er als Poet weit reiner dastehen. So aber, da er im Parlament kaum zum Reden gekommen ist, hat er alles, was er gegen seine Nation auf dem Herzen hatte, bei sich behalten, und es ist ihm, um sich davon zu befreien, kein anderes Mittel geblieben, als es poetisch zu verarbeiten und auszusprechen. Einen großen Teil der negativen Wirkungen Byrons möchte ich daher verhaltene Parlamentsreden nennen, und ich glaube sie dadurch nicht unpassend bezeichnet zu haben.“

Wir sprachen darauf über Platen, dessen negative Richtung gleichfalls nicht gebilliget wurde. ”Es ist nicht zu leugnen,“ sagte Goethe, ”er besitzt manche glänzende Eigenschaften: allein ihm fehlt – die Liebe. Er liebt so wenig seine Leser und seine Mitpoeten als sich selber, und so kommt man in den Fall, auch auf ihn den Spruch des Apostels anzuwenden: ›Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.‹ Noch in diesen Tagen habe ich Gedichte von Platen gelesen und sein reiches Talent nicht verkennen können. Allein, wie gesagt, die Liebe fehlt ihm, und so wird er auch nie so wirken, als er hätte müssen. Man wird ihn fürchten, und er wird der Gott derer sein, die gern wie er negativ wären, aber nicht wie er das Talent haben.“

1826

Sonntag abend, den 29. Januar 1826

Der erste deutsche Improvisator, Doktor Wolff aus Hamburg, ist seit mehreren Tagen hier und hat auch bereits öffentlich Proben seines seltenen Talentes abgelegt. Freitag abend gab er ein glänzendes Improvisatorium vor sehr zahlreichen Zuhörern und in Gegenwart des weimarischen Hofes. Noch an selbigem Abend erhielt er eine Einladung zu Goethe auf nächsten Mittag.

Ich sprach Doktor Wolff gestern abend, nachdem er mittags vor Goethe improvisiert hatte. Er war sehr beglückt und äußerte, daß diese Stunde in seinem Leben Epoche machen würde, indem Goethe ihn mit wenigen Worten auf eine ganz neue Bahn gebracht und in dem, was er an ihm getadelt, den Nagel auf den Kopf getroffen hätte.

Diesen Abend nun, als ich bei Goethe war, kam das Gespräch sogleich auf Wolff. ”Doktor Wolff ist sehr glücklich,“ sagte ich, ”daß Euer Exzellenz ihm einen guten Rat gegeben.“

”Ich bin aufrichtig gegen ihn gewesen,“ sagte Goethe ”und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn angeregt haben, so ist das ein sehr gutes Zeichen. Er ist ein entschiedenes Talent, daran ist kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjektivität, und davon möchte ich ihn heilen. Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu versuchen. Schildern Sie mir, sagte ich, Ihre Rückkehr nach Hamburg. Dazu war er nun sogleich bereit und fing auf der Stelle in wohlklingenden Versen zu sprechen an. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn nicht loben. Nicht die Rückkehr nach Hamburg schilderte er mir, sondern nur die Empfindungen der Rückkehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freunden, und sein Gedicht konnte ebensogut für eine Rückkehr nach Merseburg und Jena als für eine Rückkehr nach Hamburg gelten. Was ist aber Hamburg für eine ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch ein reiches Feld für die speziellesten Schilderungen bot sich ihm dar, wenn er das Objekt gehörig zu ergreifen gewußt und gewagt hätte!“

Ich bemerkte, daß das Publikum an solcher subjektiven Richtung schuld sei, indem es allen Gefühlssachen einen entschiedenen Beifall schenke.

”Mag sein,“sagte Goethe; ”allein wenn man dem Publikum das Bessere gibt, so ist es noch zufriedener. Ich bin gewiß, wenn es einem improvisierenden Talent wie Wolff gelänge, das Leben großer Städte, wie Rom, Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffenden Wahrheit zu schildern und so lebendig, daß sie glaubten, es mit eigenen Augen zu sehen, er würde alles entzücken und hinreißen. Wenn er zum Objektiven durchbricht, so ist er geborgen: es liegt in ihm, denn er ist nicht ohne Phantasie. Nur muß er sich schnell entschließen und es zu ergreifen wagen.“

”Ich fürchte“, sagte ich, ”daß dieses schwerer ist, als man glaubt, denn es erfordert eine Umwandlung der ganzen Denkweise. Gelingt es ihm, so wird auf jeden Fall ein augenblicklicher Stillstand in der Produktion eintreten, und es wird eine lange Übung erfordern, bis ihm auch das Objektive geläufig und zur zweiten Natur werde.“

”Freilich“, erwiderte Goethe, ”ist dieser Überschritt ungeheuer; aber er muß nur Mut haben und sich schnell entschließen. Es ist damit wie beim Baden die Scheu vor dem Wasser, man muß nur rasch hineinspringen und das Element wird unser sein.

Wenn einer singen lernen will,“ fuhr Goethe fort, ”sind ihm alle diejenigen Töne, die in seiner Kehle liegen, natürlich und leicht: die andern aber, die nicht in seiner Kehle liegen, sind ihm anfänglich äußerst schwer. Um aber ein Sänger zu werden, muß er sie überwinden, denn sie müssen ihm alle zu Gebote stehen. Ebenso ist es mit einem Dichter. Solange er bloß seine wenigen subjektiven Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und dann ist er unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber eine subjektive Natur ihr bißchen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zugrunde geht.

Man spricht immer vom Studium der Alten; allein was will das anders sagen, als: richte dich auf die wirkliche Welt und suche sie auszusprechen denn das taten die Alten auch, da sie lebten.“

Goethe stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich, wie er es gerne hat, auf meinem Stuhle am Tische sitzen blieb. Er stand einen Augenblick am Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat, trat er zu mir heran, und den Finger an den Mund gelegt, sagte er folgendes:

”Ich will Ihnen etwas entdecken, und Sie werden es in Ihrem Leben vielfach bestätigst finden. Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung. Unsere ganze jetzige Zeit ist eine rückschreitende, denn sie ist eine subjektive. Dieses sehen Sie nicht bloß an der Poesie, sondern auch an der Malerei und vielem anderen. Jedes tüchtige Bestreben dagegen wendet sich aus dem Inneren hinaus auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen sehen, die wirklich im Streben und Vorschreiten begriffen und alle objektiver Natur waren.“

Die ausgesprochenen Worte gaben Anlaß zu der geistreichsten Unterhaltung, wobei besonders der großen Zeit des funfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gedacht wurde. Das Gespräch lenkte sich sodann auf das Theater und das Schwache, Empfindsame und Trübselige der neueren Erscheinungen. ”Ich tröste und stärke mich jetzt an Molière“, sagte ich. ”Seinen ›Geizigen‹ habe ich übersetzt und beschäftige mich nun mit seinem ›Arzt wider Willen‹. Was ist doch Molière für ein großer, reiner Mensch!“ – ”Ja,“ sagte Goethe, ”reiner Mensch, das ist das eigentliche Wort, was man von ihm sagen kann; es ist an ihm nichts verbogen und verbildet. Und nun diese Großheit! Er beherrschte die Sitten seiner Zeit, wogegen aber unsere Iffland und Kotzebue sich von den Sitten der ihrigen beherrschen ließen und darin beschränkt und befangen waren. Molière züchtigte die Menschen, indem er sie in ihrer Wahrheit zeichnete.“

”Ich möchte etwas darum geben,“ sagte ich, ”wenn ich die Molièreschen Stücke in ihrer ganzen Reinheit auf der Bühne sehen könnte; allein dem Publikum, wie ich es kenne, muß dergleichen viel zu stark und natürlich sein. Sollte diese Überverfeinerung nicht von der sogenannten idealen Literatur gewisser Autoren herrühren?“

”Nein,“ sagte Goethe, ”sie kommt aus der Gesellschaft selbst. Und dann, was tun unsere jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit menschlichen Dingen bekannt sind. Als Molière schrieb, waren die Mädchen im Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen.

Da wir nun aber unsere jungen Mädchen schwerlich hinausbringen und man nicht aufhören wird, Stücke zu geben, die schwach und eben darum diesen recht sind, so seid klug und macht es wie ich und geht nicht hinein.

Ich habe am Theater nur so lange ein wahrhaftes Interesse gehabt, als ich dabei praktisch einwirken konnte. Es war meine Freude, die Anstalt auf eine höhere Stufe zu bringen, und ich nahm bei den Vorstellungen weniger Anteil an den Stücken, als daß ich darauf sah, ob die Schauspieler ihre Sachen recht machten oder nicht. Was ich zu tadeln hatte, schickte ich am andern Morgen dem Regisseur auf einem Zettel, und ich konnte gewiß sein, bei der nächsten Vorstellung die Fehler vermieden zu sehen. Nun aber, wo ich beim Theater nicht mehr praktisch einwirken kann, habe ich auch keinen Beruf mehr hineinzugehen. Ich müßte das Mangelhafte geschehen lassen, ohne es verbessern zu können, und das ist nicht meine Sache.

Mit dem Lesen von Stücken geht es mir nicht besser. Die jungen deutschen Dichter schicken mir immerfort Trauerspiele; allein was soll ich damit? Ich habe die deutschen Stücke immer nur in der Absicht gelesen, ob ich sie könnte spielen lassen; übrigens waren sie mir gleichgültig. Und was soll ich nun in meiner jetzigen Lage mit den Stücken dieser jungen Leute? Für mich selbst gewinne ich nichts, indem ich lese, wie man es nicht hätte machen sollen, und den jungen Dichtern kann ich nicht nützen bei einer Sache, die schon getan ist. Schickten sie mir statt ihrer gedruckten Stücke den Plan zu einem Stück, so könnte ich wenigstens sagen: mache es, oder mache es nicht, oder mache es so, oder mache es anders und dabei wäre doch einiger Sinn und Nutzen.

Das ganze Unheil entsteht daher, daß die poetische Kultur in Deutschland sich so sehr verbreitet hat, daß niemand mehr einen schlechten Vers macht. Die jungen Dichter, die mir ihre Werke senden, sind nicht geringer als ihre Vorgänger, und da sie nun jene so hoch gepriesen sehen, so begreifen sie nicht, warum man sie nicht auch preiset. Und doch darf man zu ihrer Aufmunterung nichts tun, eben weil es solcher Talente jetzt zu hunderten gibt und man das Überflüssige nicht befördern soll, während noch so viel Nützliches zu tun ist. Wäre ein einzelner, der über alle hervorragte, so wäre es gut, denn der Welt kann nur mit dem Außerordentlichen gedient sein.“

Donnerstag, den 16. Februar 1826

Ich ging diesen Abend um sieben Uhr zu Goethe, den ich in seinem Zimmer alleine fand. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, indem ich ihm die Nachricht brachte, daß ich gestern, bei seiner Durchreise nach Petersburg, den Herzog von Wellington im Gasthofe gesehen.

”Nun,“ sagte Goethe belebt, ”wie war er? Erzählen Sie mir von ihm. Sieht er aus wie sein Porträt?“

”Ja,“ sagte ich ”aber besser, besonderer! Wenn man einen Blick in sein Gesicht getan hat, so sind alle seine Porträts vernichtet. Und man braucht ihn nur ein einziges Mal anzusehen, um ihn nie wieder zu vergessen, ein solcher Eindruck geht von ihm aus. Sein Auge ist braun und vom heitersten Glanze, man fühlt die Wirkung seines Blickes. Sein Mund ist sprechend, auch wenn er geschlossen ist. Er sieht aus wie einer, der vieles gedacht und das Größte gelebt hat, und der nun die Welt mit großer Heiterkeit und Ruhe behandelt und den nichts mehr anficht. Hart und zäh erschien er mir wie eine damaszener Klinge.

Er ist seinem Aussehen nach, hoch in den Funfzigen, von grader Haltung, schlank, nicht sehr groß und eher etwas mager als stark. Ich sah ihn, wie er in den Wagen steigen und wieder abfahren wollte. Sein Gruß, wie er durch die Reihen der Menschen ging und mit sehr weniger Verneigung den Finger an den Hut legte, hatte etwas ungemein Freundliches.“

Goethe hörte meiner Beschreibung mit sichtbarem Interesse zu. ”Da haben Sie einen Helden mehr gesehen,“ sagte er, ”und das will immer etwas heißen.“

Wir kamen auf Napoleon, und ich bedauerte, daß ich den nicht gesehen. ”Freilich,“ sagte Goethe, ”das war auch der Mühe wert. – Dieses Kompendium der Welt!“ – ”Er sah wohl nach etwas aus?“ fragte ich. – ”Er war es,“ antwortete Goethe, ”und man sah ihm an, daß er es war; das war alles.“

Ich hatte für Goethe ein sehr merkwürdiges Gedicht mitgebracht, wovon ich ihm einige Abende vorher schon erzählt hatte, ein Gedicht von ihm selbst, dessen er sich jedoch nicht mehr erinnerte, so tief lag es in der Zeit zurück. Zu Anfang des Jahres 1766 in den ›Sichtbaren‹, einer damals in Frankfurt erschienenen Zeitschrift, abgedruckt, war es durch einen alten Diener Goethes mit nach Weimar gebracht worden, durch dessen Nachkommen es in meine Hände gelangt war. Ohne Zweifel das älteste aller von Goethe bekannten Gedichte. Es hatte die Höllenfahrt Christi zum Gegenstand, wobei es mir merkwürdig war, wie dem sehr jungen Verfasser die religiösen Vorstellungsarten so geläufig gewesen. Der Gesinnung nach konnte das Gedicht von Klopstock herkommen, allein in der Ausführung war es ganz anderer Natur; es war stärker, freier und leichter und hatte eine größere Energie, einen besseren Zug. Außerordentliche Glut erinnerte an eine kräftig brausende Jugend. Beim Mangel an Stoff drehte es sich in sich selbst herum und war länger geworden als billig.

Ich legte Goethen das ganze vergilbte, kaum noch zusammenhängende Zeitungsblatt vor, und da er es mit Augen sah, erinnerte er sich des Gedichts wieder. ”Es ist möglich,“ sagte er, ”daß das Fräulein von Klettenberg mich dazu veranlaßt hat; es steht in der Überschrift: auf Verlangen entworfen, und ich wüßte nicht, wer von meinen Freunden einen solchen Gegenstand anders hätte verlangen können. Es fehlte mir damals an Stoff, und ich war glücklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich besingen konnte. Noch dieser Tage fiel mir ein Gedicht aus jener Zeit in die Hände, das ich in englischer Sprache geschrieben und worin ich mich über den Mangel an poetischen Gegenständen beklage. Wir Deutschen sind auch wirklich schlimm daran: unsere Urgeschichte liegt zu sehr im Dunkel, und die spätere hat aus Mangel eines einzigen Regentenhauses kein allgemeines nationales Interesse. Klopstock versuchte sich am Hermann, allein der Gegenstand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältnis, niemand weiß, was er damit machen soll, und seine Darstellung ist daher ohne Wirkung und Popularität geblieben. Ich tat einen glücklichen Griff mit meinem ›Götz von Berlichingen‹; das war doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, und es war schon etwas damit zu machen.

Beim ›Werther‹ und ›Faust‹ mußte ich dagegen wieder in meinen eigenen Busen greifen, denn das Überlieferte war nicht weit her. Das Teufels- und Hexenwesen machte ich nur einmal; ich war froh, mein nordisches Erbteil verzehrt zu haben, und wandte mich zu den Tischen der Griechen. Hätte ich aber so deutlich wie jetzt gewußt, wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan.“

Am Ostertage, den 26. März 1826

Goethe war heute bei Tisch in der heitersten, herzlichsten Stimmung. Ein ihm sehr wertes Blatt war ihm heute zugekommen, nämlich Lord Byrons Handschrift der Dedikation seines ›Sardanapal‹. Er zeigte sie uns zum Nachtisch, indem er zugleich seine Tochter quälte, ihm Byrons Brief aus Genua wiederzugeben. ”Du siehst, liebes Kind,“ sagte er, ”ich habe jetzt alles beisammen, was auf mein Verhältnis zu Byron Bezug hat, selbst dieses merkwürdige Blatt gelangt heute wunderbarerweise zu mir, und es fehlt mir nun weiter nichts als jener Brief.“

Die liebenswürdige Verehrerin von Byron wollte aber den Brief nicht wieder entbehren. ”Sie haben ihn mir einmal geschenkt, lieber Vater,“ sagte sie, ”und ich gebe ihn nicht zurück; und wenn Sie denn einmal wollen, daß das Gleiche zum Gleichen soll, so geben Sie mir lieber dieses köstliche Blatt von heute noch dazu, und ich verwahre sodann alles miteinander.“ Das wollte Goethe noch weniger, und der anmutige Streit ging noch eine Weile fort, bis er sich in ein allgemeines munteres Gespräch auflöste.

Nachdem wir vom Tisch aufgestanden und die Frauen hinaufgegangen waren, blieb ich mit Goethe allein. Er holte aus seiner Arbeitsstube ein rotes Portefeuille, womit er mit mir ans Fenster trat und es auseinanderlegte. ”Sehen Sie,“ sagte er, ”hier habe ich alles beisammen, was auf mein Verhältnis zu Lord Byron Bezug hat. Hier ist sein Brief aus Livorno, dies ist ein Abdruck seiner Dedikation, dies mein Gedicht, hier das, was ich zu Medwins Konversationen geschrieben; nun fehlt mir bloß sein Brief aus Genua, aber sie will ihn nicht hergeben.“

Goethe sagte mir sodann von einer freundlichen Aufforderung, die in bezug auf Lord Byron heute aus England an ihn ergangen und die ihn sehr angenehm berührt habe. Sein Geist war bei dieser Gelegenheit ganz von Byron voll, und er ergoß sich über ihn, seine Werke und sein Talent in tausend interessanten Äußerungen.

”Die Engländer“, sagte er unter anderm, ”mögen auch von Byron halten, was sie wollen, so ist doch so viel gewiß, daß sie keinen Poeten aufzuweisen haben, der ihm zu vergleichen wäre. Er ist anders als alle übrigen und meistenteils größer.“

Montag, den 15. [Sonntag, den 14.] Mai 1826

Ich sprach mit Goethe über St. Schütze, über den er sich sehr wohlwollend äußerte.

”In den Tagen meines krankhaften Zustandes von voriger Woche“, sagte er, ”habe ich seine ›Heiteren Stunden‹ gelesen. Ich habe an dem Buche große Freude gehabt. Hätte Schütze in England gelebt, er würde Epoche gemacht haben; denn ihm fehlte bei seiner Gabe der Beobachtung und Darstellung weiter nichts als der Anblick eines bedeutenden Lebens.“

Donnerstag, den 1. Juni 1826

Goethe sprach über den ›Globe‹. ”Die Mitarbeiter“, sagte er, ”sind Leute von Welt, heiter, klar, kühn bis zum äußersten Grade. In ihrem Tadel sind sie fein und galant, wogegen aber die deutschen Gelehrten immer glauben, daß sie den sogleich hassen müssen, der nicht so denkt wie sie. Ich zähle den ›Globe‹ zu den interessantesten Zeitschriften und könnte ihn nicht entbehren.“

Mittwoch, den 26. Juli 1826

Diesen Abend hatte ich das Glück, von Goethe manche Äußerung über das Theater zu hören.

Ich erzählte ihm, daß einer meiner Freunde die Absicht habe, Byrons ›Two Foscari‹ für die Bühne einzurichten. Goethe zweifelte am Gelingen.“

”Es ist freilich eine verführerische Sache“, sagte er. ”Wenn ein Stück im Lesen auf uns große Wirkung macht, so denken wir, es müßte auch von der Bühne herunter so tun, und wir bilden uns ein, wir könnten mit weniger Mühe dazu gelangen. Allein es ist ein eigenes Ding. Ein Stück, das nicht ursprünglich mit Absicht und Geschick des Dichters für die Bretter geschrieben ist, geht auch nicht hinauf, und wie man auch damit verfährt, es wird immer etwas Ungehöriges und Widerstrebendes behalten. Welche Mühe habe ich mir nicht mit meinem ›Götz von Berlichingen‹ gegeben – aber doch will es als Theaterstück nicht recht gehen. Es ist zu groß, und ich habe es zu zwei Teilen einrichten müssen, wovon der letzte zwar theatralisch wirksam, der erste aber nur als Expositionsstück anzusehen ist. Wollte man den ersten Teil, des Hergangs der Sache willen, bloß einmal geben und sodann bloß den zweiten Teil wiederholt fortspielen, so möchte es gehen. Ein ähnliches Verhältnis hat es mit dem ›Wallenstein‹; die ›Piccolomini‹ werden nicht wiederholt, aber ›Wallensteins Tod‹ wird immerfort gern gesehen.“

Ich fragte, wie ein Stück beschaffen sein müsse, um theatralisch zu sein.

”Es muß symbolisch sein“, antwortete Goethe. ”Das heißt: jede Handlung muß an sich bedeutend sein und auf eine noch wichtigere hinzielen. Der ›Tartüffe‹ von Molière ist in dieser Hinsicht ein großes Muster. Denken Sie nur an die erste Szene, was das für eine Exposition ist! Alles ist sogleich vom Anfange herein höchst bedeutend und läßt auf etwas noch Wichtigeres schließen, was kommen wird. Die Exposition von Lessings ›Minna von Barnhelm‹ ist auch vortrefflich, allein diese des ›Tartüffe‹ ist nur einmal in der Welt da; sie ist das Größte und Beste, was in dieser Art vorhanden.“

Wir kamen auf die Calderonschen Stücke.

”Bei Calderon“, sagte Goethe, ”finden Sie dieselbe theatralische Vollkommenheit. Seine Stücke sind durchaus bretterrecht, es ist in ihnen kein Zug, der nicht für die beabsichtigte Wirkung kalkuliert wäre. Calderon ist dasjenige Genie, was zugleich den größten Verstand hatte.“

”Es ist wunderlich,“ sagte ich, ”daß die Shakespearischen Stücke keine eigentlichen Theaterstücke sind, da Shakespeare sie doch alle für sein Theater geschrieben hat.“

”Shakespeare“, erwiderte Goethe, ”schrieb diese Stücke aus seiner Natur heraus, und dann machte seine Zeit und die Einrichtung der damaligen Bühne an ihn keine Anforderungen; man ließ sich gefallen, wie Shakespeare es brachte. Hätte aber Shakespeare für den Hof zu Madrid oder für das Theater Ludwigs des Vierzehnten geschrieben, er hätte sich auch wahrscheinlich einer strengeren Theaterform gefügt. Doch dies ist keineswegs zu beklagen; denn was Shakespeare als Theaterdichter für uns verloren hat, das hat er als Dichter im allgemeinen gewonnen. Shakespeare ist ein großer Psychologe, und man lernt aus seinen Stücken, wie den Menschen zumute ist.“

Wir sprachen über die Schwierigkeit einer guten Theaterleitung.

”Das Schwere dabei ist,“ sagte Goethe, ”daß man das Zufällige zu übertragen wisse und sich dadurch von seinen höheren Maximen nicht ableiten lasse. Diese höheren Maximen sind: ein gutes Repertoire trefflicher Tragödien, Opern und Lustspiele, worauf man halten und die man als das Feststehende ansehen muß. Zu dem Zufälligen aber rechne ich: ein neues Stück, das man sehen will, eine Gastrolle und dergleichen mehr. Von diesen Dingen muß man sich nicht irreleiten lassen, sondern immer wieder zu seinem Repertoire zurückkehren. Unsere Zeit ist nun an wahrhaft guten Stücken so reich, daß einem Kenner nichts Leichteres ist, als ein gutes Repertoire zu bilden. Allein es ist nichts schwieriger, als es zu halten.

Als ich mit Schillern dem Theater vorstand, hatten wir den Vorteil, daß wir den Sommer über in Lauchstädt spielten. Hier hatten wir ein auserlesenes Publikum, das nichts als vortreffliche Sachen wollte, und so kamen wir denn jedesmal eingeübt in den besten Stücken nach Weimar zurück und konnten hier den Winter über alle Sommervorstellungen wiederholen. Dazu hatte das weimarische Publikum auf unsere Leitung Vertrauen und war immer, auch bei Dingen, denen es nichts abgewinnen konnte, überzeugt, daß unserm Tun und Lassen eine höhere Absicht zum Grunde liege.

In den neunziger Jahren“, fuhr Goethe fort, ”war die eigentliche Zeit meines Theaterinteresses schon vorüber, und ich schrieb nichts mehr für die Bühne, ich wollte mich ganz zum Epischen wenden. Schiller erweckte das schon erloschene Interesse, und ihm und seinen Sachen zuliebe nahm ich am Theater wieder Anteil. In der Zeit meines ›Clavigo‹ wäre es mir ein leichtes gewesen, ein Dutzend Theaterstücke zu schreiben; an Gegenständen fehlte es nicht, und die Produktion ward mir leicht; ich hätte immer in acht Tagen ein Stück machen können, und es ärgert mich noch, daß ich es nicht getan habe.“

Mittwoch, den 8. November 1826

Goethe sprach heute abermals mit Bewunderung über Lord Byron. ”Ich habe“, sagte er, ”seinen ›Deformed Transformed‹ wieder gelesen und muß sagen, daß sein Talent mir immer größer vorkommt. Sein Teufel ist aus meinem Mephistopheles hervorgegangen, aber es ist keine Nachahmung, es ist alles durchaus originell und neu, und alles knapp, tüchtig und geistreich. Es ist keine Stelle darin, die schwach wäre, nicht so viel Platz, um den Knopf einer Nadel hinzusetzen, wo man nicht auf Erfindung und Geist träfe. Ihm ist nichts im Wege als das Hypochondrische und Negative, und er wäre so groß wie Shakespeare und die Alten.“ Ich wunderte mich. ”Ja“, sagte Goethe, ”Sie können es mir glauben, ich habe ihn von neuem studiert und muß ihm dies immer mehr zugestehen.“

In einem früheren Gespräche äußerte Goethe: Lord Byron habe zu viel Empirie. Ich verstand nicht recht, was er damit sagen wollte, doch enthielt ich mich ihn zu fragen und dachte der Sache im stillen nach. Es war aber durch Nachdenken nichts zu gewinnen, und ich mußte warten, bis meine vorschreitende Kultur oder ein glücklicher Umstand mir das Geheimnis aufschließen möchte. Ein solcher führte sich dadurch herbei, daß abends im Theater eine treffliche Vorstellung des ›Macbeth‹ auf mich wirkte und ich tags darauf die Werke des Lord Byron in die Hände nahm, um seinen ›Beppo‹ zu lesen. Nun wollte dieses Gedicht auf den ›Macbeth‹ mir nicht munden, und je weiter ich las, je mehr ging es mir auf, was Goethe bei jener Äußerung sich mochte gedacht haben.

Im ›Macbeth‹ hatte ein Geist auf mich gewirkt, der, groß, gewaltig und erhaben wie er war, von niemanden hatte ausgehen können als von Shakespeare selbst. Es war das Angeborene einer höher und tiefer begabten Natur, welche eben das Individuum, das sie besaß, vor allen auszeichnete und dadurch zum großen Dichter machte. Dasjenige, was zu diesem Stück die Welt und Erfahrung gegeben, war dem poetischen Geiste untergeordnet und diente nur, um diesen reden und verwalten zu lassen. Der große Dichter herrschte und hob uns an seine Seite hinauf zu der Höhe seiner Ansicht.

Beim Lesen des ›Beppo‹ dagegen empfand ich das Vorherrschen einer verruchten empirischen Welt, der sich der Geist, der sie uns vor die Sinne führt, gewissermaßen assoziiert hatte. Nicht mehr der angebotene größere und reinere Sinn eines hochbegabten Dichters begegnete mir, sondern des Dichters Denkungsweise schien durch ein häufiges Leben mit der Welt von gleichem Schlage geworden zu sein. Er erschien in gleichem Niveau mit allen vornehmen geistreichen Weltleuten, vor denen er sich durch nichts auszeichnete als durch sein großes Talent der Darstellung, so daß er denn auch als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.

Und so empfand ich denn beim Lesen des ›Beppo‹: Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht, weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen führte, sondern weil seine höhere poetische Natur zu schweigen, ja von einer empirischen Denkungsweise ausgetrieben zu sein schien.

Mittwoch, den 29. November 1826

Lord Byrons ›Deformed Transformed‹ hatte ich nun auch gelesen und sprach mit Goethe darüber nach Tisch.

”Nicht wahr,“ sagte er, ”die ersten Szenen sind groß und zwar poetisch groß. Das übrige, wo es auseinander und zur Belagerung Roms geht, will ich nicht als poetisch rühmen, allein man muß gestehen, daß es geistreich ist.“

”Im höchsten Grade,“ sagte ich; ”aber es ist keine Kunst geistreich zu sein, wenn man vor nichts Respekt hat.“

Goethe lachte. ”Sie haben nicht ganz unrecht,“ sagte er ”man muß freilich zugeben, daß der Poet mehr sagt, als man möchte; er sagt die Wahrheit, allein es wird einem nicht wohl dabei, und man sähe lieber, daß er den Mund hielt. Es gibt Dinge in der Welt, die der Dichter besser überhüllet als aufdeckt; doch dies ist eben Byrons Charakter, und man würde ihn vernichten, wenn man ihn anders wollte.“

”Ja,“ sagte ich, ”im höchsten Grade geistreich ist er. Wie trefflich ist z. B. diese Stelle:

The Devil speaks truth much oftener than he's deemed,
He hath an ignorant audience.“

”Das ist freilich ebenso groß und frei, als mein Mephistopheles irgend etwas gesagt hat.

Da wir vom Mephistopheles reden,“ fuhr Goethe fort, ”so will ich Ihnen doch etwas zeigen, was Coudray von Paris mitgebracht hat. Was sagen Sie dazu?“

Er legte mir einen Steindruck vor, die Szene darstellend, wo Faust und Mephistopheles, um Gretchen aus dem Kerker zu befreien, in der Nacht auf zwei Pferden an einem Hochgerichte vorbeisausen. Faust reitet ein schwarzes, das im gestrecktesten Galopp ausgreift und sich sowie sein Reiter vor den Gespenstern unter dem Galgen zu fürchten scheint. Sie reiten so schnell, daß Faust Mühe hat sich zu halten; die stark entgegenwirkende Luft hat seine Mütze entführt, die, von dem Sturmriemen am Halse gehalten, weit hinter ihm herfliegt. Er hat sein furchtsam fragendes Gesicht dem Mephistopheles zugewendet und lauscht auf dessen Worte. Dieser sitzt ruhig, unangefochten, wie ein höheres Wesen. Er reitet kein lebendiges Pferd, denn er liebt nicht das Lebendige. Auch hat er es nicht vonnöten, denn schon sein Wollen bewegt ihn in der gewünschtesten Schnelle. Er hat bloß ein Pferd, weil er einmal reitend gedacht werden muß und da genügte es ihm, ein bloß noch in der Haut zusammenhängendes Gerippe vom ersten besten Anger aufzuraffen. Es ist heller Farbe und scheint in der Dunkelheit der Nacht zu phosphoreszieren. Es ist weder gezügelt noch gesattelt, es geht ohne das. Der überirdische Reiter sitzt leicht und nachlässig, im Gespräch zu Faust gewendet; das entgegenwirkende Element der Luft ist für ihn nicht da, er wie sein Pferd empfinden nichts, es wird ihnen kein Haar bewegt.

Wir hatten an dieser geistreichen Komposition große Freude. ”Da muß man doch gestehen,“ sagte Goethe, ”daß man es sich selbst nicht so vollkommen gedacht hat. Hier haben Sie ein anderes Blatt, was sagen Sie zu diesem!“

Die wilde Trinkszene in Auerbachs Keller sah ich dargestellt, und zwar, als Quintessenz des Ganzen, den bedeutendsten Moment, wo der verschüttete Wein als Flamme auflodert und die Bestialität der Trinkenden sich auf die verschiedenste Weise kundgibt. Alles ist Leidenschaft und Bewegung, und nur Mephistopheles bleibt in der gewohnten heiteren Ruhe. Das wilde Fluchen und Schreien und das gezuckte Messer des ihm zunächst Stehenden sind ihm nichts. Er hat sich auf eine Tischecke gesetzt und baumelt mit den Beinen; sein aufgehobener Finger ist genug, um Flamme und Leidenschaft zu dämpfen.

Je mehr man dieses treffliche Bild betrachtete, desto mehr fand man den großen Verstand des Künstlers, der keine Figur der andern gleich machte und in jeder eine andere Stufe der Handlung darstellte.

”Herr Delacroix“, sagte Goethe, ”ist ein großes Talent, das gerade am ›Faust‹ die rechte Nahrung gefunden hat. Die Franzosen tadeln an ihm seine Wildheit, allein hier kommt sie ihm recht zustatten. Er wird, wie man hofft, den ganzen ›Faust‹ durchführen, und ich freue mich besonders auf die Hexenküche und die Brockenszenen. Man sieht ihm an, daß er das Leben recht durchgemacht hat, wozu ihm denn eine Stadt wie Paris die beste Gelegenheit geboten.“

Ich machte bemerklich, daß solche Bilder zum besseren Verstehen des Gedichts sehr viel beitrügen. ”Das ist keine Frage,“ sagte Goethe; ”denn die vollkommene Einbildungskraft eines solchen Künstlers zwingt uns, die Situationen so gut zu denken, wie er sie selber gedacht hat. Und wenn ich nun gestehen muß, daß Herr Delacroix meine eigene Vorstellung bei Szenen übertroffen hat, die ich selber gemacht habe, um wie viel mehr werden nicht die Leser alles lebendig und über ihre Imagination hinausgehend finden!“

Montag, den 11. [?] Dezember 1826

Ich fand Goethe in einer sehr heiter aufgeregten Stimmung. ”Alexander von Humboldt ist diesen Morgen einige Stunden bei mir gewesen“, sagte er mir sehr belebt entgegen. ”Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt. Er wird einige Tage hierbleiben, und ich fühle schon, es wird mir sein, als hätte ich Jahre verlebt.“

Mittwoch, den 13. Dezember 1826

Über Tisch lobten die Frauen ein Porträt eines jungen Malers. ”Und was bewundernswürdig ist,“ fügten sie hinzu, ”er hat alles von selbst gelernt.“ Dieses merkte man denn auch besonders an den Händen, die nicht richtig und kunstmäßig gezeichnet waren.

”Man sieht,“ sagte Goethe, ”der junge Mann hat Talent; allein daß er alles von selbst gelernt hat, deswegen soll man ihn nicht loben, sondern schelten. Ein Talent wird nicht geboren, um sich selbst überlassen zu bleiben, sondern sich zur Kunst und guten Meistern zu wenden, die denn etwas aus ihm machen. Ich habe dieser Tage einen Brief von Mozart gelesen, wo er einem Baron, der ihm Kompositionen zugesendet hatte, etwa folgendes schreibt: ›Euch Dilettanten muß man schelten, denn es finden bei euch gewöhnlich zwei Dinge statt: entweder ihr habt keine eigene Gedanken, und da nehmet ihr fremde; oder wenn ihr eigene Gedanken habt, so wißt ihr nicht damit umzugehen.‹ Ist das nicht himmlisch? Und gilt dieses große Wort, was Mozart von der Musik sagt, nicht von allen übrigen Künsten?“

Goethe fuhr fort: ”Lenardo da Vinci sagt: ›Wenn in euerm Sohn nicht der Sinn steckt, dasjenige, was er zeichnet, durch kräftige Schattierung so herauszuheben, daß man es mit Händen greifen möchte, so hat er kein Talent.‹

Und ferner sagt Lenardo da Vinci: ›Wenn euer Sohn Perspektive und Anatomie völlig innehat, so tut ihn zu einem guten Meister.‹

Und jetzt“, sagte Goethe, ”verstehen unsere jungen Künstler beides kaum, wenn sie ihre Meister verlassen. So sehr haben sich die Zeiten geändert.

Unsern jungen Malern“, fuhr Goethe fort, ”fehlt es an Gemüt und Geist; ihre Erfindungen sagen nichts und wirken nichts; sie malen Schwerter, die nicht hauen, und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt sich mir oft auf, als wäre aller Geist aus der Welt verschwunden.“

”Und doch“, versetzte ich, ”sollte man glauben, daß die großen kriegerischen Ereignisse der letzten Jahre den Geist aufgeregt hätten.“

”Mehr Wollen“, sagte Goethe, ”haben sie aufgeregt als Geist, und mehr politischen Geist als künstlerischen, und alle Naivetät und Sinnlichkeit ist dagegen gänzlich verloren gegangen. Wie will aber ein Maler ohne diese beiden großen Erfordernisse etwas machen, woran man Freude haben könnte.“

Ich sagte, daß ich dieser Tage in seiner ›Italienischen Reise‹ von einem Bilde Correggios gelesen, welches eine Entwöhnung darstellt, wo das Kind Christus auf dem Schoße der Maria zwischen der Mutterbrust und einer hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß, welches von beiden es wählen soll.

”Ja“, sagte Goethe, ”das ist ein Bildchen! Da ist Geist, Naivetät, Sinnlichkeit, alles beieinander. Und der heilige Gegenstand ist allgemein menschlich geworden und gilt als Symbol für eine Lebensstufe, die wir alle durchmachen. Ein solches Bild ist ewig, weil es in die frühesten Zeiten der Menschheit zurück- und in die künftigsten vorwärtsgreift. Wollte man dagegen den Christus malen, wie er die Kindlein zu sich kommen läßt, so wäre das ein Bild, welches gar nichts zu sagen hätte, wenigstens nichts von Bedeutung.

Ich habe nun“, fuhr Goethe fort, ”der deutschen Malerei über funfzig Jahre zugesehen, ja nicht bloß zugesehen, sondern auch von meiner Seite einzuwirken gesucht, und kann jetzt so viel sagen, daß, so wie alles jetzt steht, wenig zu erwarten ist. Es muß ein großes Talent kommen, welches sich alles Gute der Zeit sogleich aneignet und dadurch alles übertrifft. Die Mittel sind alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben wir doch jetzt sogar auch die Phidiasse vor Augen, woran in unserer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt jetzt, wie gesagt, weiter nichts als ein großes Talent, und dieses, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht schon in der Wiege, und Sie können seinen Glanz noch erleben.“

Mittwoch, den 20. Dezember 1826

Ich erzählte Goethen nach Tisch, daß ich eine Entdeckung gemacht, die mir viele Freude gewähre. Ich hätte nämlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt, daß der durchsichtige untere Teil der Flamme dasselbe Phänomen zeige, als wodurch der blaue Himmel entstehe, indem nämlich die Finsternis durch ein erleuchtetes Trübe gesehen werde.

Ich fragte Goethe, ob er dieses Phänomen der Kerze kenne und in seiner ›Farbenlehre‹ aufgenommen habe. ”Ohne Zweifel“, sagte er. Er nahm einen Band der ›Farbenlehre‹ herunter und las mir die Paragraphen, wo ich denn alles beschrieben fand, wie ich es gesehen. ”Es ist mir sehr lieb,“ sagte er, ”daß Ihnen dieses Phänomen aufgegangen ist, ohne es aus meiner ›Farbenlehre‹ zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und können sagen, daß Sie es besitzen. Auch haben Sie dadurch einen Standpunkt gefaßt, von welchem aus Sie zu den übrigen Phänomenen weitergehen werden. Ich will Ihnen jetzt sogleich ein neues zeigen.“

Es mochte etwa vier Uhr sein; es war ein bedeckter Himmel und im ersten Anfangen der Dämmerung. Goethe zündete ein Licht an und ging damit in die Nähe des Fensters zu einem Tische. Er setzte das Licht auf einen weißen Bogen Papier und stellte ein Stäbchen darauf, so daß der Schein des Kerzenlichtes vom Stäbchen aus einen Schatten warf nach dem Lichte des Tages zu. ”Nun,“ sagte Goethe, ”was sagen Sie zu diesem Schatten?“ – ”Der Schatten ist blau“, antwortete ich. – ”Da hätten Sie also das Blaue wieder,“ sagte Goethe; ”aber auf dieser andern Seite des Stäbchens nach der Kerze zu, was sehen Sie da – ”Auch einen Schatten.“ – ”Aber von welcher Farbe?“ ”Der Schatten ist ein rötliches Gelb,“ antwortete ich; ”doch wie entsteht dieses doppelte Phänomen?“ – ”Das ist nun Ihre Sache,“ sagte Goethe; ”sehen Sie zu, daß Sie es herausbringen. Zu finden ist es, aber es ist schwer. Sehen Sie nicht früher in meiner ›Farbenlehre‹ nach, als bis Sie die Hoffnung aufgegeben haben, es selber herauszubringen.“ Ich versprach dieses mit vieler Freude.

”Das Phänomen am unteren Teile der Kerze,“ fuhr Goethe fort, ”wo ein durchsichtiges Helle vor die Finsternis tritt und die blaue Farbe hervorbringt, will ich Ihnen jetzt in vergrößertem Maße zeigen.“ Er nahm einen Löffel, goß Spiritus hinein und zündete ihn an. Da entstand denn wieder ein durchsichtiges Helle, wodurch die Finsternis blau erschien. Wendete ich den brennenden Spiritus vor die Dunkelheit der Nacht, so nahm die Bläue an Kräftigkeit zu hielt ich ihn gegen die Helle, so schwächte sie sich oder verschwand gänzlich.

Ich hatte meine Freude an dem Phänomen. ”Ja,“ sagte Goethe, ”das ist eben das Große bei der Natur, daß sie so einfach ist und daß sie ihre größten Erscheinungen immer im Kleinen wiederholt. Dasselbe Gesetz, wodurch der Himmel blau ist, sieht man ebenfalls an dem untern Teil einer brennenden Kerze, am brennenden Spiritus sowie an dem erleuchteten Rauch, der von einem Dorfe aufsteigt, hinter welchem ein dunkles Gebirge liegt.“

”Aber wie erklären die Schüler von Newton dieses höchst einfache Phänomen?“ fragte ich.

”Das müssen Sie gar nicht wissen“, antwortete Goethe. ”Es ist gar zu dumm, und man glaubt nicht, welchen Schaden es einem guten Kopfe tut, wenn er sich mit etwas Dummen befaßt. Bekümmern Sie sich gar nicht um die Newtonianer, lassen Sie sich die reine Lehre genügen, und Sie werden sich gut dabei stehen.“

”Die Beschäftigung mit dem Verkehrten“, sagte ich, ”ist vielleicht in diesem Fall ebenso unangenehm und schädlich, als wenn man ein schlechtes Trauerspiel in sich aufnehmen sollte, um es nach allen seinen Teilen zu beleuchten und in seiner Blöße darzustellen.“

”Es ist ganz dasselbe,“ sagte Goethe, ”und man soll sich ohne Not nicht damit befassen. Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist; allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen mißbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereich liegen und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob alles nur dann existierte, wenn es sich mathematisch beweisen läßt. Es wäre doch töricht, wenn jemand nicht an die Liebe seines Mädchens glauben wollte, weil sie ihm solche nicht mathematisch beweisen kann! Ihre Mitgift kann sie ihm mathematisch beweisen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch die Mathematiker nicht die Metamorphose der Pflanze erfunden! Ich habe dieses ohne die Mathematik vollbracht, und die Mathematiker haben es müssen gelten lassen. Um die Phänomene der Farbenlehre zu begreifen, gehört weiter nichts als ein reines Anschauen und ein gesunder Kopf; allein beides ist freilich seltener, als man glauben sollte.“

”Wie stehen denn die jetzigen Franzosen und Engländer zur Farbenlehre?“ fragte ich.

”Beide Nationen“, antwortete Goethe, ”haben ihre Avantagen und ihre Nachteile. Bei den Engländern ist es gut, daß sie alles praktisch machen; aber sie sind Pedanten. Die Franzosen sind gute Köpfe; aber es soll bei ihnen alles positiv sein, und wenn es nicht so ist, so machen sie es so. Doch sie sind in der Farbenlehre auf gutem Wege, und einer ihrer Besten kommt nahe heran. Er sagt: die Farbe sei den Dingen angeschaffen; denn wie es in der Natur ein Säurendes gebe, so gebe es auch ein Färbendes. Damit sind nun freilich die Phänomene nicht erklärt; allein er spielt doch den Gegenstand in die Natur hinein und befreit ihn von der Einschränkung der Mathematik.“

Die Berliner Zeitungen wurden gebracht, und Goethe setzte sich, sie zu lesen. Er reichte auch mir ein Blatt, und ich fand in den Theaternachrichten, daß man dort im Opernhause und Königlichen Theater ebenso schlechte Stücke gebe als hier.

”Wie soll dies auch anders sein“, sagte Goethe. ”Es ist freilich keine Frage, daß man nicht mit Hülfe der guten englischen, französischen und spanischen Stücke ein so gutes Repertoire zusammenbringen sollte, um jeden Abend ein gutes Stück geben zu können. Allein wo ist das Bedürfnis in der Nation, immer ein gutes Stück zu sehen? Die Zeit, in welcher Äschylus, Sophokles und Euripides schrieben, war freilich eine ganz andere: sie hatte den Geist hinter sich und wollte nur immer das wirklich Größte und Beste. Aber in unserer schlechten Zeit, wo ist denn da das Bedürfnis für das Beste? Wo sind die Organe, es aufzunehmen?

Und dann,“ fuhr Goethe fort, ”man will etwas Neues! In Berlin wie in Paris, das Publikum ist überall dasselbe. Eine Unzahl neuer Stücke wird jede Woche in Paris geschrieben und auf die Theater gebracht, und man muß immer fünf bis sechs durchaus schlechte aushalten, ehe man durch ein gutes entschädigt wird.

Das einzige Mittel, um jetzt ein deutsches Theater oben zu halten, sind Gastrollen. Hätte ich jetzt noch die Leitung, so sollte der ganze Winter mit trefflichen Gastspielern besetzt sein. Dadurch würden nicht allein alle gute Stücke immer wieder zum Vorschein kommen, sondern das Interesse würde auch mehr von den Stücken ab auf das Spiel gelenkt; man könnte vergleichen und urteilen, das Publikum gewönne an Einsichten, und unsere eigenen Schauspieler würden durch das bedeutende Spiel eines ausgezeichneten Gastes immer in Anregung und Nacheiferung erhalten. Wie gesagt: Gastrollen und immer Gastrollen, und ihr solltet über den Nutzen erstaunen, der daraus für Theater und Publikum hervorgehen würde.

Ich sehe die Zeit kommen, wo ein gescheiter, der Sache gewachsener Kopf vier Theater zugleich übernehmen und sie hin und her mit Gastrollen versehen wird, und ich bin gewiß, daß er sich besser bei diesen vieren stehen wird, als wenn er nur ein einziges hätte.“

Mittwoch, den 27. Dezember 1826

Dem Phänomen des blauen und gelben Schattens hatte ich nun zu Hause fleißig nachgedacht, und wiewohl es mir lange ein Rätsel blieb, so ging mir doch bei fortgesetztem Beobachten ein Licht auf, und ich ward nach und nach überzeugt, das Phänomen begriffen zu haben.

Heute bei Tisch sagte ich Goethen, daß ich das Rätsel gelöst. ”Es wäre viel,“ sagte Goethe; ”nach Tisch sollen Sie es mir machen.“ – ”Ich will es lieber schreiben,“ sagte ich, ”denn zu einer mündlichen Auseinandersetzung fehlen mir leicht die richtigen Worte.“ – ”Sie mögen es später schreiben,“ sagte Goethe, ”aber heute sollen Sie es mir erst vor meinen Augen machen und mir mündlich demonstrieren, damit ich sehe, ob Sie im rechten sind.“

Nach Tisch, wo es völlig helle war, fragte Goethe: ”Können Sie jetzt das Experiment machen?“ – ”Nein“, sagte ich. – ”Warum nicht?“ fragte Goethe. – ”Es ist noch zu helle,“ antwortete ich; ”es muß erst ein wenig Dämmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen entschiedenen Schatten werfe; doch muß es noch helle genug sein, damit das Tageslicht diesen erleuchten könne.“ – ”Hm!“ sagte Goethe, ”das ist nicht unrecht.“

Der Anfang der Abenddämmerung trat endlich ein, und ich sagte Goethen, daß es jetzt Zeit sei. Er zündete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes Papier und ein Stäbchen. ”Nun experimentieren und dozieren Sie!“ sagte er.

Ich stellte das Licht auf den Tisch in die Nähe des Fensters, legte das Papier in die Nähe des Lichtes, und als ich das Stäbchen auf die Mitte des Papiers zwischen Tages- und Kerzenlicht setzte, war das Phänomen in vollkommener Schönheit da. Der Schatten nach dem Lichte zu zeigte sich entschieden gelb, der andere nach dem Fenster zu vollkommen blau.

”Nun,“ sagte Goethe, ”wie entsteht zunächst der blaue Schatten?“ – ”Ehe ich dieses erkläre,“ sagte ich, ”will ich das Grundgesetz aussprechen, aus dem ich beide Erscheinungen ableite.

Licht und Finsternis“, sagte ich, ”sind keine Farben, sondern sie sind zwei Extreme, in deren Mitte die Farben liegen und entstehen, und zwar durch eine Modifikation von beiden.

Den Extremen Licht und Finsternis zunächst entstehen die beiden Farben gelb und blau: die gelbe an der Grenze des Lichtes, indem ich dieses durch ein getrübtes, die blaue an der Grenze der Finsternis, indem ich diese durch ein erleuchtetes Durchsichtige betrachte.

Kommen wir nun“, fuhr ich fort, ”zu unserem Phänomen, so sehen wir, daß das Stäbchen vermöge der Gewalt des Kerzenlichtes einen entschiedenen Schatten wirft. Dieser Schatten würde als schwarze Finsternis erscheinen, wenn ich die Läden schlösse und das Tageslicht absperrte. Nun aber dringt durch die offenen Fenster das Tageslicht frei herein und bildet ein erhelltes Medium, durch welches ich die Finsternis des Schattens sehe, und so entsteht denn, dem Gesetze gemäß, die blaue Farbe.“ Goethe lachte. ”Das wäre der blaue“sagte er, ”wie aber erklären Sie den gelben Schatten?“

”Aus dem Gesetz des getrübten Lichtes“, antwortete ich. ”Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier ein Licht, das schon einen leisen Hauch vom gelblichen hat. Der einwirkende Tag aber hat so viele Gewalt, um vom Stäbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen schwachen Schatten zu werfen, der, so weit er reicht, das Licht trübt, und so entsteht, dem Gesetze gemäß, die gelbe Farbe. Schwäche ich die Trübe, indem ich den Schatten dem Lichte möglichst nahe bringe, so zeigt sich ein reines Hellgelb; verstärke ich aber die Trübe, indem ich den Schatten möglichst vom Licht entferne, so verdunkelt sich das Gelbe bis zum Rötlichen, ja Roten.“

Goethe lachte wieder, und zwar sehr geheimnisvoll. ”Nun,“ sagte ich, ”habe ich recht?“ – ”Sie haben das Phänomen recht gut gesehen und recht hübsch ausgesprochen,“ antwortete Goethe, ”aber Sie haben es nicht erklärt. Ihre Erklärung ist gescheit, ja sogar geistreich, aber sie ist nicht die richtige.“

”Nun so helfen Sie mir“, sagte ich, ”und lösen Sie mir das Rätsel, denn ich bin nun im höchsten Grade ungeduldig.“ – ”Sie sollen es erfahren,“ sagte Goethe, ”aber nicht heute und nicht auf diesem Wege. Ich will Ihnen nächstens ein anderes Phänomen zeigen, durch welches Ihnen das Gesetz augenscheinlich werden soll. Sie sind nahe heran, und weiter ist in dieser Richtung nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Gesetz begriffen, so sind Sie in eine ganz andere Region eingeführt und über sehr vieles hinaus. Kommen Sie einmal am Mittage bei heiterem Himmel ein Stündchen früher zu Tisch, so will ich Ihnen ein deutlicher Phänomen zeigen, durch welches Sie dasselbe Gesetz, welches diesem zum Grunde liegt, sogleich begreifen sollen.

Es ist mir sehr lieb,“ fuhr er fort, ”daß Sie für die Farbe dieses Interesse haben; es wird Ihnen eine Quelle von unbeschreiblichen Freuden werden.“

Nachdem ich Goethe am Abend verlassen, konnte ich den Gedanken an das Phänomen nicht aus dem Kopfe bringen, so daß ich sogar im Traume damit zu tun hatte. Aber auch in diesem Zustande sah ich nicht klarer und kam der Lösung des Rätsels um keinen Schritt näher.

”Mit meinen naturwissenschaftlichen Heften“, sagte Goethe vor einiger Zeit, ”gehe ich auch langsam fort. Nicht weil ich glaube, die Wissenschaft noch jetzt bedeutend fördern zu können, sondern der vielen angenehmen Verbindungen wegen, die ich dadurch unterhalte. Die Beschäftigung mit der Natur ist die unschuldigste. In ästhetischer Hinsicht ist jetzt an gar keine Verbindung und Korrespondenz zu denken. Da wollen sie wissen, welche Stadt am Rhein bei meinem ›Hermann und Dorothea‹ gemeint sei! – Als ob es nicht besser wäre, sich jede beliebige zu denken! – Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie.“

1827

Mittwoch, den 3. Januar 1827

Heute bei Tisch sprachen wir über Cannings treffliche Rede für Portugal.

”Es gibt Leute,“sagte Goethe, ”die diese Rede grob nennen; aber diese Leute wissen nicht, was sie wollen, es liegt in ihnen eine Sucht, alles Große zu frondieren. Es ist keine Opposition, sondern eine bloße Frondation. Sie müssen etwas Großes haben, das sie hassen können. Als Napoleon noch in der Welt war, haßten sie den, und sie hatten an ihm eine gute Ableitung. Sodann als es mit diesem aus war, frondierten sie die Heilige Allianz, und doch ist nie etwas Größeres und für die Menschheit Wohltätigeres erfunden worden. Jetzt kommt die Reihe an Canning. Seine Rede für Portugal ist das Produkt eines großen Bewußtseins. Er fühlt sehr gut den Umfang seiner Gewalt und die Größe seiner Stellung, und er hat recht, daß er spricht, wie er sich empfindet. Aber das können diese Sanscülotten nicht begreifen, und was uns andern groß erscheint, erscheint ihnen grob. Das Große ist ihnen unbequem, sie haben keine Ader, es zu verehren, sie können es nicht dulden.“

Donnerstag abend, den 4. Januar 1827

Goethe lobte sehr die Gedichte von Victor Hugo. ”Er ist ein entschiedenes Talent,“ sagte er, ”auf den die deutsche Literatur Einfluß gehabt. Seine poetische Jugend ist ihm leider durch die Pedanterie der klassischen Partei verkümmert; doch jetzt hat er den ›Globe‹ auf seiner Seite, und so hat er gewonnen Spiel. Ich möchte ihn mit Manzoni vergleichen. Er hat viel Objektives und erscheint mir vollkommen so bedeutend als die Herren de Lamartine und Delavigne. Wenn ich ihn recht betrachte, so sehe ich wohl, wo er und andere frische Talente seinesgleichen herkommen. Von Chateaubriand kommen sie her, der freilich ein sehr bedeutendes rhetorisch-poetisches Talent ist. Damit Sie nun aber sehen, in welcher Art Victor Hugo schreibt, so lesen Sie nur dies Gedicht über Napoleon: ›Les deux isles‹.“

Goethe legte mir das Buch vor und stellte sich an den Ofen. Ich las. ”Hat er nicht treffliche Bilder?“ sagte Goethe, ”und hat er seinen Gegenstand nicht mit sehr freiem Geiste behandelt?“ Er trat wieder zu mir. ”Sehen Sie nur diese Stelle, wie schön sie ist!“ Er las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Helden der Blitz von unten hinauf trifft. ”Das ist schön! Denn das Bild ist wahr, welches man in Gebirgen finden wird, wo man oft die Gewitter unter sich hat und wo die Blitze von unten nach oben schlagen.“

”Ich lobe an den Franzosen,“ sagte ich, ”daß ihre Poesie nie den festen Boden der Realität verläßt. Man kann die Gedichte in Prosa übersetzen und ihr Wesentliches wird bleiben.“

”Das kommt daher,“ sagte Goethe, ”die französischen Dichter haben Kenntnisse; dagegen denken die deutschen Narren, sie verlören ihr Talent, wenn sie sich um Kenntnisse bemühten, obgleich jedes Talent sich durch Kenntnisse nähren muß und nur dadurch erst zum Gebrauch seiner Kräfte gelangt. Doch wir wollen sie gehen lassen, man hilft ihnen doch nicht, und das wohnhafte Talent findet schon seinen Weg. Die vielen jungen Dichter, die jetzt ihr Wesen treiben, sind gar keine rechten Talente; sie beurkunden weiter nichts als ein Unvermögen, das durch die Höhe der deutschen Literatur zur Produktivität angereizt worden.

Daß die Franzosen“, fuhr Goethe fort, ”aus der Pedanterie zu einer freieren Art in der Poesie hervorgehen, ist nicht zu verwundern. Diderot und ihm ähnliche Geister haben schon vor der Revolution diese Bahn zu brechen gesucht. Die Revolution selbst sodann sowie die Zeit unter Napoleon sind der Sache günstig gewesen. Denn wenn auch die kriegerischen Jahre kein eigentlich poetisches Interesse aufkommen ließen und also für den Augenblick den Musen zuwider waren, so haben sich doch in dieser Zeit eine Menge freier Geister gebildet, die nun im Frieden zur Besinnung kommen und als bedeutende Talente hervortreten.“

Ich fragte Goethe, ob die Partei der Klassiker auch dem trefflichen Béranger entgegen gewesen. ”Das Genre, worin Béranger dichtet“, sagte Goethe, ”ist ein älteres, herkömmliches, woran man gewöhnt war; doch hat auch er sich in manchen Dingen freier bewegt als seine Vorgänger und ist deshalb von der pedantischen Partei angefeindet worden.“

Das Gespräch lenkte sich auf die Malerei und auf den Schaden der altertümelnden Schule. ”Sie prätendieren, kein Kenner zu sein,“ sagte Goethe, ”und doch will ich Ihnen ein Bild vorlegen, an welchem Ihnen, obgleich es von einem unserer besten jetzt lebenden deutschen Maler gemacht worden, dennoch die bedeutendsten Verstöße gegen die ersten Gesetze der Kunst sogleich in die Augen fallen sollen. Sie werden sehen, das Einzelne ist hübsch gemacht, aber es wird Ihnen bei dem Ganzen nicht wohl werden, und Sie werden nicht wissen, was Sie daraus machen sollen. Und zwar dieses nicht, weil der Meister des Bildes kein hinreichendes Talent ist, sondern weil sein Geist, der das Talent leiten soll, ebenso verfinstert ist wie die Köpfe der übrigen altertümelnden Maler, so daß er die vollkommenen Meister ignoriert und zu den unvollkommenen Vorgängern zurückgeht und diese zum Muster nimmt.

Raffael und seine Zeitgenossen waren aus einer beschränkten Manier zur Natur und Freiheit durchgebrochen. Und statt daß jetzige Künstler Gott danken und diese Avantagen benutzen und auf dem trefflichen Wege fortgehen sollten, kehren sie wieder zur Beschränktheit zurück. Es ist zu arg, und man kann diese Verfinsterung der Köpfe kaum begreifen. Und weil sie nun auf diesem Wege in der Kunst selbst keine Stütze haben, so suchen sie solche in der Religion und Partei; denn ohne beides würden sie in ihrer Schwäche gar nicht bestehen können.

Es geht“, fuhr Goethe fort, ”durch die ganze Kunst eine Filiation. Sieht man einen großen Meister, so findet man immer, daß er das Gute seiner Vorgänger benutzte und daß eben dieses ihn groß machte. Männer wie Raffael wachsen nicht aus dem Boden. Sie fußten auf der Antike und dem Besten, was vor ihnen gemacht worden. Hätten sie die Avantagen ihrer Zeit nicht benutzt, so würde wenig von ihnen zu sagen sein.“

Das Gespräch lenkte sich auf die altdeutsche Poesie; ich erinnerte an Fleming. ”Fleming“, sagte Goethe, ”ist ein recht hübsches Talent, ein wenig prosaisch, bürgerlich; er kann jetzt nichts mehr helfen. Es ist eigen,“ fuhr er fort, ”ich habe doch so mancherlei gemacht, und doch ist keins von allen meinen Gedichten, das im lutherischen Gesangbuch stehen könnte.“ Ich lachte und gab ihm recht, indem ich mir sagte, daß in dieser wunderlichen Äußerung mehr liege, als es den Anschein habe.

Sonntag abend, den 12. [14.] Januar 1827

Ich fand eine musikalische Abendunterhaltung bei Goethe, die ihm von der Familie Eberwein nebst einigen Mitgliedern des Orchesters gewährt wurde. Unter den wenigen Zuhörern waren: der Generalsuperintendent Röhr, Hofrat Vogel und einige Damen. Goethe hatte gewünscht, das Quartett eines berühmten jungen Komponisten zu hören, welches man zunächst ausführte. Der zwölfjährige Karl Eberwein spielte den Flügel zu Goethes großer Zufriedenheit, und in der Tat trefflich, so daß denn das Quartett in jeder Hinsicht gut exekutiert vorüberging.

”Es ist wunderlich“, sagte Goethe, ”wohin die aufs höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie ist es Ihnen? Mir bleibt alles in den Ohren hängen.“ Ich sagte, daß es mir in diesem Falle nicht besser gehe. ”Doch das Allegro“, fuhr Goethe fort, ”hatte Charakter. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blockbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponieren konnte.“

Nach einer Pause, während welcher man sich unterhielt und einige Erfrischungen nahm, ersuchte Goethe Madame Eberwein um den Vortrag einiger Lieder. Sie sang zunächst nach Zelters Komposition das schöne Lied ›Um Mitternacht‹, welches den tiefsten Eindruck machte. ”Das Lied bleibt schön,“ sagte Goethe, ”sooft man es auch hört. Es hat in der Melodie etwas Ewiges, Unverwüstliches.“ Hierauf folgten einige Lieder aus der ›Fischerin‹, von Max Eberwein komponiert. Der ›Erlkönig‹ erhielt entschiedenen Beifall; sodann die Arie ›Ich hab's gesagt der guten Mutter‹ erregte die allgemeine Äußerung: diese Komposition erscheine so gut getroffen, daß niemand sie sich anders denken könne. Goethe selbst war im hohen Grade befriedigt.

Zum Schluß des schönen Abends sang Madame Eberwein auf Goethes Wunsch einige Lieder des ›Divans‹ nach den bekannten Kompositionen ihres Gatten. Die Stelle: ›Jussufs Reize möcht ich borgen‹ gefiel Goethen ganz besonders. ”Eberwein“, sagte er zu mir, ”übertrifft sich mitunter selber.“ Er bat sodann noch um das Lied ›Ach, um deine feuchten Schwingen‹, welches gleichfalls die tiefsten Empfindungen anzuregen geeignet war.

Nachdem die Gesellschaft gegangen, blieb ich noch einige Augenblicke mit Goethe allein. ”Ich habe“, sagte er, ”diesen Abend die Bemerkung gemacht, daß diese Lieder des ›Divans‹ gar kein Verhältnis mehr zu mir haben. Sowohl was darin orientalisch als was darin leidenschaftlich ist, hat aufgehört in mir fortzuleben; es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben. Dagegen das Lied ›Um Mitternacht‹ hat sein Verhältnis zu mir nicht verloren, es ist von mir noch ein lebendiger Teil und lebt mit mir fort.

Es geht mir übrigens öfter mit meinen Sachen so, daß sie mir gänzlich fremd werden. Ich las dieser Tage etwas Französisches und dachte im Lesen: der Mann spricht gescheit genug, du würdest es selbst nicht anders sagen. Und als ich es genau besehe, ist es eine übersetzte Stelle aus meinen eigenen Schriften.“

Montag abend, den 15. Januar 1827

Nach Vollendung der ›Helena‹ hatte Goethe sich im vergangenen Sommer zur Fortsetzung der ›Wanderjahre‹ gewendet. Von dem Vorrücken dieser Arbeit erzählte er mir oft. ”Um den vorhandenen Stoff besser zu benutzen,“ sagte er mir eines Tags, ”habe ich den ersten Teil ganz aufgelöset und werde nun so durch Vermischung des Alten und Neuen zwei Teile bilden. Ich lasse nun das Gedruckte ganz abschreiben; die Stellen, wo ich Neues auszuführen habe, sind angemerkt, und wenn der Schreibende an ein solches Zeichen kommt, so diktiere ich weiter und bin auf diese Weise genötigt, die Arbeit nicht in Stocken geraten zu lassen.“

Eines anderen Tages sagte er mir so: ”Das Gedruckte der ›Wanderjahre‹ ist nun ganz abgeschrieben; die Stellen, die ich noch neu zu machen habe, sind mit blauem Papier ausgefüllt, so daß ich sinnlich vor Augen habe, was noch zu tun ist. Sowie ich nun vorrücke, verschwinden die blauen Stellen immer mehr, und ich habe daran meine Freude.“

Vor mehreren Wochen hörte ich nun von seinem Sekretär, daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher abends von Besuchen zurück und begnügte mich, ihn bloß alle acht Tage bei Tisch zu sehen.

Diese Novelle war nun seit einiger Zeit vollendet, und er legte mir diesen Abend die ersten Bogen zur Ansicht vor.

Ich war beglückt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo alle um den toten Tiger herumstehen und der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.

Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Lokalität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, so daß man genötiget war, sich das Dargestellte gerade so zu denken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken könnte, als man las.

”Eure Exzellenz“, sagte ich, ”müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.“

”Allerdings habe ich das,“ antwortete Goethe; ”ich wollte das Sujet schon vor dreißig Jahren ausführen, und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach ›Hermann und Dorothea‹, wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zweck ein ausführliches Schema entworfen. Als ich nun jetzt das Sujet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genötigt, ein neues zu machen, und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich jetzt dem Gegenstande zu geben willens war. Nun aber nach vollendeter Arbeit findet sich jenes ältere Schema wieder, und ich freue mich nun, daß ich es nicht früher in Händen gehabt, denn es würde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unverändert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz für eine epische Behandlung in Hexametern gedacht und würde also für diese prosaische Darstellung gar nicht anwendbar gewesen sein.“

Das Gespräch lenkte sich auf den Inhalt. ”Eine schöne Situation“, sagte ich, ”ist die, wo Honorio, der Fürstin gegenüber, am tot ausgestreckten Tiger steht, die klagende weinende Frau mit dem Knaben herzugekommen ist, und auch der Fürst mit dem Jagdgefolge zu der seltsamen Gruppe soeben herbeieilt. Das müßte ein treffliches Bild machen, und ich möchte es gemalt sehen.“

”Gewiß,“ sagte Goethe, ”das wäre ein schönes Bild; – doch“, fuhr er nach einigem Bedenken fort, ”der Gegenstand wäre fast zu reich und der Figuren zu viele, so daß die Gruppierung und Verteilung von Licht und Schatten dem Künstler sehr schwer werden würde. Allein den früheren Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fürstin am Pferde gegenüber steht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das wäre zu machen.“ Ich empfand, daß Goethe recht hatte, und fügte hinzu, daß ja dieser Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation sei, worauf alles ankomme.

Noch hatte ich an dem Gelesenen zu bemerken, daß diese Novelle von allen übrigen der ›Wanderjahre‹ einen ganz verschiedenen Charakter trage, indem darin alles Darstellung des Äußern, alles real sei. ”Sie haben recht,“ sagte Goethe, ”Innerliches finden Sie in dem Gelesenen fast gar nicht, und in meinen übrigen Sachen ist davon fast zuviel.“

”Nun bin ich neugierig, zu erfahren,“ sagte ich, ”wie man sich des Löwen bemeistern wird; daß dieses auf eine ganz andere Weise geschehen werde, ahne ich fast, doch das Wie ist mir gänzlich verborgen.“ – ”Es wäre auch nicht gut, wenn Sie es ahneten,“ sagte Goethe, ”und ich will es Ihnen heute nicht verraten. Donnerstag abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne.“

Ich brachte das Gespräch auf den zweiten Teil des ›Faust‹, insbesondere auf die ›Klassische Walpurgisnacht‹, die nur noch in der Skizze dalag, und wovon Goethe mir vor einiger Zeit gesagt hatte, daß er sie als Skizze wolle drucken lassen. Nun hatte ich mir vorgenommen, Goethen zu raten, dieses nicht zu tun, denn ich fürchtete, sie möchte, einmal gedruckt, für immer unausgeführt bleiben. Goethe mußte in der Zwischenzeit das bedacht haben, denn er kam mir sogleich entgegen, indem er sagte, daß er entschlossen sei, jene Skizze nicht drucken zu lassen. ”Das ist mir sehr lieb,“ sagte ich, ”denn nun habe ich doch die Hoffnung, daß Sie sie ausführen werden.“ – ”In einem Vierteljahre“, sagte er, ”wäre es getan, allein woher will die Ruhe kommen! Der Tag macht gar zu viele Ansprüche an mich; es hält schwer, mich so sehr abzusondern und zu isolieren. Diesen Morgen war der Erbgroßherzog bei mir, auf morgen mittag hat sich die Großherzogin melden lassen. Ich habe solche Besuche als eine hohe Gnade zu schätzen, sie verschönern mein Leben; allein sie nehmen doch mein Inneres in Anspruch, ich muß doch bedenken, was ich diesen hohen Personen immer Neues vorlegen und wie ich sie würdig unterhalten will.“

”Und doch“, sagte ich, ”haben Sie vorigen Winter die ›Helena‹ vollendet, und Sie waren doch nicht weniger gestört als jetzt.“ – ”Freilich,“ sagte Goethe, ”es geht auch, und muß auch gehen, allein es ist schwer.“ – ”Es ist nur gut,“ sagte ich, ”daß Sie ein so ausführliches Schema haben.“ – ”Das Schema ist wohl da“, sagte Goethe, ”allein das Schwierigste ist noch zu tun; und bei der Ausführung hängt doch alles gar zu sehr vom Glück ab. Die ›Klassische Walpurgisnacht‹ muß in Reimen geschrieben werden, und doch muß alles einen antiken Charakter tragen. Eine solche Versart zu finden ist nicht leicht. Und nun den Dialog!“ – ”Ist denn der nicht im Schema mit erfunden?“ sagte ich. ”Wohl das Was,“ antwortete Goethe, ”aber nicht das Wie. Und dann bedenken Sie nur, was alles in jener tollen Nacht zur Sprache kommt! Fausts Rede an die Proserpina, um diese zu bewegen, daß sie die Helena herausgibt; was muß das nicht für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Tränen davon gerührt wird! – Dieses alles ist nicht leicht zu machen und hängt sehr viel vom Glück ab, ja fast ganz von der Stimmung und Kraft des Augenblicks.“

Mittwoch, den 17. Januar 1827

In der letzten Zeit, wo Goethe sich mitunter nicht ganz wohl befand, hatten wir in seiner nach dem Garten gehenden Arbeitsstube gesessen. Heute war wieder in dem sogenannten Urbino-Zimmer gedeckt, welches ich als ein gutes Zeichen nahm. Als ich hereintrat, fand ich Goethe und seinen Sohn; beide bewillkommten mich freundlich in ihrer naiven liebevollen Art – Goethe selbst schien in der heitersten Stimmung, wie dieses an seinem höchst belebten Gesicht zu bemerken war. Durch die offene Tür des angrenzenden sogenannten Deckenzimmers sah ich, über einen großen Kupferstich gebogen, den Herrn Kanzler von Müller; er trat bald zu uns herein, und ich freute mich, ihn als angenehme Tischgesellschaft zu begrüßen. Frau von Goethe wurde noch erwartet, doch setzten wir uns vorläufig zu Tisch. Es ward mit Bewunderung von dem Kupferstich gesprochen, und Goethe erzählte mir, es sei ein Werk des berühmten Gérard in Paris, womit dieser ihm in den letzten Tagen ein Geschenk gemacht. ”Gehen Sie geschwind hin“, fügte er hinzu, ”und nehmen Sie noch ein paar Augenvoll, ehe die Suppe kommt.“

Ich tat nach seinem Wunsch und meiner Neigung; ich freute mich an dem Anblick des bewundernswürdigen Werkes, nicht weniger an der Unterschrift des Malers, wodurch er es Goethen als einen Beweis seiner Achtung zueignet. Ich konnte jedoch nicht lange betrachten, Frau von Goethe trat herein, und ich eilte nach meinem Platz zurück. ”Nicht wahr?“ sagte Goethe, ”das ist etwas Großes! Man kann es tage- und wochenlang studieren, ehe man die reichen Gedanken und Vollkommenheiten alle herausfindet. Dieses“, sagte er, ”soll Ihnen auf andere Tage vorbehalten bleiben.“

Wir waren bei Tisch sehr heiter. Der Kanzler teilte einen Brief eines bedeutenden Mannes aus Paris mit, der zur Zeit der französischen Okkupation als Gesandter hier einen schweren Posten behauptet und von jener Zeit her mit Weimar ein freundliches Verhältnis fortgesetzt hatte. Er gedachte des Großherzogs und Goethes und pries Weimar glücklich, wo das Genie mit der höchsten Gewalt ein so vertrautes Verhältnis haben könne.

Frau von Goethe brachte in die Unterhaltung große Anmut. Es war von einigen Anschaffungen die Rede, womit sie den jungen Goethe neckte und wozu dieser sich nicht verstehen wollte. ”Man muß den schönen Frauen nicht gar zu viel angewöhnen,“ sagte Goethe, ”denn sie gehen leicht ins Grenzenlose. Napoleon erhielt noch auf Elba Rechnungen von Putzmacherinnen, die er bezahlen sollte. Doch mochte er in solchen Dingen leichter zu wenig tun als zu viel. Früher in den Tuilerien wurden einst in seinem Beisein seiner Gemahlin von einem Modehändler kostbare Sachen präsentiert. Als Napoleon aber keine Miene machte, etwas zu kaufen, gab ihm der Mann zu verstehen, daß er doch wenig in dieser Hinsicht für seine Gemahlin tue. Hierauf sagte Napoleon kein Wort, aber er sah ihn mit einem solchen Blick an, daß der Mann seine Sachen sogleich zusammenpackte und sich nie wieder sehen ließ.“ – ”Tat er dieses als Konsul?“ fragte Frau von Goethe. – ”Wahrscheinlich als Kaiser,“ antwortete Goethe, ”denn sonst wäre sein Blick wohl nicht so furchtbar gewesen. Aber ich muß über den Mann lachen, dem der Blick in die Glieder fuhr und der sich wahrscheinlich schon geköpft oder erschossen sah.“

Wir waren in der heitersten Laune und sprachen über Napoleon weiter fort. ”Ich möchte“, sagte der junge Goethe, ”alle seine Taten in trefflichen Gemälden oder Kupferstichen besitzen und damit ein großes Zimmer dekorieren.“ – ”Das müßte sehr groß sein,“ erwiderte Goethe, ”und doch würden die Bilder nicht hineingehen, so groß sind seine Taten.“

Der Kanzler brachte Ludens ›Geschichte der Deutschen‹ ins Gespräch, und ich hatte zu bewundern, mit welcher Gewandtheit und Eindringlichkeit der junge Goethe dasjenige, was öffentliche Blätter an dem Buche zu tadeln gefunden, aus der Zeit, in der es geschrieben, und den nationalen Empfindungen und Rücksichten, die dabei in dem Verfasser gelebt, herzuleiten wußte. Es ergab sich, daß Napoleons Kriege erst jene des Cäsars aufgeschlossen. ”Früher“, sagte Goethe, ”war Cäsars Buch freilich nicht viel mehr als ein bloßes Exerzitium gelehrter Schulen.“

Von der altdeutschen Zeit kam das Gespräch auf die gotische. Es war von einem Bücherschranke die Rede, der einen gotischen Charakter habe; sodann kam man auf den neuesten Geschmack, ganze Zimmer in altdeutscher und gotischer Art einzurichten und in einer solchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen.

”In einem Hause,“ sagte Goethe, ”wo so viele Zimmer sind, daß man einige derselben leer stehen läßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drei-, viermal hineinkommt, mag eine solche Liebhaberei hingehen, und man mag auch ein gotisches Zimmer haben, so wie ich es ganz hübsch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein chinesisches hat. Allein sein Wohnzimmer mit so fremder und veralteter Umgebung auszustaffieren, kann ich gar nicht loben. Es ist immer eine Art von Maskerade, die auf die Länge in keiner Hinsicht wohltun kann, vielmehr auf den Menschen, der sich damit befaßt, einen nachteiligen Einfluß haben muß. Denn so etwas steht im Widerspruch mit dem lebendigen Tage, in welchen wir gesetzt sind, und wie es aus einer leeren und hohlen Gesinnungs- und Denkungsweise hervorgeht, so wird es darin bestärken. Es mag wohl einer an einem lustigen Winterabend als Türke zur Maskerade gehen, allein was würden wir von einem Menschen halten, der ein ganzes Jahr sich in einer solchen Maske zeigen wollte? Wir würden von ihm denken, daß er entweder schon verrückt sei oder daß er doch die größte Anlage habe, es sehr bald zu werden.“

Wir fanden Goethes Worte über einen so sehr ins Leben eingreifenden Gegenstand durchaus überzeugend, und da keiner der Anwesenden etwas davon als leisen Vorwurf auf sich selbst beziehen konnte, so fühlten wir ihre Wahrheit in der heitersten Stimmung.

Das Gespräch lenkte sich auf das Theater, und Goethe neckte mich, daß ich am letzten Montag abend es ihm geopfert. ”Er ist nun drei Jahre hier,“ sagte er, zu den übrigen gewendet, ”und dies ist der erste Abend, wo er mir zuliebe im Theater gefehlt hat; ich muß ihm das hoch anrechnen. Ich hatte ihn eingeladen, und er hatte versprochen zu kommen, aber doch zweifelte ich, daß er Wort halten würde, besonders als es halb sieben schlug und er noch nicht da war. Ja ich hätte mich sogar gefreut, wenn er nicht gekommen wäre; ich hätte doch sagen können: Das ist ein ganz verrückter Mensch, dem das Theater über seine liebsten Freunde geht und der sich durch nichts von seiner hartnäckigen Neigung abwenden läßt. Aber ich habe Sie auch entschädigt! Nicht wahr? Habe ich Ihnen nicht schöne Sachen vorgelegt?“ Goethe zielte mit diesen Worten auf die neue Novelle.

Wir sprachen sodann über Schillers ›Fiesco‹, der am letzten Sonnabend war gegeben worden. ”Ich habe das Stück zum ersten Male gesehen,“ sagte ich, ”und es hat mich nun sehr beschäftigt, ob man nicht die ganz rohen Szenen mildem könnte; allein ich finde, daß sich wenig daran tun läßt, ohne den Charakter des Ganzen zu verletzen.“

”Sie haben ganz recht, es geht nicht,“ erwiderte Goethe; ”Schiller hat sehr oft mit mir darüber gesprochen, denn er selbst konnte seine ersten Stücke nicht leiden, und er ließ sie, während wir am Theater waren, nie spielen. Nun fehlte es uns aber an Stücken, und wir hätten gerne jene drei gewaltsamen Erstlinge dem Repertoire gewonnen. Es wollte aber nicht gehen, es war alles zu sehr miteinander verwachsen, so daß Schiller selbst an dem Unternehmen verzweifelte und sich genötigt sah, seinen Vorsatz aufzugeben und die Stücke zu lassen, wie sie waren.“

”Es ist schade darum“, sagte ich; ”denn trotz aller Roheiten sind sie mir doch tausendmal lieber als die schwachen, weichen, forcierten und unnatürlichen Stücke einiger unserer neuesten Tragiker. Bei Schiller spricht doch immer ein grandioser Geist und Charakter.“

”Das wollte ich meinen“, sagte Goethe. ”Schiller mochte sich stellen, wie er wollte, er konnte gar nichts machen, was nicht immer bei weitem größer herauskam als das Beste dieser neueren; ja wenn Schiller sich die Nägel beschnitt, war er größer als diese Herren.“

Wir lachten und freuten uns des gewaltigen Gleichnisses.

”Aber ich habe doch Personen gekannt,“ fuhr Goethe fort, ”die sich über die ersten Stücke Schillers gar nicht zufrieden geben konnten. Eines Sommers in einem Bade ging ich durch einen eingeschlossenen sehr schmalen Weg, der zu einer Mühle führte. Es begegnete mir der Fürst Putjatin, und da in demselben Augenblick einige mit Mehlsäcken beladene Maultiere auf uns zukamen, so mußten wir ausweichen und in ein kleines Haus treten. Hier, in einem engen Stübchen, gerieten wir nach Art dieses Fürsten sogleich in tiefe Gespräche über göttliche und menschliche Dinge – wir kamen auch auf Schillers ›Räuber‹, und der Fürst äußerte sich folgendermaßen: ›Wäre ich Gott gewesen,‹ sagte er, ›im Begriff die Welt zu erschaffen, und ich hätte in dem Augenblick vorausgesehen, daß Schillers ›Räuber‹ darin würden geschrieben werden, ich hätte die Welt nicht erschaffen.‹“ Wir mußten lachen. ”Was sagen Sie dazu?“ sagte Goethe; ”das war doch eine Abneigung, die ein wenig weit ging und die man sich kaum erklären konnte.“

”Von dieser Abneigung“, versetzte ich, ”haben dagegen unsere jungen Leute, besonders unsere Studenten, gar nichts. Die trefflichsten, reifsten Stücke von Schiller und anderen können gegeben werden, und man sieht von jungen Leuten und Studierenden wenige oder gar keine im Theater; aber man gebe Schillers ›Räuber‹ oder Schillers ›Fiesco‹, und das Haus ist fast allein von Studenten gefüllt.“ – ”Das war“, versetzte Goethe, ”vor funfzig Jahren wie jetzt und wird auch wahrscheinlich nach funfzig Jahren nicht anders sein. Was ein junger Mensch geschrieben hat, wird auch wieder am besten von jungen Leuten genossen werden. Und dann denke man nicht, daß die Welt so sehr in der Kultur und gutem Geschmack vorschritte, daß selbst die Jugend schon über eine solche rohere Epoche hinaus wäre! Wenn auch die Welt im ganzen vorschreitet, die Jugend muß doch immer wieder von vorne anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen. Mich irritiert das nicht mehr, und ich habe längst einen Vers darauf gemacht, der so lautet:

Johannisfeuer sei unverwehrt,
Die Freude nie verloren!
Besen werden immer stumpf gekehrt
Und Jungens immer geboren.

Ich brauche nur zum Fenster hinauszusehen, um in straßenkehrenden Besen und herumlaufenden Kindern die Symbole der sich ewig abnutzenden und immer sich verjüngenden Welt beständig vor Augen zu haben. Kinderspiele und Jugendvergnügungen erhalten sich daher und pflanzen sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fort; denn so absurd sie auch einem reiferen Alter erscheinen mögen, Kinder bleiben doch immer Kinder und sind sich zu allen Zeiten ähnlich. Deshalb soll man auch die Johannisfeuer nicht verbieten und den lieben Kindern die Freude daran nicht verderben.“

Unter solchen und ähnlichen heiteren Unterhaltungen gingen die Stunden des Tisches schnell vorüber. Wir jüngeren Leute gingen sodann hinauf in die oberen Zimmer, während der Kanzler bei Goethe blieb.

Donnerstag abend, den 18. Januar 1827

Auf diesen Abend hatte Goethe mir den Schluß der Novelle versprochen. Ich ging halb sieben Uhr zu ihm und fand ihn in seiner traulichen Arbeitsstube allein. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, und nachdem wir die nächsten Tagesereignisse besprochen hatten, stand Goethe auf und gab mir die erwünschten letzten Bogen. ”Da lesen Sie den Schluß“, sagte er. Ich begann. Goethe ging derweile im Zimmer auf und ab und stand abwechselnd am Ofen. Ich las wie gewöhnlich leise für mich.

Die Bogen des letzten Abends hatten damit geschlossen, daß der Löwe außerhalb der Ringmauer der alten Ruine am Fuße einer hundertjährigen Buche in der Sonne liege und daß man Anstalten mache, sich seiner zu bemächtigen. Der Fürst will die Jäger nach ihm aussenden, der Fremdling aber bittet, seinen Löwen zu schonen, indem er gewiß sei, ihn durch sanftere Mittel in den eisernen Käfig zurückzuschaffen. Dieses Kind, sagt er, wird durch liebliche Lieder und den Ton seiner süßen Flöte das Werk vollbringen. Der Fürst gibt es zu, und nachdem er die nötigen Vorsichtsmaßregeln angeordnet, reitet er mit den Seinigen in die Stadt zurück. Honorio mit einer Anzahl Jäger besetzt den Hohlweg, um den Löwen, im Fall er herabkäme, durch ein anzuzündendes Feuer zurückzuscheuchen. Mutter und Kind, vom Schloßwärtel geführt, steigen die Ruine hinan, an deren anderen Seite, an der Ringmauer, der Löwe liegt.

Das gewaltige Tier in den geräumigen Schloßhof hereinzulocken, ist die Absicht. Mutter und Wärtel verbergen sich oben in dem halbverfallenen Rittersaale, das Kind allein geht durch die dunkele Maueröffnung des Hofes zum Löwen hinaus. Eine erwartungsvolle Pause tritt ein, man weiß nicht, was aus dem Kinde wird, die Töne seiner Flöte verstummen. Der Wärtel macht sich Vorwürfe, daß er nicht mitgegangen; die Mutter ist ruhig.

Endlich hört man die Töne der Flöte wieder; man hört sie näher und näher, das Kind tritt durch die Maueröffnung wieder in den Schloßhof herein, der Löwe folgsam mit schwerem Gange geht hinter ihm her. Sie ziehen einmal im Hofe herum, dann setzt sich das Kind in eine sonnige Stelle, der Löwe läßt sich friedlich bei ihm nieder und legt die eine seiner schweren Tatzen dem Kinde auf den Schoß. Ein Dorn hat sich hineingetreten, der Knabe zieht ihn heraus und nimmt sein seidenes Tüchlein vom Halse und verbindet damit die Tatze.

Mutter und Wärtel, welche der ganzen Szene von oben aus dem Rittersaale zusehen, sind aufs höchste beglückt. Der Löwe ist in Sicherheit und gezähmt, und wie das Kind, abwechselnd mit seinen Tönen der Flöte, zur Beschwichtigung des Untieres hin und wieder liebliche fromme Lieder hat hören lassen, so beschließt auch das Kind singend mit folgenden Versen die Novelle:

Und so geht mit guten Kindern
Sel'ger Engel gern zu Rat,
Böses Wollen zu verhindern,
Zu befördern schöne Tat.
So beschwören, fest zu bannen
Liebem Sohn ans zarte Knie
Ihn, des Waldes Hochtyrannen,
Frommer Sinn und Melodie.

Nicht ohne Rührung hatte ich die Handlung des Schlusses lesen können. Doch wußte ich nicht, was ich sagen sollte; ich war überrascht, aber nicht befriedigt. Es war mir, als wäre der Ausgang zu einsam, zu ideal, zu lyrisch, und als hätten wenigstens einige der übrigen Figuren wieder hervortreten und, das Ganze abschließend, dem Ende mehr Breite geben sollen.

Goethe merkte, daß ich einen Zweifel im Herzen hatte, und suchte mich ins Gleiche zu bringen. ”Hätte ich“, sagte er, ”einige der übrigen Figuren am Ende wieder hervortreten lassen, so wäre der Schluß prosaisch geworden. Und was sollten sie handeln und sagen, da alles abgetan war? Der Fürst mit den Seinigen ist in die Stadt geritten, wo seine Hülfe nötig sein wird; Honorio, sobald er hört, daß der Löwe oben in Sicherheit ist, wird mit seinen Jägern folgen; der Mann aber wird sehr bald mit dem eisernen Käfig aus der Stadt da sein und den Löwen darin zurückführen. Dieses sind alles Dinge, die man voraussieht und die deshalb nicht gesagt und ausgeführt werden müssen. Täte man es, so würde man prosaisch werden.

Aber ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nötig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.

Um für den Gang dieser Novelle ein Gleichnis zu haben,“ fuhr Goethe fort, ”so denken Sie sich aus der Wurzel hervorschießend ein grünes Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe wert gewesen.“

Bei diesen Worten atmete ich leicht auf, es fiel mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahndung von der Trefflichkeit dieser wunderbaren Komposition fing an sich in mir zu regen.

Goethe fuhr fort: ”Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung. Dies ist das Ideelle, dies die Blume. Und das grüne Blätterwerk der durchaus realen Exposition ist nur dieserwegen da und nur dieserwegen etwas wert. Denn was soll das Reale an sich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargestellt ist, ja es kann uns auch von gewissen Dingen eine deutlichere Erkenntnis geben; aber der eigentliche Gewinn für unsere höhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Herzen des Dichters hervorging.“

Wie sehr Goethe recht hatte, empfand ich lebhaft, da der Schluß seiner Novelle noch in mir fortwirkte und eine Stimmung von Frömmigkeit in mir hervorgebracht hatte, wie ich sie lange nicht in dem Grade empfunden. Wie rein und innig, dachte ich bei mir selbst, müssen doch in einem so hohen Alter noch die Gefühle des Dichters sein, daß er etwas so Schönes hat machen können! Ich enthielt mich nicht, mich darüber gegen Goethe auszusprechen, sowie überhaupt mich zu freuen, daß diese in ihrer Art einzige Produktion doch nun existiere.

”Es ist mir lieb,“ sagte Goethe, ”wenn Sie zufrieden sind, und ich freue mich nun selbst, daß ich einen Gegenstand, den ich seit dreißig Jahren in mir herumgetragen, nun endlich los bin. Schiller und Humboldt, denen ich damals mein Vorhaben mitteilte, rieten mir ab, weil sie nicht wissen konnten, was in der Sache lag, und weil nur der Dichter allein weiß, welche Reize er seinem Gegenstande zu geben fähig ist. Man sollte daher nie jemanden fragen, wenn man etwas schreiben will. Hätte Schiller mich vor seinem ›Wallenstein‹ gefragt, ob er ihn schreiben solle, ich hätte ihm sicherlich abgeraten, denn ich hätte nie denken können, daß aus solchem Gegenstande überhaupt ein so treffliches Theaterstück wäre zu machen gewesen. Schiller war gegen eine Behandlung meines Gegenstandes in Hexametern, wie ich es damals, gleich nach ›Hermann und Dorothea‹, willens war; er riet zu den achtzeiligen Stanzen. Sie sehen aber wohl, daß ich mit der Prosa jetzt am besten gefahren bin. Denn es kam sehr auf genaue Zeichnung der Lokalität an, wobei man doch in solchen Reimen wäre geniert gewesen. Und dann ließ sich auch der anfänglich ganz reale und am Schluß ganz ideelle Charakter der Novelle in Prosa am besten geben, sowie sich auch die Liederchen jetzt gar hübsch ausnehmen, welches doch so wenig in Hexametern als in den achtzeiligen Reimen möglich gewesen wäre.“

Die übrigen einzelnen Erzählungen und Novellen der ›Wanderjahre‹ kamen zur Sprache, und es ward bemerkt, daß jede sich von der andern durch einen besonderen Charakter und Ton unterscheide.

”Woher dieses entstanden”, sagte Goethe, ”will ich Ihnen erklären. Ich ging dabei zu Werke wie ein Maler, der bei gewissen Gegenständen gewisse Farben vermeidet und gewisse andere dagegen vorwalten läßt. Er wird z. B. bei einer Morgenlandschaft viel Blau auf seine Palette setzen, aber wenig Gelb. Malt er dagegen einen Abend, so wird er viel Gelb nehmen und die blaue Farbe fast ganz fehlen lassen. Auf eine ähnliche Weise verfuhr ich bei meinen verschiedenartigen schriftstellerischen Produktionen, und wenn man ihnen einen verschiedenen Charakter zugesteht, so mag es daher rühren.“

Ich dachte bei mir, daß dies eine höchst kluge Maxime sei, und freute mich, daß Goethe sie ausgesprochen.

Sodann hatte ich, vorzüglich bei dieser letzten Novelle, noch das Detail zu bewundern, womit besonders das Landschaftliche dargestellt war.

”Ich habe“, sagte Goethe, ”niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieses Naturbetrachten nicht. Was in seinem ›Tell‹ von Schweizer-Lokalität ist, habe ich ihm alles erzählt; aber er war ein so bewundernswürdiger Geist, daß er selbst nach solchen Erzählungen etwas machen konnte, das Realität hatte.“

Das Gespräch lenkte sich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:

”Schillers eigentliche Produktivität lag im Idealen, und es läßt sich sagen, daß er so wenig in der deutschen als einer andern Literatur seinesgleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das meiste; doch dieser ist ihm an Welt überlegen. Ich hätte gerne gesehen, daß Schiller den Lord Byron erlebt hätte, und da hätt es mich wundern sollen, was er zu einem so verwandten Geiste würde gesagt haben. Ob wohl Byron bei Schillers Leben schon etwas publiziert hat?“

Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewißheit sagen. Goethe nahm daher das Konversations-Lexikon und las den Artikel über Byron vor, wobei er nicht fehlen ließ, manche flüchtige Bemerkung einzuschalten. Es fand sich, daß Lord Byron vor 1807 nichts hatte drucken lassen, und daß also Schiller nichts von ihm gesehen.

”Durch Schillers alle Werke“, fuhr Goethe fort, ”geht die Idee von Freiheit, und diese Idee nahm eine andere Gestalt an, sowie Schiller in seiner Kultur weiter ging und selbst ein anderer wurde. In seiner Jugend war es die physische Freiheit, die ihm zu schaffen machte und die in seine Dichtungen überging, in seinem spätern Leben die ideelle.

Es ist mit der Freiheit ein wunderlich Ding, und jeder hat leicht genug, wenn er sich nur zu begnügen und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluß von Freiheit, die wir nicht gebrauchen können! Sehen Sie dieses Zimmer und diese angrenzende Kammer, in der Sie durch die offene Tür mein Bette sehen, beide sind nicht groß, sie sind ohnedies durch vielerlei Bedarf, Bücher, Manuskripte und Kunstsachen eingeengt, aber sie sind mir genug, ich habe den ganzen Winter darin gewohnt und meine vorderen Zimmer fast nicht betreten. Was habe ich nun von meinem geräumigen Hause gehabt und von der Freiheit, von einem Zimmer ins andere zu gehen, da ich nicht das Bedürfnis hatte, sie zu benutzen!

Hat einer nur so viel Freiheit, um gesund zu leben und sein Gewerbe zu treiben, so hat er genug, und so viel hat leicht ein jeder. Und dann sind wir alle nur frei unter gewissen Bedingungen, die wir erfüllen müssen. Der Bürger ist so frei wie der Adelige, sobald er sich in den Grenzen hält, die ihm von Gott durch seinen Stand worin er geboren, angewiesen. Der Adelige ist so frei wie der Fürst; denn wenn er bei Hofe nur das wenige Zeremoniell beobachtet, so darf er sich als seinesgleichen fühlen. Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein. Ich bin bei meinen Reisen oft auf norddeutsche Kaufleute gestoßen, welche glaubten, meinesgleichen zu sein, wenn sie sich roh zu mir an den Tisch setzten. Dadurch waren sie es nicht; allein sie wären es gewesen, wenn sie mich hätten zu schätzen und zu behandeln gewußt.

Daß nun diese physische Freiheit Schillern in seiner Jugend so viel zu schaffen machte, lag zwar teils in der Natur seines Geistes, größernteils aber schrieb es sich von dem Drucke her, den er in der Militärschule hatte leiden müssen.

Dann aber in seinem reiferen Leben, wo er der physischen Freiheit genug hatte, ging er zur ideellen über, und ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getötet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.

Der Großherzog bestimmte Schillern bei seiner Hieherkunft einen Gehalt von jährlich tausend Talern und erbot sich, ihm das Doppelte zu geben, im Fall er durch Krankheit verhindert sein sollte, zu arbeiten. Schiller lehnte dieses letzte Anerbieten ab und machte nie davon Gebrauch. ›Ich habe das Talent‹, sagte er, ›und muß mir selber helfen können.‹ Nun aber, bei seiner vergrößerten Familie in den letzten Jahren, mußte er der Existenz wegen jährlich zwei Stücke schreiben, und um dieses zu vollbringen, trieb er sich, auch an solchen Tagen und Wochen zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; sein Talent sollte ihm zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote stehen.

Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in solchen Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas Likör oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst schädlich.

Denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus dieser Quelle her. Alle solche Stellen, von denen sie sagen, daß sie nicht just sind, möchte ich pathologische Stellen nennen, indem er sie nämlich an solchen Tagen geschrieben hat, wo es ihm an Kräften fehlte, um die rechten und wahren Motive zu finden. Ich habe vor dem kategorischen Imperativ allen Respekt, ich weiß, wie viel Gutes aus ihm hervorgehen kann, allein man muß es damit nicht zu weit treiben, denn sonst führet diese Idee der ideellen Freiheit sicher zu nichts Gutem.“

Unter diesen interessanten Äußerungen und ähnlichen Gesprächen über Lord Byron und berühmte deutsche Literatoren, von denen Schiller gesagt, daß Kotzebue ihm lieber, weil er doch etwas hervorbringe, waren die Abendstunden schnell vorübergegangen, und Goethe gab mir die Novelle mit, um sie für mich zu Hause nochmals in der Stille zu betrachten.

Sonntag abend, den 21. [?] Januar 1827

Ich ging diesen Abend halb achte zu Goethe und blieb ein Stündchen bei ihm. Er zeigte mir einen Band neuer französischer Gedichte der Demoiselle Gay und sprach darüber mit großem Lobe. ”Die Franzosen“, sagte er, ”machen sich heraus, und es ist der Mühe wert, daß man sich nach ihnen umsieht. Ich bin mit Fleiß darüber her, mir von dem Stande der neuesten französischen Literatur einen Begriff zu machen und, wenn es glückt, mich auch darüber auszusprechen. Es ist mir höchst interessant, zu sehen, daß diejenigen Elemente bei ihnen erst anfangen zu wirken, die bei uns längst durchgegangen sind. Das mittlere Talent ist freilich immer in der Zeit befangen und muß sich aus denjenigen Elementen nähren, die in ihr liegen. Es ist bei ihnen bis auf die neueste Frömmigkeit alles dasselbige wie bei uns, nur daß es bei ihnen ein wenig galanter und geistreicher zum Vorschein kommt.“

”Was sagen aber Eure Exzellenz zu Béranger und dem Verfasser der Stücke der Clara Gazul?“

”Diese nehme ich aus,“ sagte Goethe, ”das sind große Talente, die ein Fundament in sich selber haben und sich von der Gesinnungsweise des Tages frei erhalten.“ – ”Dieses zu hören, ist mir sehr lieb,“ sagte ich, ”denn ich hatte über diese beiden ungefähr dieselbige Empfindung.“

Das Gespräch wendete sich von der französischen Literatur auf die deutsche. ”Da will ich Ihnen doch etwas zeigen,“ sagte Goethe, ”das für Sie Interesse haben wird. Reichen Sie mir doch einen der beiden Bände, die vor Ihnen liegen. Solger ist Ihnen bekannt?“ – ”Allerdings,“ sagte ich; ”ich habe ihn sogar lieb. Ich besitze seine Übersetzung des Sophokles, und sowohl diese als die Vorrede dazu gaben mir längst von ihm eine hohe Meinung.“ – ”Sie wissen, er ist vor mehreren Jahren gestorben,“ sagte Goethe, ”und man hat jetzt eine Sammlung seiner nachgelassenen Schriften und Briefe herausgegeben. In seinen philosophischen Untersuchungen, die er in der Form der Platonischen Dialoge gibt, ist er nicht so glücklich; aber seine Briefe sind vortrefflich. In einem derselben schreibt er an Tieck über die ›Wahlverwandtschaften‹, und diesen muß ich Ihnen vorlesen, denn es ist nicht leicht etwas Besseres über jenen Roman gesagt worden.“

Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor, und wir besprachen sie punktweise, indem wir die von einem großen Charakter zeugenden Ansichten und die Konsequenz seiner Ableitungen und Folgerungen bewunderten. Obgleich Solger zugestand, daß das Faktum in den ›Wahlverwandtschaften‹ aus der Natur aller Charaktere hervorgehe, so tadelte er doch den Charakter des Eduard.

”Ich kann ihm nicht verdenken,“ sagte Goethe, ”daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn selber nicht leiden, aber ich mußte ihn so machen, um das Faktum hervorzubringen. Er hat übrigens viele Wahrheit, denn man findet in den höheren Ständen Leute genug, bei denen ganz wie bei ihm der Eigensinn an die Stelle des Charakters tritt.“

Hoch vor allen stellte Solger den Architekten, denn wenn alle übrigen Personen des Romans sich liebend und schwach zeigten, so sei er der einzige, der sich stark und frei erhalte. Und eben das Schöne an seiner Natur sei nicht sowohl dieses, daß er in die Verirrungen der übrigen Charaktere nicht hineingerate, sondern daß der Dichter ihn so groß gemacht, daß er nicht hineingeraten könne.

Wir freuten uns über dieses Wort. ”Das ist freilich sehr schön“, sagte Goethe. – ”Ich habe“, sagte ich, ”den Charakter des Architekten auch immer sehr bedeutend und liebenswürdig gefunden, allein daß er eben deswegen so vortrefflich sei, daß er vermöge seiner Natur in jene Verwickelungen der Liebe nicht hineingeraten könne, daran habe ich freilich nicht gedacht.“ – ”Wundern Sie sich darüber nicht,“ sagte Goethe, ”denn ich habe selber nicht daran gedacht, als ich ihn machte. Aber Solger hat recht, es liegt allerdings in ihm.

Dieser Aufsatz“, fuhr Goethe fort, ”ist schon im Jahre 1809 geschrieben, und es hätte mich damals freuen können, ein so gutes Wort über die ›Wahlverwandtschaften‹ zu hören, während man in jener Zeit und später mir eben nicht viel Angenehmes über jenen Roman erzeigte.

Solger hat, wie ich aus diesen Briefen sehe, viel Liebe zu mir gehabt; er beklagt sich in einem derselben, daß ich ihm auf den ›Sophokles‹, den er mir zugesendet, nicht einmal geantwortet. Lieber Gott – aber wie das bei mir geht! Es ist nicht zu verwundern. Ich habe große Herren gekannt, denen man viel zusendete. Diese machten sich gewisse Formulare und Redensarten, womit sie jedes erwiderten, und so schrieben sie Briefe zu Hunderten, die sich alle gleich und alle Phrase waren. In mir aber lag dieses nie. Wenn ich nicht jemanden etwas Besonderes und Gehöriges sagen konnte, wie es in der jedesmaligen Sache lag, so schrieb ich lieber gar nicht. Oberflächliche Redensarten hielt ich für unwürdig, und so ist es denn gekommen, daß ich manchem wackern Manne, dem ich gerne geschrieben hätte, nicht antworten konnte. Sie sehen ja selbst, wie das bei mir geht und welche Zusendungen von allen Ecken und Enden täglich bei mir einlaufen, und müssen gestehen, daß dazu mehr als ein Menschenleben gehören würde, wenn man alles nur flüchtig erwidern wollte. Aber um Solger tut es mir leid; er ist gar zu vortrefflich und hätte vor vielen andern etwas Freundliches verdient.“

Ich brachte das Gespräch auf die Novelle, die ich nun zu Hause wiederholt gelesen und betrachtet hatte. ”Der ganze Anfang“, sagte ich, ”ist nichts als Exposition, aber es ist darin nichts vorgeführt als das Notwendige, und das Notwendige mit Anmut, so daß man nicht glaubt, es sei eines andern wegen da, sondern es wolle bloß für sich selber sein und für sich selber gelten.“

”Es ist mir lieb,“ sagte Goethe, ”wenn Sie dieses so finden. Doch eins muß ich noch tun. Nach den Gesetzen einer guten Exposition nämlich muß ich die Besitzer der Tiere schon vorne auftreten lassen. Wenn die Fürstin und der Oheim an der Bude vorbereiten, müssen die Leute heraustreten und die Fürstin bitten, auch ihre Bude mit einem Besuch zu beglücken.“ –”Gewiß,“ sagte ich, ”Sie haben recht; denn da alles übrige in der Exposition angedeutet ist, so müssen es auch diese Leute werden, und es liegt ganz in der Sache, da sie sich gewöhnlich an der Kasse aufhalten, daß sie die Fürstin nicht so unangefochten werden vorbereiten lassen.“ – ”Sie sehen,“ sagte Goethe, ”daß man an einer solchen Arbeit, wenn sie auch schon im ganzen fertig, daliegt, im einzelnen noch immer zu tun hat.“

Goethe erzählte mir sodann von einem Ausländer, der in dieser Zeit ihn hin und wieder besucht und davon gesprochen, wie er dieses und jenes von seinen Werken übersetzen wolle. ”Er ist ein guter Mensch,“ sagte Goethe, ”doch in literarischer Hinsicht bezeigt er sich als ein wahrer Dilettant. Denn er kann noch kein Deutsch und spricht schon von Übersetzungen, die er machen, und von Porträten, die er ihnen will vordrucken lassen. Das ist aber eben das Wesen der Dilettanten, daß sie die Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen, und daß sie immer etwas unternehmen wollen wozu sie keine Kräfte haben.“

Donnerstag abend, den 29. [25.] Januar 1827

Begleitet von dem Manuskript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bei ihm in Gesprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte mit Interesse zu, und es kam zur Sprache, daß die neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt, so ging die Unterhaltung französisch, und nur an solchen Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte. Ich zog den Béranger aus der Tasche und überreichte ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Porträt fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich, die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. ”Diese Lieder“, sagte er, ”sind vollkommen und als das Beste in ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Gejodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beide auch über ihrer Zeit standen und die Sittenverderbnis spottend und spielend zur Sprache brachten. Béranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung. Weil er aber aus niederem Stande heraufgekommen, so ist ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt, und er behandelt es noch mit einer gewissen Neigung.“

Viel Ähnliches ward noch über Béranger und andere neuern Franzosen hin und her gesprochen, bis Herr Soret an den Hof ging und ich mit Goethe alleine blieb.

Ein versiegeltes Paket lag auf dem Tisch. Goethe legte seine Hand darauf. ”Was ist das?“ sagte er. ”Es ist die ›Helena‹, die an Cotta zum Druck abgeht.“ Ich empfand bei diesen Worten mehr, als ich sagen konnte, ich fühlte die Bedeutung des Augenblickes. Denn wie bei einem neuerbauten Schiff, das zuerst in die See geht und wovon man nicht weiß, welche Schicksale es erleben wird, so ist es auch mit dem Gedankenwerk eines großen Meisters, das zuerst in die Welt hinaustritt, um für viele Zeiten zu wirken und mannigfaltige Schicksale zu erzeugen und zu erleben. ”Ich habe“, sagte Goethe, ”bis jetzt immer noch Kleinigkeiten daran zu tun und nachzuhelfen gefunden. Endlich aber muß es genug sein, und ich bin nun froh, daß es zur Post geht und ich mich mit befreiter Seele zu etwas anderem wenden kann. Es mag nun seine Schicksale erleben! Was mich tröstet, ist, daß die Kultur in Deutschland doch jetzt unglaublich hoch steht und man also nicht zu fürchten hat, daß eine solche Produktion lange unverstanden und ohne Wirkung bleiben werde.“

”Es steckt ein ganzes Altertum darin“, sagte ich. – ”Ja,“ sagte Goethe, ”die Philologen werden daran zu tun finden.“ – ”Für den antiken Teil“, sagte ich, ”fürchte ich nicht, denn es ist da das große Detail, die gründlichste Entfaltung des einzelnen, wo jedes geradezu das sagt, was es sagen soll. Allein der moderne, romantische Teil ist sehr schwer, denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter; die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser.“ – ”Aber doch“, sagte Goethe, ”ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.“

”Es wird“, sagte ich, ”auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck machen, daß ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt. Doch es gehört etwas dazu, die Großheit dieser Personen darzustellen und die erhabenen Reden und Verse zu sprechen.“ – ”Der erste Teil“, sagte Goethe, ”erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Teile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.“

”Das Ganze“, sagte ich, ”wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Dekorationen und Garderobe Anlaß geben, und ich kann nicht leugnen, ich freue mich darauf, es auf der Bühne zu sehen. Wenn nur ein recht großer Komponist sich daran machte!“ – ”Es müßte einer sein,“ sagte Goethe, ”der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, so daß er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände. Doch das wird sich schon finden, und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heiteren Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, tue ich mir wirklich etwas zugute.“ – ”Es ist eine neue Art von Unsterblichkeit“, sagte ich.

”Nun,“ fuhr Goethe fort, ”wie steht es mit der Novelle?“ – ”Ich habe sie mitgebracht“, sagte ich. ”Nachdem ich sie nochmals gelesen, finde ich, daß Eure Exzellenz die intendierte Änderung nicht machen dürfen. Es tut gar gute Wirkung, wenn die Leute beim getöteten Tiger zuerst als durchaus fremde neue Wesen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und sich als Besitzer der Tiere ankündigen. Brächten Sie sie aber schon früher, in der Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.“

”Sie haben recht,“ sagte Goethe, ”ich muß es lassen, wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz recht. Es muß auch beim ersten Entwurf in mir gelegen haben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendierte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.“

Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. ”Wissen Sie was,“ sagte Goethe, ”wir wollen es die ›Novelle‹ nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den ›Wahlverwandtschaften‹ vor.“

”Wenn man es recht bedenkt,“ sagte ich, ”so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das, was es ist, so daß man also glauben sollte, der Titel gehöre gar nicht zur Sache.“ – ”Er gehört auch nicht dazu,“ sagte Goethe; ”die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dies ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer späteren Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Notwendigkeit herbeigeführt, bei einer ausgebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und voneinander zu unterscheiden.

”Hier“, sagte Goethe, ”haben Sie etwas Neues; lesen Sie.“ Mit diesen Worten reichte er mir eine Übersetzung eines serbischen Gedichtes von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnügen, denn das Gedicht war sehr schön und die Übersetzung so einfach und klar, daß man im Anschauen des Gegenstandes nie gestört wurde. Das Gedicht führte den Titel ›Die Gefängnisschlüssel‹. Ich sage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indes kam mir abgerissen und ein wenig unbefriedigend vor.

”Das ist“, sagte Goethe, ”eben das Schöne; denn dadurch läßt es einen Stachel im Herzen zurück, und die Phantasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen können. Der Schluß hinterläßt den Stoff zu einem ganzen Trauerspiele, allein er ist von der Art, wie schon vieles dagewesen ist. Dagegen das im Gedicht Dargestellte ist das eigentlich Neue und Schöne, und der Dichter verfuhr sehr weise, daß er nur dieses ausbildete und das andere dem Leser überließ. Ich teilte das Gedicht gerne in ›Kunst und Altertum‹ mit, allein es ist zu lang; dagegen habe ich mir diese drei gereimten von Gerhard ausgebeten, die ich im nächsten Heft werde abdrucken lassen. Was sagen Sie zu diesem? Hören Sie.“

Goethe las nun zuerst das Lied vom Alten, der ein junges Mädchen liebt, sodann das Trinklied der Weiber, und zuletzt das energische ›Tanz uns vor, Theodor‹. Jedes las er in einem anderen Tone und andern Schwunge, vortrefflich, so daß man nicht leicht etwas Vollkommneres hören konnte.

Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus glücklich und im Charakter gewählt und alles leicht und vollkommen ausgeführt hatte, so daß man nicht wußte, wie er es hätte besser machen sollen. ”Da sieht man,“ sagte Goethe, ”was bei einem solchen Talent wie Gerhard die große technische Übung tut. Und dann kommt ihm zugute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier, sondern ein solches treibt, das ihn täglich aufs praktische Leben weiset. Auch hat er die vielen Reisen in England und andern Ländern gemacht, wodurch er denn bei seinem auf das Reale gehenden Sinn über unsere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er sich immer an gute Überlieferungen hält und nur diese bearbeitet, so wird er nicht leicht etwas Schlechtes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfordern sehr viel und sind eine schwere Sache.“

Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Produktionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten.

”Die Sache ist sehr einfach,“ sagte Goethe. ”Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere gibt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht, als wäre es was.“

Mittwoch, den 31. Januar 1827

Bei Goethe zu Tisch. ”In diesen Tagen, seit ich Sie nicht gesehen,“ sagte er, ”habe ich vieles und mancherlei gelesen, besonders auch einen chinesischen Roman, der mich noch beschäftiget und der mir im hohen Grade merkwürdig erscheint.“ – ”Chinesischen Roman?“ sagte ich. ”Der muß wohl sehr fremdartig aussehen.“ – ”Nicht so sehr, als man glauben sollte“, sagte Goethe. ”Die Menschen denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen, – nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht. Es ist bei ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem ›Hermann und Dorothea‹, sowie mit den englischen Romanen des Richardson. Es unterscheidet sich aber wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen singen immerfort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht wie der Tag selber. Und das Innere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder. Z. B.: ›Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam, saßen sie auf feinen Rohrstühlen.‹ Da haben Sie gleich die allerliebste Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B. von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer Blume balancieren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebespaaren, die in einem langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genötigt waren, eine Nacht in einem Zimmer miteinander zuzubringen, sie in Gesprächen die Stunden durchwachten, ohne sich zu berühren. Und so unzählige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das Chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen.

Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen Roman“, fuhr Goethe fort, ”habe ich an den Liedern von Béranger, denen fast allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider sein würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Béranger die Gegenstände behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmutig werden. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz das Gegenteil sind?“

”Ein solches Talent wie Béranger“, sagte ich, ”würde an sittlichen Stoffen nichts zu tun finden.“ – ”Sie haben recht,“ sagte Goethe, ”eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.“ – ”Aber“, sagte ich, ”ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?“ – ”Keineswegs,“ sagte Goethe; ”die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.

Ich sehe immer mehr,“ fuhr Goethe fort, ”daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht ans dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.“

Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklingel vorbeifahrender Schlitten lockte uns zum Fenster, denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen Morgen nach Belvedere vorbeiging, wieder zurückkommen würde. Goethe setzte indes seine lehrreichen Äußerungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede, und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Manzoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl aufgenommen gewesen sei, und daß er jetzt wieder in der Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.

”Manzoni“, fuhr Goethe fort, ”fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respekt vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweiset, wie treu er den Einzelnheiten der Geschichte geblieben. Nun mögen seine Fakta historisch sein, aber seine Charaktere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charaktere gekannt, die er darstellte; hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charaktere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen, wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.

Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charaktere des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, so wie Charaktere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man es machen. Ja Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht, denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden.

Darin“, fuhr Goethe fort, ”waren nun wieder die Griechen so groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Faktums gingen, als darauf, wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den ›Philokteten‹ ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker behandelt haben, und Sophokles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den ›Philokteten‹ des Äschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restaurieren, so wie ich es mit dem ›Phaëton‹ des Euripides getan, und es sollte mir keine unangenehme und unnütze Arbeit sein.

Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art, wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter, und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvortun. Der Ulyß soll ihn holen; aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Äschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophokles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegts, und so sollten es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich ein einfaches Sujet durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es.“

Vorbeifahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenster; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir sprachen und scherzten unbedeutende Dinge hin und her, dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle stehe.

”Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen,“ sagte er, ”aber eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an der Bude vorbereitet, wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit dieses gewaltigen Tieres anstellen lassen kann.“

”Dieser Gedanke ist sehr glücklich,“ sagte ich, ”denn dadurch entsteht eine Exposition, die nicht allein an sich, an ihrer Stelle, gut und notwendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllet, läßt er uns wenigstens seine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung tun.“

”Diese Art zu ändern und zu bessern,“ sagte Goethe, ”ist nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgesetzte Erfindungen zum Vollendeten steigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und weiter zu treiben, wie z. B. Walter Scott mit meiner Mignon getan, die er außer ihren übrigen Eigenheiten noch taubstumm sein läßt: diese Art zu ändern kann ich nicht loben.“

Donnerstag abend, den 1. Februar 1827

Goethe erzählte mir von einem Besuch des Kronprinzen von Preußen in Begleitung des Großherzogs. ”Auch die Prinzen Karl und Wilhelm von Preußen“, sagte er, ”waren diesen Morgen bei mir. Der Kronprinz blieb mit dem Großherzog gegen drei Stunden, und es kam mancherlei zur Sprache, welches mir von dem Geist, Geschmack, den Kenntnissen und der Denkweise dieses jungen Fürsten eine hohe Meinung gab –“

Goethe hatte einen Band der ›Farbenlehre‹ vor sich liegen. ”Ich bin“, sagte er, ”Ihnen noch immer eine Antwort wegen des Phänomens der farbigen Schatten schuldig. Da dieses aber vieles voraussetzt und mit vielem andern zusammenhängt, so will ich Ihnen auch heute keine aus dem Ganzen herausgerissene Erklärung geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut sein würde, wenn wir die Abende, die wir zusammenkommen, die ganze ›Farbenlehre‹ miteinander durchlesen. Dadurch haben wir immer einen soliden Gegenstand der Unterhaltung, und Sie selbst werden sich die ganze Lehre zu eigen machen, so daß Sie kaum merken, wie Sie dazu kommen. Das Überlieferte fängt bei Ihnen an zu leben und wieder produktiv zu werden, wodurch ich denn voraussehen daß diese Wissenschaft sehr bald Ihr Eigentum sein wird. Nun lesen Sie den ersten Abschnitt.“

Mit diesen Worten legte Goethe mir das aufgeschlagene Buch vor. Ich fühlte mich sehr beglückt durch die gute Absicht, die er mit mir hatte. Ich las von den physiologischen Farben die ersten Paragraphen.

”Sie sehen,“ sagte Goethe, ”es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre, und wie die äußere Welt ihre Farben hat, so hat sie auch das Auge. Da es nun bei dieser Wissenschaft ganz vorzüglich auf scharfe Sonderung des Objektiven vom Subjektiven ankommt, so habe ich billig mit den Farben, die dem Auge gehören, den Anfang gemacht, damit wir bei allen Wahrnehmungen immer wohl unterscheiden, ob die Farbe auch wirklich außer uns existiere oder ob es eine bloße Scheinfarbe sei, die sich das Auge selbst erzeugt hat. Ich denke also, daß ich den Vortrag dieser Wissenschaft beim rechten Ende angefaßt habe, indem ich zunächst das Organ berichtige, durch welches alle Wahrnehmungen und Beobachtungen geschehen müssen.“

Ich las weiter bis zu den interessanten Paragraphen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Bedürfnis des Wechsels habe, indem es nie gerne bei derselbigen Farbe verweile, sondern sogleich eine andere fordere, und zwar so lebhaft, daß es sich solche selbst erzeuge, wenn es sie nicht wirklich vorfinde.

Dieses brachte ein großes Gesetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruhet. ”Es ist dieses“, sagte Goethe, ”nicht allein mit allen anderen Sinnen so, sondern auch mit unserem höheren geistigen Wesen; aber weil das Auge ein so vorzüglicher Sinn ist, so tritt dieses Gesetz des geforderten Wechsels so auffallend bei den Farben hervor und wird uns bei ihnen so vor allen deutlich bewußt. Wir haben Tänze, die uns im hohen Grade wohlgefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechselt, wogegen aber Tänze aus bloßem Dur oder bloßem Moll sogleich ermüden.“

”Dasselbe Gesetz“, sagte ich, ”scheint einem guten Stil zum Grunde zu liegen, bei welchem wir gerne einen Klang vermeiden, der soeben gehört wurde. Auch beim Theater wäre mit diesem Gesetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wüßte. Stücke, besonders Trauerspiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechsel durchgeht, haben etwas Lästiges und Ermüdendes, und wenn nun das Orchester bei einem traurigen Stück auch in den Zwischenakten traurige, niederschlagende Musik hören läßt, so wird man von einem unerträglichen Gefühl gepeinigt, dem man gern auf alle Weise entfliehen möchte.“

”Vielleicht“, sagte Goethe, ”beruhen auch die eingeflochtenen heiteren Szenen in den Shakespearischen Trauerspielen auf diesem Gesetz des geforderten Wechsels; allein auf die höhere Tragödie der Griechen scheint es nicht anwendbar, vielmehr geht bei dieser ein gewisser Grundton durch das Ganze.“

”Die griechische Tragödie“, sagte ich, ”ist auch nicht von solcher Länge, daß sie bei einem durchgehenden gleichen Ton ermüden könnte; und dann wechseln auch Chöre und Dialog, und der erhabene Sinn ist von solcher Art, daß er nicht lästig werden kann, indem immer eine gewisse tüchtige Realität zum Grunde liegt, die stets heiterer Natur ist.“

”Sie mögen recht haben,“ sagte Goethe, ”und es wäre wohl der Mühe wert, zu untersuchen, inwiefern auch die griechische Tragödie dem allgemeinen Gesetz des geforderten Wechsels unterworfen ist. Aber Sie sehen, wie alles aneinander hängt, und wie sogar ein Gesetz der Farbenlehre auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen kann. Nur muß man sich hüten, es mit einem solchen Gesetz zu weit treiben und es als Grundlage für vieles andere machen zu wollen; vielmehr geht man sicherer, wenn man es immer nur als ein Analogon, als ein Beispiel gebraucht und anwendet.“

Wir sprachen über die Art, wie Goethe seine Farbenlehre vorgetragen, daß er nämlich dabei alles aus großen Urgesetzen abgeleitet und die einzelnen Erscheinungen immer darauf zurückgeführt habe, woraus denn das Faßliche und ein großer Gewinn für den Geist hervorgehe.

”Dieses mag sein,“ sagte Goethe, ”und Sie mögen mich deshalb loben; aber diese Methode erfordert denn auch Schüler, die nicht in der Zerstreuung leben und die fähig sind, die Sache wieder im Grunde aufzufassen. Es sind einige recht hübsche Leute in meiner Farbenlehre heraufgekommen, allein das Unglück ist, sie bleiben nicht auf geradem Wege, sondern ehe ich es mir versehe, weichen sie ab und gehen einer Idee nach statt das Objekt immer gehörig im Auge zu behalten. Aber ein guter Kopf, dem es zugleich um die Wahrheit zu tun wäre, könnte noch immer viel leisten.“

Wir sprachen von Professoren, die, nachdem das Bessere gefunden, immer noch die Newtonische Lehre vortragen. ”Dies ist nicht zu verwundern,“ sagte Goethe; ”solche Leute gehen im Irrtum fort, weil sie ihm ihre Existenz verdanken. Sie müßten umlernen, und das wäre eine sehr unbequeme Sache.“ – ”Aber“, sagte ich, ”wie können ihre Experimente die Wahrheit beweisen, da der Grund ihrer Lehre falsch ist?“ – ”Sie beweisen auch die Wahrheit nicht,“ sagte Goethe, ”und das ist auch keineswegs ihre Absicht, sondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweisen. Deshalb verbergen sie auch alle solche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre sich darlegen könnte.

Und dann, um von den Schülern zu reden, welchem von ihnen wäre es denn um die Wahrheit zu tun? Das sind auch Leute wie andere und völlig zufrieden, wenn sie über die Sache empirisch mitschwatzen können. Das ist alles. Die Menschen sind überhaupt eigener Natur; sobald ein See zugefroren ist, sind sie gleich zu Hunderten darauf und amüsieren sich auf der glatten Oberfläche: aber wem fällt es ein, zu untersuchen, wie tief er ist und welche Arten von Fischen unter dem Eise hin und her schwimmen? Niebuhr hat jetzt einen Handelstraktat zwischen Rom und Karthago entdeckt aus einer sehr frühen Zeit, woraus es erwiesen ist, daß alle Geschichte des Livius vom frühen Zustande des römischen Volkes nichts als Fabeln sind, indem aus jenem Traktat ersichtlich, daß Rom schon sehr früh in einem weit höheren Zustande der Kultur sich befunden, als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieser entdeckte Traktat in der bisherigen Lehrart der römischen Geschichte eine große Reform hervorbringen werde, so sind Sie im Irrtum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; so sind die Leute, ich habe sie kennen gelernt, so sind sie und nicht anders.“

”Aber doch“, sagte ich, ”kann es Ihnen nicht gereuen, daß Sie die ›Farbenlehre‹ geschrieben; denn nicht allein, daß Sie dadurch ein festes Gebäude dieser trefflichen Wissenschaft gegründet, sondern Sie haben auch darin ein Muster wissenschaftlicher Behandlung aufgestellt, woran man sich bei Behandlung ähnlicher Gegenstände immer halten kann.“

”Es gereut mich auch keineswegs,“ sagte Goethe, ”obgleich ich die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt habe. Ich hätte vielleicht ein halb Dutzend Trauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, und dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden.

Aber Sie haben recht, ich denke auch, die Behandlung wäre gut; es ist Methode darin. In derselbigen Art habe ich auch eine Tonlehre geschrieben, so wie auch meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ auf derselbigen Anschauungs- und Ableitungsweise beruhet.

Mit meiner ›Metamorphose der Pflanzen‹ ging es mir eigen; ich kam dazu wie Herschel zu seinen Entdeckungen. Herschel nämlich war so arm, daß er sich kein Fernrohr anschaffen konnte, sondern daß er genötiget war, sich selber eins zu machen. Aber dies war sein Glück; denn dieses selbstfabrizierte war besser als alle anderen, und er machte damit seine großen Entdeckungen. In die Botanik war ich auf empirischem Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut, daß mir bei der Bildung der Geschlechter die Lehre zu weitläufig wurde, als daß ich den Mut hatte, sie zu fassen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem Wege nachzuspüren und dasjenige zu finden, was allen Pflanzen ohne Unterschied gemein wäre, und so entdeckte ich das Gesetz der Metamorphose.

Der Botanik nun im einzelnen weiter nachzugehen, liegt gar nicht in meinem Wege, das überlasse ich andern, die es mir auch darin weit zuvortun. Mir lag bloß daran, die einzelnen Erscheinungen auf ein allgemeines Grundgesetz zurückzuführen.

So auch hat die Mineralogie nur in einer doppelten Hinsicht Interesse für mich gehabt: zunächst nämlich ihres großen praktischen Nutzens wegen, und dann, um darin ein Dokument über die Bildung der Urwelt zu finden, wozu die Wernersche Lehre Hoffnung machte. Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode in dieser Wissenschaft das Oberste zu unterst kehrt, gehe ich in diesem Fache öffentlich nicht weiter mit, sondern halte mich im stillen in meiner Überzeugung fort.

In der ›Farbenlehre‹ steht mir nun noch die Entwickelung des Regenbogens bevor, woran ich zunächst gehen werde. Es ist dieses eine äußerst schwierige Aufgabe, die ich jedoch zu lösen hoffe. Es ist mir aus diesem Grunde lieb, jetzt mit Ihnen die ›Farbenlehre‹ wieder durchzugehen, wodurch sich denn, zumal bei Ihrem Interesse für die Sache, alles wieder anfrischet.

Ich habe mich“, fuhr Goethe fort, ”in den Naturwissenschaften ziemlich nach allen Seiten hin versucht; jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich denn auch nie mit Astronomie beschäftiget habe, weil hiebei die Sinne nicht mehr ausreichen, sondern weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache waren.

Wenn ich aber in denen Gegenständen, die in meinem Wege lagen, etwas geleistet, so kam mir dabei zugute, daß mein Leben in eine Zeit fiel, die an großen Entdeckungen in der Natur reicher war als irgendeine andere. Schon als Kind begegnete mir Franklins Lehre von der Elektrizität, welches Gesetz er damals soeben gefunden hatte. Und so folgte durch mein ganzes Leben, bis zu dieser Stunde, eine große Entdeckung der andern; wodurch ich denn nicht allein früh auf die Natur hingeleitet, sondern auch später immer fort in der bedeutendsten Anregung gehalten wurde.

Jetzt werden Vorschritte getan, auch auf den Wegen, die ich einleitete, wie ich sie nicht ahnden konnte, und es ist mir wie einem, der der Morgenröte entgegengeht und über den Glanz der Sonne erstaunt, wenn diese hervorleuchtet.“ Unter den Deutschen nannte Goethe bei dieser Gelegenheit die Namen Carus, D'Alton, Meyer in Königsberg mit Bewunderung.

”Wenn nur die Menschen“, fuhr Goethe fort, ”das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es täte der Menschheit ein Positives not, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und Wahre wäre. In dieser Hinsicht sollte es mich freuen, wenn man in den Naturwissenschaften aufs Reine käme und sodann im Rechten beharrte, und nicht wieder transzendierte, nachdem im Faßlichen alles getan worden. Aber die Menschen können keine Ruhe halten, und ehe man es sich versieht, ist die Verwirrung wieder oben auf.

So rütteln sie jetzt an den fünf Büchern Moses, und wenn die vernichtende Kritik irgend schädlich ist, so ist sie es in Religionssachen; denn hiebei beruht alles auf dem Glauben, zu welchem man nicht zurückkehren kann, wenn man ihn einmal verloren hat.

In der Poesie ist die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat die Wunderkraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.“

Goethe war in der besten Laune, und ich war glücklich, ihn abermals über so bedeutende Dinge reden zu hören. ”Wir wollen uns nur“, sagte er, ”im stillen auf dem rechten Wege forthalten und die übrigen gehen lassen; das ist das Beste.“

Mittwoch, den 7. Februar 1827

Goethe schalt heute auf gewisse Kritiker, die nicht mit Lessing zufrieden und an ihn ungehörige Forderungen machen.

”Wenn man“, sagte er, ”die Stücke von Lessing mit denen der Alten vergleicht und sie schlecht und miserabel findet, was soll man da sagen! – Bedauert doch den außerordentlichen Menschen, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben mußte, die ihm keine besseren Stoffe gab, als in seinen Stücken verarbeitet sind! – Bedauert ihn doch, daß er in seiner ›Minna von Barnhelm‹ an den Händeln der Sachsen und Preußen teilnehmen mußte, weil er nichts Besseres fand! – Auch daß er immerfort polemisch wirkte und wirken mußte, lag in der Schlechtigkeit seiner Zeit. In der ›Emilie Galotti‹ hatte er seine Piken auf die Fürsten, im ›Nathan‹ auf die Pfaffen.“

Freitag, den 16. Februar 1827

Ich erzählte Goethen, daß ich in diesen Tagen Winckelmanns Schrift ›Über die Nachahmung griechischer Kunstwerke‹ gelesen, wobei ich gestand, daß es mir oft vorgekommen, als sei Winckelmann damals noch nicht völlig klar über seine Gegenstände gewesen.

”Sie haben allerdings recht,“ sagte Goethe, ”man trifft ihn mitunter in einem gewissen Tasten; allein, was das Große ist, sein Tasten weiset immer auf etwas hin; er ist dem Kolumbus ähnlich, als er die Neue Welt zwar noch nicht entdeckt hatte, aber sie doch schon ahndungsvoll im Sinne trug. Man lernt nichts, wenn man ihn lieset, aber man wird etwas.

Meyer ist nun weiter geschritten und hat die Kenntnis der Kunst auf ihren Gipfel gebracht. Seine ›Kunstgeschichte‹ ist ein ewiges Werk; allein er wäre das nicht geworden, wenn er sich nicht in der Jugend an Winckelmann hinaufgebildet hätte und auf dessen Wege fortgegangen wäre. Da sieht man abermals, was ein großer Vorgänger tut, und was es heißt, wenn man sich diesen gehörig zunutze macht.“

Mittwoch, den 11. April 1827

Ich ging diesen Mittag um ein Uhr zu Goethe, der mich vor Tisch zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das Wetter war schön, die Kornfelder zu beiden Seiten des Weges erquickten das Auge mit dem lebhaftesten Grün; Goethe schien in seinen Empfindungen heiter und jung wie der beginnende Lenz, in seinen Worten aber alt an Weisheit.

”Ich sage immer und wiederhole es,“ begann er, ”die Welt könnte nicht bestehen, wenn sie nicht so einfach wäre. Dieser elende Boden wird nun schon tausend Jahre bebaut, und seine Kräfte sind immer dieselbigen. Ein wenig Regen, ein wenig Sonne, und es wird jeden Frühling wieder grün, und so fort.“ Ich fand auf diese Worte nichts zu erwidern und hinzuzusetzen. Goethe ließ seine Blicke über die grünenden Felder schweifen, sodann aber, wieder zu mir gewendet, fuhr er über andere Dinge folgendermaßen fort:

”Ich habe in diesen Tagen eine wunderliche Lektüre gehabt, nämlich die ›Briefe Jacobis und seiner Freunde‹. Dies ist ein höchst merkwürdiges Buch, und Sie müssen es lesen, nicht um etwas daraus zu lernen, sondern um in den Zustand damaliger Kultur und Literatur hineinzublicken, von dem man keinen Begriff hat. Man sieht lauter gewissermaßen bedeutende Menschen, aber keine Spur von gleicher Richtung und gemeinsamem Interesse, sondern jeder rund abgeschlossen für sich und seinen eigenen Weg gehend, ohne im geringsten an den Bestrebungen des andern teilzunehmen. Sie sind mir vorgekommen wie die Billardkugeln, die auf der grünen Decke blind durcheinander laufen, ohne voneinander zu wissen, und die, sobald sie sich berühren, nur desto weiter auseinander fahren.“

Ich lachte über das treffende Gleichnis. Ich erkundigte mich nach den korrespondierenden Personen, und Goethe nannte sie mir, indem er mir über jeden etwas Besonderes sagte.

”Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein schöner Mann von schlankem Wuchs, feinen, vornehmen Wesens, der als Gesandter ganz an seinem Platz gewesen wäre. Zum Poeten und Philosophen fehlte ihm etwas, um beides zu sein.

Sein Verhältnis zu mir war eigener Art. Er hatte mich persönlich lieb, ohne an meinen Bestrebungen teilzunehmen oder sie wohl gar zu billigen. Es bedurfte daher der Freundschaft, um uns aneinander zu halten. Dagegen war mein Verhältnis mit Schiller so einzig, weil wir das herrlichste Bindungsmittel in unsern gemeinsamen Bestrebungen fanden und es für uns keiner sogenannten besonderen Freundschaft weiter bedurfte.“

Ich fragte nach Lessing, ob auch dieser in den Briefen vorkomme. ”Nein,“ sagte Goethe, ”aber Herder und Wieland.

Herdern war es nicht wohl bei diesen Verbindungen; er stand zu hoch, als daß ihm das hohle Wesen auf die Länge nicht hätte lästig werden sollen, so wie auch Hamann diese Leute mit überlegenem Geiste behandelte.

Wieland, wie immer, erscheint auch in diesen Briefen durchaus heiter und wie zu Hause. An keiner besonderen Meinung hängend, war er gewandt genug, um in alles einzugehen. Er war einem Rohre ähnlich, das der Wind der Meinungen hin und her bewegte, das aber auf seinem Wurzelchen immer feste blieb.

Mein persönliches Verhältnis zu Wieland war immer sehr gut, besonders in der früheren Zeit, wo er mir allein gehörte. Seine kleinen Erzählungen hat er auf meine Anregung geschrieben. Als aber Herder nach Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder nahm ihn mir weg, denn dieses Mannes persönliche Anziehungskraft war sehr groß.“

Der Wagen wendete sich zum Rückwege. Wir sahen gegen Osten vielfaches Regengewölk, das sich ineinander schob. ”Diese Wolken“, sagte ich, ”sind doch so weit gebildet, daß sie jeden Augenblick als Regen niederzugehen drohen. Wäre es möglich, daß sie sich wieder auflösten, wenn das Barometer stiege?“ – ”Ja,“ sagte Goethe, ”diese Wolken würden sogleich von oben herein verzehrt und aufgesponnen werden wie ein Rocken. So stark ist mein Glauben an das Barometer. Ja ich sage immer und behaupte: wäre in jener Nacht der großen Überschwemmung von Petersburg das Barometer gestiegen, die Welle hätte nicht herangekonnt.

Mein Sohn glaubt beim Wetter an den Einfluß des Mondes, und Sie glauben vielleicht auch daran, und ich verdenke es euch nicht, denn der Mond erscheint als ein zu bedeutendes Gestirn, als daß man ihm nicht eine entschiedene Einwirkung auf unsere Erde zuschreiben sollte; allein die Veränderung des Wetters, der höhere oder tiefere Stand des Barometers rührt nicht vom Mondwechsel her, sondern ist rein tellurisch.

Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunstkreise gleichnisweise als ein großes lebendiges Wesen, das im ewigen Ein- und Ausatmen begriffen ist. Atmet die Erde ein, so zieht sie den Dunstkreis an sich, so daß er in die Nähe ihrer Oberfläche herankommt und sich verdichtet bis zu Wolken und Regen. Diesen Zustand nenne ich die Wasserbejahung; dauert er über alle Ordnung fort, so würde er die Erde ersäufen. Dies aber gibt sie nicht zu; sie atmet wieder aus und entläßt die Wasserdünste nach oben, wo sie sich in den ganzen Raum der hohen Atmosphäre ausbreiten und sich dergestalt verdünnen, daß nicht allein die Sonne glänzend herdurchgeht, sondern auch sogar die ewige Finsternis des unendlichen Raumes als frisches Blau herdurch gesehen wird. Diesen Zustand der Atmosphäre nenne ich die Wasserverneinung. Denn wie bei dem entgegengesetzten nicht allein häufiges Wasser von oben kommt, sondern auch die Feuchtigkeit der Erde nicht verdunsten und abtrocknen will, so kommt dagegen bei diesem Zustand nicht allein keine Feuchtigkeit von oben, sondern auch die Nässe der Erde selbst verfliegt und geht aufwärts, so daß bei einer Dauer über alle Ordnung hinaus die Erde, auch ohne Sonnenschein, zu vertrocknen und zu verdörren Gefahr liefe.“

So sprach Goethe über diesen wichtigen Gegenstand, und ich hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu.

”Die Sache ist sehr einfach,“ fuhr er fort, ”und so am Einfachen, Durchgreifenden halte ich mich und gehe ihm nach, ohne mich durch einzelne Abweichungen irreleiten zu lassen. Hoher Barometer: Trockenheit, Ostwind; tiefer Barometer: Nässe, Westwind; dies ist das herrschende Gesetz, woran ich mich halte. Wehet aber einmal bei hohem Barometer und Ostwind ein nasser Nebel her, oder haben wir blauen Himmel bei Westwind, so kümmert mich dieses nicht und macht meinen Glauben an das herrschende Gesetz nicht irre, sondern ich sehe daraus bloß, daß auch manches Mitwirkende existiert, dem man nicht sogleich beikommen kann.

Ich will Ihnen etwas sagen, woran Sie sich im Leben halten mögen. Es gibt in der Natur ein Zugängliches und ein Unzugängliches. Dieses unterscheide und bedenke man wohl und habe Respekt. Es ist uns schon geholfen, wenn wir es überhaupt nur wissen, wiewohl es immer sehr schwer bleibt, zu sehen, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Wer es nicht weiß, quält sich vielleicht lebenslänglich am Unzugänglichen ab, ohne je der Wahrheit nahe zu kommen. Wer es aber weiß und klug ist, wird sich am Zugänglichen halten, und indem er in dieser Region nach allen Seiten geht und sich befestiget, wird er sogar auf diesem Wege dem Unzugänglichen etwas abgewinnen können, wiewohl er hier doch zuletzt gestehen wird, daß manchen Dingen nur bis zu einem gewissen Grade beizukommen ist und die Natur immer etwas Problematisches hinter sich behalte, welches zu ergründen die menschlichen Fähigkeiten nicht hinreichen.“

Unter diesen Worten waren wir wieder in die Stadt hereingefahren. Das Gespräch lenkte sich auf unbedeutende Gegenstände, wobei jene hohen Ansichten noch eine Weile in meinem Innern fortleben konnten.

Wir waren zu früh zurückgekehrt, um sogleich an Tisch zu gehen, und Goethe zeigte mir vorher noch eine Landschaft von Rubens, und zwar einen Sommerabend. Links im Vordergrunde sah man Feldarbeiter nach Hause gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine Herde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu; rechts tiefer im Bilde stand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter mit Aufladen beschäftigt waren, abgespannte Pferde graseten nebenbei; sodann abseits in Wiesen und Gebüsch zerstreut weideten mehrere Stuten mit ihren Fohlen, denen man ansah, daß sie auch in der Nacht draußen bleiben würden. Verschiedene Dörfer und eine Stadt schlossen den hellen Horizont des Bildes, worin man den Begriff von Tätigkeit und Ruhe auf das anmutigste ausgedrückt fand.

Das Ganze schien mir mit solcher Wahrheit zusammen zu hängen und das Einzelne lag mir mit solcher Treue vor Augen, daß ich die Meinung äußerte: Rubens habe dieses Bild wohl ganz nach der Natur abgeschrieben.

”Keineswegs,“ sagte Goethe, ”ein so vollkommenes Bild ist niemals in der Natur gesehen worden, sondern wir verdanken diese Komposition dem poetischen Geiste des Malers. Aber der große Rubens hatte ein so außerordentliches Gedächtnis, daß er die ganze Natur im Kopfe trug und sie ihm in ihren Einzelnheiten immer zu Befehl war. Daher kommt diese Wahrheit des Ganzen und Einzelnen, so daß wir glauben, alles sei eine reine Kopie nach der Natur. Jetzt wird eine solche Landschaft gar nicht mehr gemacht, diese Art zu empfinden und die Natur zu sehen, ist ganz verschwunden, es mangelt unsern Malern an Poesie.

Und dann sind unsere jungen Talente sich selber überlassen, es fehlen die lebendigen Meister, die sie in die Geheimnisse der Kunst einführen. Zwar ist auch von den Toten etwas zu lernen, allein dieses ist, wie es sich zeigt, mehr ein Absehen von Einzelnheiten als ein Eindringen in eines Meisters tiefere Art zu denken und zu verfahren.“

Frau und Herr von Goethe traten herein, und wir setzten uns zu Tisch. Die Gespräche wechselten über heitere Gegenstände des Tages: Theater, Bälle und Hof, flüchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder auf ernstere Dinge geraten, und wir sahen uns in einem Gespräch über Religionslehren in England tief befangen.

”Ihr müßtet, wie ich,“ sagte Goethe, ”seit funfzig Jahren die Kirchengeschichte studiert haben, um zu begreifen, wie das alles zusammenhängt. Dagegen ist es höchst merkwürdig, mit welchen Lehren die Mohammedaner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der Religion befestigen sie ihre Jugend zunächst in der Überzeugung, daß dem Menschen nichts begegnen könne, als was ihm von einer alles leitenden Gottheit längst bestimmt worden; und somit sind sie denn für ihr ganzes Leben ausgerüstet und beruhigt und bedürfen kaum eines Weiteren.

Ich will nicht untersuchen, was an dieser Lehre Wahres oder Falsches, Nützliches oder Schädliches sein mag, aber im Grunde liegt von diesem Glauben doch etwas in uns allen, auch ohne daß es uns gelehrt worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht geschrieben steht, wird mich nicht treffen, sagt der Soldat in der Schlacht; und wie sollte er ohne diese Zuversicht in den dringendsten Gefahren Mut und Heiterkeit behalten! Die Lehre des christlichen Glaubens: kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen eures Vaters, ist aus derselbigen Quelle hervorgegangen und deutet auf eine Vorsehung, die das Kleinste im Auge hält und ohne deren Willen und Zulassen nichts geschehen kann.

Sodann ihren Unterricht in der Philosophie beginnen die Mohammedaner mit der Lehre, daß nichts existiere, wovon sich nicht das Gegenteil sagen lasse; und so üben sie den Geist der Jugend, indem sie ihre Aufgaben darin bestehen lassen, von jeder aufgestellten Behauptung die entgegengesetzte Meinung zu finden und auszusprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken und Reden hervorgehen muß.

Nun aber, nachdem von jedem aufgestellten Satze das Gegenteil behauptet worden, entsteht der Zweifel, welches denn von beiden das eigentlich Wahre sei. Im Zweifel aber ist kein Verharren, sondern er treibt den Geist zu näherer Untersuchung und Prüfung, woraus denn, wenn diese auf eine vollkommene Weise geschieht, die Gewißheit hervorgeht, welches das Ziel ist, worin der Mensch seine völlige Beruhigung findet.

Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und daß überhaupt niemand weiter gelangen kann.“

”Ich werde dadurch“, sagte ich, ”an die Griechen erinnert, deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche gewesen sein muß wie uns dieses ihre Tragödie beweiset, deren Wesen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerspruch beruhet, indem niemand der redenden Personen etwas behaupten kann, wovon der andere nicht ebenso klug das Gegenteil zu sagen wüßte.“

”Sie haben vollkommen recht,“ sagte Goethe; ”auch fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuschauer oder Leser erweckt wird; so wie wir denn am Schluß durch das Schicksal zur Gewißheit gelangen, welches sich an das Sittliche anschließt und dessen Partei führt.“

Wir standen von Tisch auf, und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um unsere Gespräche fortzusetzen.

”An Lessing“, sagte ich, ”ist es merkwürdig, daß er in seinen theoretischen Schriften, z. B. im ›Laokoon‹, nie geradezu auf Resultate losgeht, sondern uns immer erst jenen philosophischen Weg durch Meinung, Gegenmeinung und Zweifel herumführt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit gelangen läßt. Wir sehen mehr die Operation des Denkens und Findens, als daß wir große Ansichten und große Wahrheiten erhielten, die unser eigenes Denken anzuregen und uns selbst produktiv zu machen geeignet wären.“

”Sie haben wohl recht“, sagte Goethe. ”Lessing soll selbst einmal geäußert haben, daß, wenn Gott ihm die Wahrheit geben wolle, er sich dieses Geschenk verbitten, vielmehr die Mühe vorziehen würde, sie selber zu suchen.

Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.

Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in der Region der Widersprüche und Zweifel auf; das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich selbst werden Sie dagegen ganz anders finden; ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen gesucht, und nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen.“

Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philosophen er für den vorzüglichsten halte.

”Kant“, sagte er, ”ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat, und die in unsere deutsche Kultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne daß Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon. Wenn Sie einmal später etwas von ihm lesen wollen, so empfehle ich Ihnen seine ›Kritik der Urteilskraft‹, worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat.“

”Haben Eure Exzellenz je zu Kant ein persönliches Verhältnis gehabt?“ fragte ich.

”Nein“, sagte Goethe. ”Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wußte, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existiert, und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können: dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subjekt und Objekt und als Vermittlung von beiden anzusehen ist.

Schiller pflegte mir immer das Studium der Kantischen Philosophie zu widerraten. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studierte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch studiert, und zwar nicht ohne Gewinn.“

Unter diesen Gesprächen gingen wir im Garten auf und ab. Die Wolken hatten sich indes verdichtet, und es fing an zu tröpfeln, so daß wir genötiget waren, uns in das Haus zurückzuziehen, wo wir denn unsere Unterhaltungen noch eine Weile fortsetzten.

Mittwoch, den 20. Juni 1827

Der Familientisch zu fünf Kuverts stand gedeckt, die Zimmer waren leer und kühl, welches bei der großen Hitze sehr wohl tat. Ich trat in das geräumige, an den Speisesaal angrenzende Zimmer, worin der gewirkte Fußteppich liegt und die kolossale Büste der Juno steht. Ich war nicht lange allein auf und ab gegangen, als Goethe, aus seinem Arbeitszimmer kommend, hereintrat und mich in seiner herzlichen Art liebevoll begrüßte und anredete. Er setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. ”Nehmen Sie sich auch ein Stühlchen,“ sagte er, ”und setzen Sie sich zu mir, wir wollen ein wenig reden, bis die übrigen kommen. Es ist mir lieb, daß Sie doch auch den Grafen Sternberg bei mir haben kennen gelernt; er ist wieder abgereiset, und ich bin nun ganz wieder in der gewohnten Tätigkeit und Ruhe.“

”Die Persönlichkeit des Grafen“, sagte ich, ”ist mir sehr bedeutend erschienen, nicht weniger seine großen Kenntnisse; denn das Gespräch mochte sich lenken, wohin es wollte, er war überall zu Hause und sprach über alles gründlich und umsichtig mit großer Leichtigkeit.“

”Ja,“ sagte Goethe, ”er ist ein höchst bedeutender Mann, und sein Wirkungskreis und seine Verbindungen in Deutschland sind groß. Als Botaniker ist er durch seine ›Flora subterranea‹ in ganz Europa bekannt; so auch ist er als Mineraloge von großer Bedeutung. Kennen Sie seine Geschichte?“ – ”Nein,“ sagte ich, ”aber ich möchte gerne etwas über ihn erfahren. Ich sah ihn als Grafen und Weltmann, zugleich als vielseitigen tiefen Gelehrten: dieses ist mir ein Problem, das ich gerne möchte gelöset sehen.“ Goethe erzählte mir darauf, wie der Graf, als Jüngling zum geistlichen Stande bestimmt, in Rom seine Studien begonnen, darauf aber, nachdem Östreich gewisse Vergünstigungen zurückgenommen, nach Neapel gegangen sei. Und so erzählte Goethe weiter, gründlich, interessant und bedeutend, ein merkwürdiges Leben, der Art, daß es die ›Wanderjahre‹ zieren würde, das ich aber hier zu wiederholen mich nicht geschickt fühle. Ich war höchst glücklich, ihm zuzuhören, und dankte ihm mit meiner ganzen Seele. Das Gespräch lenkte sich nun auf die böhmischen Schulen und ihre großen Vorzüge, besonders in bezug auf eine gründliche ästhetische Bildung.

Herr und Frau von Goethe und Fräulein Ulrike von P. waren indessen auch hereingekommen, und wir setzten uns zu Tisch. Die Gespräche wechselten heiter und mannigfaltig, besonders aber waren die Frömmler einiger norddeutschen Städte ein oft wiederkehrender Gegenstand. Es ward bemerkt, daß diese pietistischen Absonderungen ganze Familien miteinander uneins gemacht und zersprengt hätten. Ich konnte einen ähnlichen Fall erzählen, wo ich fast einen trefflichen Freund verloren, weil es ihm nicht gelingen wollen, mich zu seiner Meinung zu bekehren. ”Dieser“, sagte ich, ”war ganz von dem Glauben durchdrungen, daß alles Verdienst und alle gute Werke nichts seien, und daß der Mensch bloß durch die Gnade Christi ein gutes Verhältnis zur Gottheit gewinnen könne.“ – ”Etwas Ähnliches“, sagte Frau von Goethe, ”hat auch eine Freundin zu mir gesagt, aber ich weiß noch immer nicht, was es mit diesen guten Werken und dieser Gnade für eine Bewandtnis hat.“

”So wie alle diese Dinge“, sagte Goethe, ”heutiges Tages in der Welt in Kurs und Gespräch sind, ist es nichts als ein Mantsch, und vielleicht niemand von euch weiß, wo es herkommt. Ich will es euch sagen. Die Lehre von den guten Werken, daß nämlich der Mensch durch Gutestun, Vermächtnisse und milde Stiftungen eine Sünde abverdienen und sich überhaupt in der Gnade Gottes dadurch heben könne, ist katholisch. Die Reformatoren aber, aus Opposition, verwarfen diese Lehre und setzten dafür an die Stelle, daß der Mensch einzig und allein trachten müsse, die Verdienste Christi zu erkennen und sich seiner Gnaden teilhaftig zu machen, welches denn freilich auch zu guten Werken führe. So ist es; aber heutiges Tags wird alles durcheinander gemengt und verwechselt, und niemand weiß, woher die Dinge kommen.“

Ich bemerkte mehr in Gedanken, als daß ich es aussprach, daß die verschiedene Meinung in Religionssachen doch von jeher die Menschen entzweit und zu Feinden gemacht habe, ja daß sogar der erste Mord durch eine Abweichung in der Verehrung Gottes herbeigeführet sei. Ich sagte, daß ich dieser Tage Byrons ›Kain‹ gelesen und besonders den dritten Akt und die Motivierung des Totschlages bewundert habe.

”Nicht wahr,“ sagte Goethe, ”das ist vortrefflich motiviert! Es ist von so einziger Schönheit, daß es in der Welt nicht zum zweiten Male vorhanden ist.“

”Der ›Kain‹“, sagte ich, ”war doch anfänglich in England verboten, jetzt aber lieset ihn jedermann, und die reisenden jungen Engländer führen gewöhnlich einen kompletten Byron mit sich.“

”Es ist auch Torheit,“ sagte Goethe, ”denn im Grunde steht im ganzen ›Kain‹ doch nichts, als was die englischen Bischöfe selber lehren.“

Der Kanzler ließ sich melden und trat herein und setzte sich zu uns an den Tisch. So auch kamen Goethes Enkel, Walter und Wolfgang, nacheinander gesprungen. Wolf schmiegte sich an den Kanzler. ”Hole dem Herrn Kanzler“, sagte Goethe, ”dein Stammbuch und zeige ihm deine Prinzeß und was dir der Graf Sternberg geschrieben.“ Wolf sprang hinauf und kam bald mit dem Buche zurück. Der Kanzler betrachtete das Porträt der Prinzeß mit beigeschriebenen Versen von Goethe. Er durchblätterte das Buch ferner und traf auf Zelters Inschrift und las laut heraus: Lerne gehorchen!

”Das ist doch das einzige vernünftige Wort,“ sagte Goethe lachend, ”was im ganzen Buche steht. Ja, Zelter ist immer grandios und tüchtig! Ich gehe jetzt mit Riemer seine Briefe durch, die ganz unschätzbare Sachen enthalten. Besonders sind die Briefe, die er mir auf Reisen geschrieben, von vorzüglichem Wert; denn da hat er als tüchtiger Baumeister und Musikus den Vorteil, daß es ihm nie an bedeutenden Gegenständen des Urteils fehlt. Sowie er in eine Stadt eintritt, stehen die Gebäude vor ihm und sagen ihm, was sie Verdienstliches und Mangelhaftes an sich tragen. Sodann ziehen die Musikvereine ihn sogleich in ihre Mitte und zeigen sich dem Meister in ihren Tugenden und Schwächen. Wenn ein Geschwindschreiber seine Gespräche mit seinen musikalischen Schülern aufgeschrieben hätte, so besäßen wir etwas ganz Einziges in seiner Art. Denn in diesen Dingen ist Zelter genial und groß und trifft immer den Nagel auf den Kopf.“

Donnerstag, den 5. Juli 1827

Heute gegen Abend begegnete Goethe mir am Park, von einer Spazierfahrt zurückkommend. Im Vorbeifahren winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn besuchen möchte. Ich wendete daher sogleich um nach seinem Hause, wo ich den Oberbaudirektor Coudray fand. Goethe stieg aus, und wir gingen mit ihm die Treppen hinauf. Wir setzten uns in dem sogenannten Junozimmer um einen runden Tisch. Wir hatten nicht lange geredet, als auch der Kanzler hereintrat und sich zu uns gesellte. Das Gespräch wendete sich um politische Gegenstände: Wellingtons Gesandtschaft nach Petersburg und deren wahrscheinliche Folgen, Kapodistrias, die verzögerte Befreiung Griechenlands, die Beschränkung der Türken auf Konstantinopel und dergleichen. Auch frühere Zeiten unter Napoleon kamen zur Sprache, besonders aber über den Herzog von Enghien und sein unvorsichtiges revolutionäres Betragen ward viel geredet.

Sodann kam man auf friedlichere Dinge, und Wielands Grab zu Oßmannstedt war ein vielbesprochener Gegenstand unserer Unterhaltung. Oberbaudirektor Coudray erzählte, daß er mit einer eisernen Einfassung des Grabes beschäftigt sei. Er gab uns von seiner Intention eine deutliche Idee, indem er die Form des eisernen Gitterwerks auf ein Stück Papier vor unsern Augen hinzeichnete.

Als der Kanzler und Coudray gingen, bat Goethe mich, noch ein wenig bei ihm zu bleiben. ”Da ich in Jahrtausenden lebe,“ sagte er, ”so kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudrays Eisenstäbe um das Wielandische Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer künftigen Kavallerie blinken, und ich kann noch dazu sagen, daß ich bereits einen ähnlichen Fall in Frankfurt erlebt habe. Das Wielandische Grab liegt überdies viel zu nahe an der Ilm; der Fluß braucht in seiner raschen Biegung kaum einhundert Jahre am Ufer fortzuzehren, und er wird die Toten erreicht haben.“

Wir scherzten mit gutem Humor über die entsetzliche Unbeständigkeit der irdischen Dinge und nahmen sodann Coudrays Zeichnung wieder zur Hand und freuten uns an den zarten und kräftigen Zügen der englischen Bleifeder, die dem Zeichner so zu Willen gewesen war, daß der Gedanke unmittelbar ohne den geringsten Verlust auf dem Papiere stand.

Dies führte das Gespräch auf Handzeichnungen, und Goethe zeigte mir eine ganz vortreffliche eines italienischen Meisters, den Knaben Jesus darstellend im Tempel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er mir einen Kupferstich, der nach dem ausgeführten Bilde gemacht war, und man konnte viele Betrachtungen anstellen, die alle zugunsten der Handzeichnungen hinausliefen.

”Ich bin in dieser Zeit so glücklich gewesen,“ sagte Goethe, ”viele treffliche Handzeichnungen berühmter Meister um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen sind unschätzbar, nicht allein, weil sie die rein geistige Intention des Künstlers geben, sondern auch, weil sie uns unmittelbar in die Stimmung versetzen, in welcher der Künstler sich in dem Augenblick des Schaffens befand. Aus dieser Zeichnung des Jesusknaben im Tempel blickt aus allen Zügen große Klarheit und heitere, stille Entschiedenheit im Gemüte des Künstlers, welche wohltätige Stimmung in uns übergeht, sowie wir das Bild betrachten. Zudem hat die bildende Kunst den großen Vorteil, daß sie rein objektiver Natur ist und uns zu sich herannötiget, ohne unsere Empfindungen heftig anzuregen. Ein solches Werk steht da und spricht entweder gar nicht, oder auf eine ganz entschiedene Weise. Ein Gedicht dagegen macht einen weit vageren Eindruck, es erregt die Empfindungen, und bei jedem andere, nach der Natur und Fähigkeit des Hörers.“

”Ich habe“, sagte ich, ”dieser Tage den trefflichen englischen Roman ›Roderik Random‹ von Smollett gelesen; dieser kam dem Eindruck einer guten Handzeichnung sehr nahe. Eine unmittelbare Darstellung, keine Spur von einer Hinneigung zum Sentimentalen, sondern das wirkliche Leben steht vor uns, wie es ist, oft widerwärtig und abscheulich genug, aber im ganzen immer heiteren Eindruckes, wegen der ganz entschiedenen Realität.“

”Ich habe den ›Roderik Random‹ oft rühmen hören,“ sagte Goethe, ”und glaube, was Sie mir von ihm erwähnen; doch ich habe ihn nie gelesen. Kennen Sie den ›Rasselas‹ von Johnson? Lesen Sie ihn doch auch einmal und sagen Sie mir, wie Sie ihn finden.“ Ich versprach dieses zu tun.

”Auch in Lord Byron“, sagte ich, ”finde ich häufig Darstellungen, die ganz unmittelbar dastehen und uns rein den Gegenstand geben, ohne unser inneres Sentiment auf eine andere Weise anzuregen, als es eine unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers tut. Besonders der ›Don Juan‹ ist an solchen Stellen reich.“

”Ja,“ sagte Goethe, ”darin ist Lord Byron groß; seine Darstellungen haben eine so leicht hingeworfene Realität, als wären sie improvisiert. Von ›Don Juan‹ kenne ich wenig; allein aus seinen anderen Gedichten sind mir solche Stellen im Gedächtnis, besonders Seestücke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz unschätzbar, so daß man sogar die Wasserlust mit zu empfinden glaubt.“

”In seinem ›Don Juan‹“, sagte ich, ”habe ich besonders die Darstellung der Stadt London bewundert, die man aus seinen leichten Versen heraus mit Augen zu sehen wähnt. Und dabei macht er sich keineswegs viele Skrupel, ob ein Gegenstand poetisch sei oder nicht, sondern er ergreift und gebraucht alles, wie es ihm vorkommt, bis auf die gekräuselten Perücken vor den Fenstern der Haarschneider und bis auf die Männer, welche die Straßenlaternen mit Öl versehen.“

”Unsere deutschen Ästhetiker“, sagte Goethe, ”reden zwar viel von poetischen und unpoetischen Gegenständen, und sie mögen auch in gewisser Hinsicht nicht ganz unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer Gegenstand unpoetisch, sobald der Dichter ihn gehörig zu gebrauchen weiß.“

”Sehr wahr!“ sagte ich, ”und ich möchte wohl, daß diese Ansicht zur allgemeinen Maxime würde.“

Wir sprachen darauf über die beiden ›Foscari‹, wobei ich die Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen zeichne.

”Seine Frauen“, sagte Goethe, ”sind gut. Es ist aber auch das einzige Gefäß, was uns Neueren noch geblieben ist, um unsere Idealität hineinzugehen. Mit den Männern ist nichts zu tun. Im Achill und Odysseus, dem Tapfersten und Klügsten, hat der Homer alles vorweggenommen.“

”Übrigens”, fuhr ich fort, ”haben die ›Foscari‹ wegen der durchgehenden Folterqualen etwas Apprehensives, und man begreift kaum, wie Byron im Innern dieses peinlichen Gegenstandes so lange leben konnte, um das Stück zu machen.“

”Dergleichen war ganz Byrons Element,“ sagte Goethe, ”er war ein ewiger Selbstquäler; solche Gegenstände waren daher seine Lieblingsthemata, wie Sie aus allen seinen Sachen sehen, unter denen fast nicht ein einziges heiteres Sujet ist. Aber nicht wahr, die Darstellung ist auch bei den ›Foscari‹ zu loben?“

”Sie ist vortrefflich,“ sagte ich; ”jedes Wort ist stark, bedeutend und zum Ziele führend, so wie ich überhaupt bis jetzt in Byron noch keine matte Zeile gefunden habe. Es ist mir immer, als sähe ich ihn aus den Meereswellen kommen, frisch und durchdrungen von schöpferischen Urkräften.“ – ”Sie haben ganz recht,“ sagte Goethe, ”es ist so.“ – ”Je mehr ich ihn lese,“ fuhr ich fort, ”je mehr bewundere ich die Größe seines Talents, und Sie haben ganz recht getan, ihm in der ›Helena‹ das unsterbliche Denkmal der Liebe zu setzen.“

”Ich konnte als Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit“, sagte Goethe, ”niemanden gebrauchen als ihn, der ohne Frage als das größte Talent des Jahrhunderts anzusehen ist. Und dann, Byron ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist wie der gegenwärtige Tag selbst. Einen solchen mußte ich haben. Auch paßte er übrigens ganz wegen seines unbefriedigten Naturells und seiner kriegerischen Tendenz, woran er in Missolunghi zugrunde ging. Eine Abhandlung über Byron zu schreiben, ist nicht bequem und rätlich, aber gelegentlich ihn zu ehren und auf ihn im einzelnen hinzuweisen, werde ich auch in der Folge nicht unterlassen.“

Da die ›Helena‹ einmal zur Sprache gebracht war, so redete Goethe darüber weiter. ”Ich hatte den Schluß“, sagte er, ”früher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn mir auf verschiedene Weise ausgebildet, und einmal auch recht gut; aber ich will es euch nicht verraten. Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi, und ich ließ gern alles übrige fahren. Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher und durchgehende antik gehalten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einem Mal ernst und hoch reflektierend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können.“

”Allerdings“, sagte ich, ”habe ich dieses bemerkt; allein seitdem ich Rubens' Landschaft mit den doppelten Schatten gesehen, und seitdem der Begriff der Fiktionen mir aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irre machen. Solche kleine Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höheren Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen.“

”Mich soll nur wundern,“ sagte Goethe lachend, ”was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit und Kühnheit genug haben, darüber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll. Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und soll.“

Ich freute mich dieses bedeutenden Wortes und merkte es mir. Darauf schickte ich mich an zum Gehen, denn es war gegen zehn Uhr geworden. Wir saßen ohne Licht, die helle Sommernacht leuchtete aus Norden über den Ettersberg herüber.

Montag abend, den 9. Juli 1827

Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gipspasten nach dem Stoschischen Kabinett. ”Man ist in Berlin so freundlich gewesen,“sagte er, ”mir diese ganze Sammlung zur Ansicht herzusenden; ich kenne die schönen Sachen schon dem größten Teile nach, hier aber sehe ich sie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann sie geordnet hat; auch benutze ich seine Beschreibung und sehe seine Meinung nach in Fällen, wo ich selber zweifle.“

Wir hatten nicht lange geredet, als der Kanzler hereintrat und sich zu uns setzte. Er erzählte uns Nachrichten aus öffentlichen Blättern, unter andern von einem Wärter einer Menagerie, der aus Gelüste nach Löwenfleisch einen Löwen getötet und sich ein gutes Stück davon zubereitet habe. ”Mich wundert,“ sagte Goethe, ”daß er nicht einen Affen genommen hat, welches ein gar zarter schmackhafter Bissen sein soll.“ Wir sprachen über die Häßlichkeit dieser Bestien, und daß sie desto unangenehmer, je ähnlicher die Rasse dem Menschen sei. ”Ich begreife nicht,“ sagte der Kanzler, ”wie fürstliche Personen solche Tiere in ihrer Nähe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden können.“ – ”Fürstliche Personen“, sagte Goethe, ”werden so viel mit widerwärtigen Menschen geplagt, daß sie die widerwärtigeren Tiere als Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindrücke betrachten. Uns andern sind Affen und Geschrei der Papageien mit Recht widerwärtig, weil wir diese Tiere hier in einer Umgebung sehen, für die sie nicht gemacht sind. Wären wir aber in dem Fall, auf Elefanten unter Palmen zu reiten, so würden wir in einem solchen Element Affen und Papageien ganz gehörig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie gesagt, die Fürsten haben recht, etwas Widerwärtiges mit etwas noch Widerwärtigerem zu vertreiben.“ – ”Hiebei“, sagte ich, ”fällt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht selber nicht mehr wissen:

Wollen die Menschen Bestien sein,
So bringt nur Tiere zur Stube herein,
Das Widerwärtige wird sich mindern;
Wir sind eben alle von Adams Kindern.“

Goethe lachte. ”Ja,“ sagte er, ”es ist so. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben werden, die noch gewaltiger ist. Ich erinnere mich eines Falles aus meiner früheren Zeit, wo es unter den Adligen hin und wieder noch recht bestialische Herren gab, daß bei Tafel in einer vorzüglichen Gesellschaft und in Anwesenheit von Frauen ein reicher Edelmann sehr massive Reden führte zur Unbequemlichkeit und zum Ärgernis aller, die ihn hören mußten. Mit Worten war gegen ihn nichts auszurichten. Ein entschlossener ansehnlicher Herr, der ihm gegenübersaß, wählte daher ein anderes Mittel, indem er sehr laut eine grobe Unanständigkeit beging, worüber alle erschraken und jener Grobian mit, so daß er sich gedämpft fühlte und nicht wieder den Mund auftat. Das Gespräch nahm von diesem Augenblick an eine anmutige heitere Wendung zur Freude aller Anwesenden, und man wußte jenem entschlossenen Herrn für seine unerhörte Kühnheit vielen Dank in Erwägung der trefflichen Wirkung, die sie getan hatte.“

Nachdem wir uns an dieser heiteren Anekdote ergötzt hatten, brachte der Kanzler das Gespräch auf die neuesten Zustände zwischen der Oppositions- und der ministeriellen Partei zu Paris, indem er eine kräftige Rede fast wörtlich rezitierte, die ein äußerst kühner Demokrat zu seiner Verteidigung vor Gericht gegen die Minister gehalten. Wir hatten Gelegenheit, das glückliche Gedächtnis des Kanzlers abermals zu bewundern. Über jene Angelegenheit und besonders das einschränkende Preßgesetz ward zwischen Goethe und dem Kanzler viel hin und wider gesprochen; es war ein reichhaltiges Thema, wobei sich Goethe wie immer als milder Aristokrat erwies, jener Freund aber wie bisher scheinbar auf der Seite des Volkes festhielt.

”Mir ist für die Franzosen in keiner Hinsicht bange,“ sagte Goethe; ”sie stehen auf einer solchen Höhe welthistorischer Ansicht, daß der Geist auf keine Weise mehr zu unterdrücken ist. Das einschränkende Gesetz wird nur wohltätig wirken, zumal da die Einschränkungen nichts Wesentliches betreffen, sondern nur gegen Persönlichkeiten gehen. Eine Opposition, die keine Grenzen hat, wird platt. Die Einschränkung aber nötigt sie, geistreich zu sein, und dies ist ein sehr großer Vorteil. Direkt und grob seine Meinung herauszusagen, mag nur entschuldigt werden können und gut sein, wenn man durchaus recht hat. Eine Partei aber hat nicht durchaus recht, eben weil sie Partei ist, und ihr steht daher die indirekte Weise wohl, worin die Franzosen von je große Muster waren. Zu meinem Diener sage ich gradezu: ›Hans, zieh mir die Stiefel aus!‹ Das versteht er. Bin ich aber mit einem Freunde und ich wünsche von ihm diesen Dienst, so kann ich mich nicht so direkt ausdrücken, sondern ich muß auf eine anmutige, freundliche Wendung sinnen, wodurch ich ihn zu diesem Liebesdienst bewege. Die Nötigung regt den Geist auf, und aus diesem Grunde, wie gesagt, ist mir die Einschränkung der Preßfreiheit sogar lieb. Die Franzosen haben bisher immer den Ruhm gehabt, die geistreichste Nation zu sein, und sie verdienen es zu bleiben. Wir Deutschen fallen mit unserer Meinung gerne gerade heraus und haben es im Indirekten noch nicht sehr weit gebracht.

Die Pariser Parteien“, fuhr Goethe fort, ”könnten noch größer sein, als sie sind, wenn sie noch liberaler und freier wären und sich gegenseitig noch mehr zugeständen, als sie tun. Sie stehen auf einer höheren Stufe welthistorischer Ansicht als die Engländer, deren Parlament gegeneinander wirkende gewaltige Kräfte sind, die sich paralysieren und wo die große Einsicht eines einzelnen Mühe hat durchzudringen, wie wir an Canning und den vielen Quengeleien sehen, die man diesem großen Staatsmanne macht.“

Wir standen auf, um zu gehen. Goethe aber war so voller Leben, daß das Gespräch noch eine Weile stehend fortgesetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll, und ich begleitete den Kanzler nach seiner Wohnung. Es war ein schöner Abend, und wir sprachen im Gehen viel über Goethe. Besonders aber wiederholten wir uns gerne jenes Wort, daß eine Opposition ohne Einschränkung platt werde.

Sonntag, den 15. Juli 1827

Ich ging diesen Abend nach acht Uhr zu Goethe, den ich soeben aus seinem Garten zurückgekehrt fand. ”Sehen Sie nur, was da liegt!“ sagte er; ”ein Roman in drei Bänden, und zwar von wem? von Manzoni!“ Ich betrachtete die Bücher, die sehr schön eingebunden waren und eine Inschrift an Goethe enthielten. ”Manzoni ist fleißig“, sagte ich. – ”Ja, das regt sich“, sagte Goethe. – ”Ich kenne nichts von Manzoni,“ sagte ich, ”als seine Ode auf Napoleon, die ich dieser Tage in Ihrer Übersetzung abermals gelesen und im hohen Grade bewundert habe. Jede Strophe ist ein Bild!“ – ”Sie haben recht,“ sagte Goethe, ”die Ode ist vortrefflich. Aber finden Sie, daß in Deutschland einer davon redet? Es ist so gut, als ob sie gar nicht da wäre, und doch ist sie das beste Gedicht, was über diesen Gegenstand gemacht worden.“

Goethe fuhr fort, die englischen Zeitungen zu lesen, in welcher Beschäftigung ich ihn beim Hereintreten gefunden. Ich nahm einen Band von Carlyles Übersetzung deutscher Romane in die Hände, und zwar den Teil, welcher Musäus und Fouqué enthielt. Der mit unserer Literatur sehr vertraute Engländer hatte den übersetzten Werken selbst immer eine Einleitung, das Leben und eine Kritik des Dichters enthaltend, vorangehen lassen. Ich las die Einleitung zu Fouqué und konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß das Leben mit Geist und vieler Gründlichkeit geschrieben und der kritische Standpunkt, aus welchem dieser beliebte Schriftsteller zu betrachten, mit großem Verstand und vieler ruhiger, milder Einsicht in poetische Verdienste bezeichnet war. Bald vergleicht der geistreiche Engländer unsern Fouqué mit der Stimme eines Sängers, die zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Töne enthalte, aber die wenigen gut und vom schönsten Wohlklange. Dann, um seine Meinung ferner auszudrücken, nimmt er ein Gleichnis aus kirchlichen Verhältnissen her, indem er sagt, daß Fouqué an der poetischen Kirche zwar nicht die Stelle eines Bischofs oder eines andern Geistlichen vom ersten Range bekleide, vielmehr mit den Funktionen eines Kaplans sich begnüge, in diesem mittleren Amte aber sich sehr wohl ausnehme.

Während ich dieses gelesen, hatte Goethe sich in seine hinteren Zimmer zurückgezogen. Er sendete mir seinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nachzukommen, welches ich tat. ”Setzen Sie sich noch ein wenig zu mir,“ sagte er, ”daß wir noch einige Worte miteinander reden. Da ist auch eine Übersetzung des Sophokles angekommen, sie lieset sich gut und scheint sehr brav zu sein; ich will sie doch einmal mit Solger vergleichen. Nun, was sagen Sie zu Carlyle?“ Ich erzählte ihm, was ich über Fouqué gelesen. ”Ist das nicht sehr artig?“ sagte Goethe – ”Ja, überm Meere gibt es auch gescheite Leute, die uns kennen und zu würdigen wissen.

Indessen“ , fuhr Goethe fort, ”fehlt es in anderen Fächern uns Deutschen auch nicht an guten Köpfen. Ich habe in den ›Berliner Jahrbüchern‹ die Rezension eines Historikers über Schlosser gelesen, die sehr groß ist. Sie ist Heinrich Leo unterschrieben, von welchem ich noch nichts gehört habe und nach welchem wir uns doch erkundigen müssen. Er steht höher als die Franzosen, welches in geschichtlicher Hinsicht doch etwas heißen will. Jene haften zu sehr am Realen und können das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieses aber besitzt der Deutsche in ganzer Freiheit. Über das indische Kastenwesen hat er die trefflichsten Ansichten. Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen oder doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten; sind wir aber in einem langen Leben zu Eigentum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu anderen Gesinnungen hinneigten. Leo spricht über diesen Punkt mit großem Geiste.

Im ästhetischen Fach sieht es freilich bei uns am schwächsten aus, und wir können lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle stoßen. Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bei dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen, in den Fall kommen, uns einander zu korrigieren. Das ist der große Nutzen, der bei einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geschrieben und ihn überhaupt so beurteilt, wie ihn nicht leicht ein Deutscher beurteilen wird. Dagegen sind wir über Shakespeare und Byron im klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selber.“

Mittwoch, den 18. Juli 1827

”Ich habe Ihnen zu verkündigen,“ war heute Goethes erstes Wort bei Tisch, ”daß Manzonis Roman alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß das Innere, alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und daß das Äußere, alle Zeichnung von Lokalitäten und dergleichen gegen die großen inneren Eigenschaften um kein Haar zurücksteht. Das will etwas heißen.“ Ich war verwundert und erfreut, dieses zu hören. ”Der Eindruck beim Lesen“, fuhr Goethe fort, ”ist der Art, daß man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt und von der Bewunderung wieder in die Rührung, so daß man aus einer von diesen beiden großen Wirkungen gar nicht herauskommt. Ich dächte, höher könnte man es nicht treiben. In diesem Roman sieht man erst recht, was Manzoni ist. Hier kommt sein vollendetes Innere zum Vorschein, welches er bei seinen dramatischen Sachen zu entwickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich hinterher den besten Roman von Walter Scott lesen, etwa den ›Waverley‹, den ich noch nicht kenne, und ich werde sehen, wie Manzoni sich gegen diesen großen englischen Schriftsteller ausnehmen wird. Manzonis innere Bildung erscheint hier auf einer solchen Höhe, daß ihm schwerlich etwas gleichkommen kann; sie beglückt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine Klarheit in der Behandlung und Darstellung des einzelnen, wie der italienische Himmel selber.“ – ”Sind auch Spuren von Sentimentalität in ihm?“ fragte ich. – ”Durchaus nicht“, antwortete Goethe. ”Er hat Sentiment, aber er ist ohne alle Sentimentalität; die Zustände sind männlich und rein empfunden. Ich will heute nichts weiter sagen, ich bin noch im ersten Bande, bald aber sollen Sie mehr hören.“

Sonnabend, den 21. Juli 1827

Als ich diesen Abend zu Goethe ins Zimmer trat, fand ich ihn im Lesen von Manzonis Roman. ”Ich bin schon im dritten Bande,“ sagte er, indem er das Buch an die Seite legte, ”und komme dabei zu vielen neuen Gedanken. Sie wissen, Aristoteles sagt vom Trauerspiele, es müsse Furcht erregen, wenn es gut sein solle. Es gilt dieses jedoch nicht bloß von der Tragödie, sondern auch von mancher anderen Dichtung. Sie finden es in meinem ›Gott und die Bajadere‹, Sie finden es in jedem guten Lustspiele, und zwar bei der Verwickelung, ja Sie finden es sogar in den ›Sieben Mädchen in Uniform‹, indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinger abläuft. Diese Furcht nun kann doppelter Art sein: sie kann bestehen in Angst, oder sie kann auch bestehen in Bangigkeit. Diese letztere Empfindung wird in uns rege, wenn wir ein moralisches Übel auf die handelnden Personen heranrücken und sich über sie verbreiten sehen, wie z. B. in den ›Wahlverwandtschaften‹. Die Angst aber entsteht im Leser oder Zuschauer, wenn die handelnden Personen von einer physischen Gefahr bedroht werden, z. B. in den ›Galeerensklaven‹ und im ›Freischütz‹; ja in der Szene der Wolfsschlucht bleibt es nicht einmal bei der Angst, sondern es erfolgt eine totale Vernichtung in allen, die es sehen.

Von dieser Angst nun macht Manzoni Gebrauch, und zwar mit wunderbarem Glück, indem er sie in Rührung auflöset und uns durch diese Empfindung zur Bewunderung führt. Das Gefühl der Angst ist stoffartig und wird in jedem Leser entstehen; die Bewunderung aber entspringt aus der Einsicht, wie vortrefflich der Autor sich in jedem Falle benahm, und nur der Kenner wird mit dieser Empfindung beglückt werden. Was sagen Sie zu dieser Ästhetik? Wäre ich jünger, so würde ich nach dieser Theorie etwas schreiben, wenn auch nicht ein Werk von solchem Umfange wie dieses von Manzoni.

Ich bin nun wirklich sehr begierig, was die Herren vom ›Globe‹ zu diesem Roman sagen werden; sie sind gescheit genug, um das Vortreffliche daran zu erkennen; auch ist die ganze Tendenz des Werkes ein rechtes Wasser auf die Mühle dieser Liberalen, wiewohl sich Manzoni sehr mäßig gehalten hat. Doch nehmen die Franzosen selten ein Werk mit so reiner Neigung auf wie wir; sie bequemen sich nicht gerne zu dem Standpunkte des Autors, sondern sie finden, selbst bei dem Besten, immer leicht etwas, das nicht nach ihrem Sinne ist und das der Autor hätte sollen anders machen.“

Goethe erzählte mir sodann einige Stellen des Romans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiste er geschrieben. ”Es kommen“, fuhr er sodann fort, ”Manzoni vorzüglich vier Dinge zustatten, die zu der großen Vortrefflichkeit seines Werkes beigetragen. Zunächst daß er ein ausgezeichneter Historiker ist, wodurch denn seine Dichtung die große Würde und Tüchtigkeit bekommen hat, die sie über alles dasjenige weit hinaushebt, was man gewöhnlich sich unter Roman vorstellt. Zweitens ist ihm die katholische Religion vorteilhaft, aus der viele Verhältnisse poetischer Art hervorgehen, die er als Protestant nicht gehabt haben würde. So wie es drittens seinem Werke zugute kommt, daß der Autor in revolutionären Reibungen viel gelitten, die, wenn er auch persönlich nicht darin verflochten gewesen, doch seine Freunde getroffen und teils zugrunde gerichtet haben. Und endlich viertens ist es diesem Romane günstig, daß die Handlung in der reizenden Gegend am Comer See vorgeht, deren Eindrücke sich dem Dichter von Jugend auf eingeprägt haben und die er also in- und auswendig kennet. Daher entspringt nun auch ein großes Hauptverdienst des Werkes, nämlich die Deutlichkeit und das bewundernswürdige Detail in Zeichnung der Lokalität.“

Montag, den 23. Juli 1827

Als ich diesen Abend gegen acht Uhr in Goethes Hause anfragte, hörte ich, er sei noch nicht vom Garten zurückgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und fand ihn im Park auf einer Bank unter kühlen Linden sitzen, seinen Enkel Wolfgang an seiner Seite.

Goethe schien sich meiner Annäherung zu freuen und winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten kaum die ersten flüchtigen Reden des Zusammentreffens abgetan, als das Gespräch sich wieder auf Manzoni wendete.

”Ich sagte Ihnen doch neulich,“ begann Goethe, ”daß unserm Dichter in diesem Roman der Historiker zugute käme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Historiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bei einer Beschreibung von Krieg, Hungersnot und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind und die nun durch das umständliche Detail einer trockenen chronikenhaften Schilderung unerträglich werden. Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungersnot um einen guten Teil, und die der Pest um zwei Dritteil zusammenschmelzen, so daß nur so viel übrig bleibt, als nötig ist, um die handelnden Personen darin zu verflechten. Hätte Manzoni einen ratgebenden Freund zur Seite gehabt, er hätte diesen Fehler sehr leicht vermeiden können. Aber er hatte als Historiker zu großen Respekt vor der Realität. Dies macht ihm schon bei seinen dramatischen Werken zu schaffen, wo er sich jedoch dadurch hilft, daß er den überflüssigen geschichtlichen Stoff als Noten beigibt. In diesem Falle aber hat er sich nicht so zu helfen gewußt und sich von dem historischen Vorrat nicht trennen können. Dies ist sehr merkwürdig. Doch sobald die Personen des Romans wieder auftreten, steht der Poet in voller Glorie wieder da und nötigt uns wieder zu der gewohnten Bewunderung.

Wir standen auf und lenkten unsere Schritte dem Hause zu.

”Man sollte kaum begreifen,“ fuhr Goethe fort, ”wie ein Dichter wie Manzoni, der eine so bewunderungswürdige Komposition zu machen versteht, nur einen Augenblick gegen die Poesie hat fehlen können. Doch die Sache ist einfach; sie ist diese.

Manzoni ist ein geborener Poet, so wie Schiller einer war. Doch unsere Zeit ist so schlecht, daß dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei großen Dingen: zu Philosophie und Geschichte; Manzoni zur Geschichte allein. Schillers ›Wallenstein‹ ist so groß, daß in seiner Art zum zweiten Mal nicht etwas Ähnliches vorhanden ist; aber Sie werden finden, daß eben diese beiden gewaltigen Hülfen, die Geschichte und Philosophie, dem Werke an verschiedenen Teilen im Wege sind und seinen reinen poetischen Sukzeß hindern. So leidet Manzoni durch ein Übergewicht der Geschichte.“

”Euer Exzellenz“, sagte ich, ”sprechen große Dinge aus, und ich bin glücklich, Ihnen zuzuhören.“ – ”Manzoni“, sagte Goethe, ”hilft uns zu guten Gedanken.“ Er wollte in Äußerung seiner Betrachtungen fortfahren, als der Kanzler an der Pforte von Goethes Hausgarten uns entgegentrat und so das Gespräch unterbrochen wurde. Er gesellte sich als ein Willkommener zu uns, und wir begleiteten Goethe die kleine Treppe hinauf durch das Büstenzimmer in den länglichen Saal, wo die Rouleaus niedergelassen waren und auf dem Tische am Fenster zwei Lichter brannten. Wir setzten uns um den Tisch, wo dann zwischen Goethe und dem Kanzler Gegenstände anderer Art verhandelt wurden.

Mittwoch, den 24. September 1827

Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuhren wir ab; der Morgen war sehr schön. Die Straße geht anfänglich bergan, und da wir in der Natur nichts zu betrachten fanden, so sprach Goethe von literarischen Dingen. Ein bekannter deutscher Dichter war dieser Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen sein Stammbuch gegeben. ”Was darin für schwaches Zeug steht, glauben Sie nicht“, sagte Goethe. ”Die Poeten schreiben alle, als wären sie krank und die ganze Welt ein Lazarett. Alle sprechen sie von dem Leiden und dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jenseits und unzufrieden, wie schon alle sind, hetzt einer den andern in noch größere Unzufriedenheit hinein. Das ist ein wahrer Mißbrauch der Poesie, die uns doch eigentlich dazu gegeben ist, um die kleinen Zwiste des Lebens auszugleichen und den Menschen mit der Welt und seinem Zustand zufrieden zu machen. Aber die jetzige Generation fürchtet sich vor aller echten Kraft, und nur bei der Schwäche ist es ihr gemütlich und poetisch zu Sinne.

Ich habe ein gutes Wort gefunden,“ fuhr Goethe fort, ”um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die ›Lazarett-Poesie‹ nennen; dagegen die echt ›tyrtäische‹ diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.“ Goethes Worte erhielten meine ganze Zustimmung.

Im Wagen zu unsern Füßen lag ein aus Binsen geflochtener Korb mit zwei Handgriffen, der meine Aufmerksamkeit erregte. ”Ich habe ihn“, sagte Goethe, ”aus Marienbad mitgebracht, wo man solche Körbe in allen Größen hat, und ich bin so an ihn gewöhnt, daß ich nicht reisen kann, ohne ihn bei mir zu führen. Sie sehen, wenn er leer ist, legt er sich zusammen und nimmt wenig Raum ein; gefüllt dehnt er sich nach allen Seiten aus und faßt mehr, als man denken sollte. Er ist weich und biegsam, und dabei so zähe und stark, daß man die schwersten Sachen darin fortbringen kann.“

”Er sieht sehr malerisch und sogar antik aus“, sagte ich. ”Sie haben recht,“ sagte Goethe, ”er kommt der Antike nahe, denn er ist nicht allein so vernünftig und zweckmäßig als möglich, sondern er hat auch dabei die einfachste, gefälligste Form, so daß man also sagen kann: er steht auf dem höchsten Punkt der Vollendung. Auf meinen mineralogischen Exkursionen in den böhmischen Gebirgen ist er mir besonders zustatten gekommen. Jetzt enthält er unser Frühstück. Hätte ich einen Hammer mit, so möchte es auch heute nicht an Gelegenheit fehlen, hin und wieder ein Stückchen abzuschlagen und ihn mit Steinen gefüllt zurückzubringen.“

Wir waren auf die Höhe gekommen und hatten die freie Aussicht auf die Hügel, hinter denen Berka liegt. Ein wenig links sahen wir in das Tal, das nach Hetschburg führt und wo auf der andern Seite der Ilm ein Berg vorliegt, der uns seine Schattenseite zukehrte und wegen der vorschwebenden Dünste des Ilmtales meinen Augen blau erschien. Ich blickte durch mein Glas auf dieselbige Stelle, und das Blau verringerte sich auffallend. Ich machte Goethen diese Bemerkung. ”Da sieht man doch,“ sagte ich, ”wie auch bei den rein objektiven Farben das Subjekt eine große Rolle spielt. Ein schwaches Auge befördert die Trübe, dagegen ein geschärftes treibt sie fort oder macht sie wenigstens geringer.“

”Ihre Bemerkung ist vollkommen richtig,“ sagte Goethe; ”durch ein gutes Fernrohr kann man sogar das Blau der fernsten Gebirge verschwinden machen. Ja, das Subjekt ist bei allen Erscheinungen wichtiger, als man denkt. Schon Wieland wußte dieses sehr gut, denn er pflegte gewöhnlich zu sagen: Man könnte die Leute wohl amüsieren, wenn sie nur amüsabel wären. –“ Wir lachten über den heiteren Geist dieser Worte.

Wir waren indes das kleine Tal hinabgefahren, wo die Straße über eine hölzerne, mit einem Dach überbaute Brücke geht, unter welcher das nach Hetschburg hinabfließende Regenwasser sich ein Bette gebildet hat, das jetzt trocken lag. Chausseearbeiter waren beschäftigt, an den Seiten der Brücke einige aus rötlichem Sandsteine gehauene Steine zu errichten, die Goethes Aufmerksamkeit auf sich zogen. Etwa eine Wurfsweite über die Brücke hinaus, wo die Straße sich sachte an den Hügel hinanhebt, der den Reisenden von Berka trennet, ließ Goethe halten. ”Wir wollen hier ein wenig aussteigen“, sagte er, ”und sehen, ob ein kleines Frühstück in freier Luft uns schmecken wird.“ Wir stiegen aus und sahen uns um. Der Bediente breitete eine Serviette über einen viereckigen Steinhaufen, wie sie an den Chausseen zu liegen pflegen, und holte aus dem Wagen den aus Binsen geflochtenen Korb, aus welchem er neben frischen Semmeln gebratene Rebhühner und saure Gurken auftischte. Goethe schnitt ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Hälfte. Ich aß, indem ich stand und herumging; Goethe hatte sich dabei auf die Ecke eines Steinhaufens gesetzt. Die Kälte der Steine, woran noch der nächtliche Tau hängt, kann ihm unmöglich gut sein, dachte ich und machte meine Besorgnis bemerklich; Goethe aber versicherte, daß es ihm durchaus nicht schade, wodurch ich mich denn beruhigt fühlte und es als ein neues Zeichen ansah, wie kräftig er sich in seinem Innern empfinden müsse. Der Bediente hatte indes auch eine Flasche Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einschenkte. ”Unser Freund Schütze“, sagte Goethe, ”hat nicht unrecht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land macht; wir wollen ihn uns zum Muster nehmen, und wenn das Wetter sich nur einigermaßen hält, so soll dies auch unsere letzte Partie nicht gewesen sein.“ Ich freute mich dieser Versicherung.

Ich verlebte darauf mit Goethe, teils in Berka, teils in Tonndorf, einen höchst merkwürdigen Tag. Er war in den geistreichsten Mitteilungen unerschöpflich; auch über den zweiten Teil des ›Faust‹, woran er damals ernstlich zu arbeiten anfing, äußerte er viele Gedanken, und ich bedauere deshalb um so mehr, daß in meinem Tagebuche sich nichts weiter notiert findet als diese Einleitung.

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